25
Jun
2007

Arbeitsnotizen zur Missa solemnis

Beethoven-Skizze

Samstag/Sonntag kommender Woche erklingt in Thalbürgl und in Dresden Beethovens Missa solemnis mit dem Philharmonischen Chor Jena, der Singakademie Dresden und der Jenaer Philharmonie (mehr hier).

VON DER LUST DER AUSEINANDERSETZUNG...

...muß hier ein wenig berichtet werden, nicht, um unsere Zuhörer mit Details zu quälen, sondern um davon zu erzählen, wie das Ringen um die Details die Arbeit zur Lust werden lassen kann – spät vielleicht, aber mit Gewißheit.

"Selten hat es einen Menschen gegeben, der so stark und konzentriert wie Ludwig van Beethoven sein Werk als das schöpferische Andere dem allgemeinen Sein gegenübergestellt hätte."

So schreibt der Musikwissenschaftler Martin Geck über den Komponisten der "Missa solemnis", deren Bewältigung jedes Ensemble vor schier unüberwindbare Hindernisse stellt. Sie zu erarbeiten und aufzuführen heißt, Beethovens Intentionen zu folgen – den Menschen durch die enorme Herausforderung seiner Geistigkeit teilhaftig und die Welt dadurch bessern zu helfen!

Das ist auch der Grund, weshalb ich eine Aufführung durch qualifizierte Laienchöre nicht nur für möglich, sondern sogar für notwendig halte! Es ist jene Form existenzieller Auseinandersetzung mit Musik, die durch den Mainstream des Musikgeschäfts, durch das Starren auf die Charts, durch Opern-Galas, Pop-Events aller Art und vieles mehr konterkariert wird. Genau durch diese Art der Musik'ausübung' verlieren wir das Publikum, statt es zu gewinnen. Der Komponist Helmut Lachenmann spricht von der 'Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Apparat', die wahre Kunst hervorzubringen imstande ist: auseinandersetzen! – nicht bedienen.

Nun ist im Jahr 2007 eine Aufführung der Missa solemnis beileibe kein revolutionäres Ereignis mehr – für musikalische Laien indes ist es eine Grenzerfahrung. Bis zur letzten Probe muß um die Bewältigung der enormen Schwierigkeiten gerungen werden, jede/r wird an seine stimmlichen und musikalischen Leistungsgrenzen geführt.

Übrigens auch der Dirigent, der sich dem Werk das erste Mal nähert.

Die direkte Auseinandersetzung sieht dann z.B. so aus, wie sie in den Notizen für meine Jenenser Kollegin festgehalten ist – zweifellos keine Konzerteinführung für den gewöhnlichen Zuhörer, dennoch gilt auch hier, daß wir vom oberflächlichen Einerlei zurückfinden sollten zum existenziellen Detail. Deshalb hier einige Auszüge:

Kyrie

- Halbe zwischen 52 – 56, die "Kyrie"-Akkorde konsequent immer in 4
- bitte konsequentes sub. piano; ob ich "ri – e" machen lasse oder "ri – je", da bin ich noch am Experimentieren, letzte Variante war "ri – je" mit einem winzigen dim. nach einem forte angerissenen "ri", besser wäre aber abzusetzen, falls es danach nicht unsauber wird oder zu sehr knallt bei den Sopranen
- Takt 85 poco rit. (in 4 gehen) und dann das Tempo Halbe 88 – 92 vorbereiten
- im Christe bitte absetzen "Chri – ste" (das sind die Hammerschläge der Kreuzigung), dagegen "eleison" molto legato
- beim Wort "eleison" übrigens das i immer im letzten Moment, ggf. die kurze Note vor son
- Takt 209 und alle weiteren punktierten Stellen auch in den anderen Nummern: das sind die Trommeln der franz. Revolution, auch im piano und langsamen Tempo stets den Trommelrhythmus mitmusizieren, im Falle "Kyrie" also auch gut absetzen und nicht legato artikulieren


Gloria

- Viertel 152 oder schneller, ab 43 die piano-Stellen wenn möglich in Ganzen
- generell deutliche sforzati, wobei ein Entspannen nach dem Anreißen wichtiger ist als ein überzogenes fortissimo, um Gottes Willen nicht brüllen lassen
- 74 usw. gute Akzente auf "be – ne – di – ci – mus te"
- 131 etwas ruhiger in Ganzen
- 173 zurück in die 3 und wieder das erste Tempo
- 226 in Ganze wechseln und etwas Tempo nachlassen, um auf ein Verhältnis zu kommen ganzer Takt wird das kommende Viertel, das aber etwas ruhiger ist; also dann etwa Achtel 88 – 92, im Ganzen recht flüssig, so daß in 270 die Fanfaren der Revolution zu hören sind – im Sinne von: Christus sitzend zur Rechten Gottes ist der wahre Richter, nicht das Fallbeil der Jakobiner; ebenso geraten die Figuren 274 etc. zu verhaltenem Trommelwirbel als Hintergrundmusik zu "miserere nobis", das ständige Waffengeklirr der Menschen bleibt die Folie, auf der das "erbarme dich" erklingt
- 310 etwas mehr maestoso als am Anfang, also ca. 138 – 144 die Viertel
- 360 fast dasselbe Tempo, vielleicht etwas gebremst, keinesfalls zu schnell – es muß nach Arbeit klingen!!, noch nicht nach Jubel
- 459 dann etwa Halbe 96; in Abhängigkeit von den Soli
- für das Presto Viertel bleiben Viertel, das wären dann Ganze zwischen 62 – 66, womit der Tempokosmos dieses Stücks in sich stimmig wird – so hoffe ich...
- den Schluß ohne rit.!!

Credo

- meine im Moment noch unsicherste Nummer – ich neigte bisweilen zu Halben, es müssen aber Viertel sein, trotz aller Indizien für die Halben; die Fünfte hat im letzten Satz (Allegro C) Halbe 84 vorgezeichnet, ziehen wir 2 Einheiten für das non troppo ab und zwei bis drei dafür, daß es Kirchenmusik ist, kommen wir auf Halbe 69, das bedeutet Viertel 138 – und irgendwie fühle ich mich dabei am wohlsten
- ab Takt 86 sicher in Halben
- Adagio 124 in Viertel etwa 56; Takt 125 bitte alle Tenöre, nicht der Solist (ich habe die neue Henle-Partitur, die Auszüge und Stimmen sind wohl z.T. noch älteres Material)
- 144 wieder etwas flüssiger, Viertel ca. 72 – 76; 156 werden die Viertel zu Achteln
- Et resurrexit noch nicht zu schnell, eher eine sehr gefaßte Schnelligkeit, Viertel 144
- dann aber Halbe 126 – 132 beim Allegro molto
- 232 "Vi – vos" bitte sehr kurz (Keile im Orchester)
- Allegro ... maestoso wieder wie der Anfang, sogar etwas gehaltener, also eher 126 – 132, da jetzt kleingliedrigere Rhythmen kommen
- 296 "et" immer kurz, bitte keine Viertel halten
- "Et vi – tam ven – tu – ri" bitte immer alle Silben kurz, besonders achtgeben beim "tu", dort neigen alle zur Länge, Tempo etwa Halbe 100, aber eher pointiert langsam empfinden als zu schnell, es könnte gerade in den Kirchen ruhiger werden
- bitte genaue Dynamik, also nie zu schnell zu laut, es geht vieles im piano
- das con moto dann nur etwas rascher, also etwa auf 120 – 126 beschleunigen, alles andere wird undurchsichtig bei dem Nachhall und ist nicht auszuführen, ich strebe eher große Klarheit der Struktur als vordergründige Raserei an
- die Synkopen im Chor auch immer etwas trennen und dadurch plastisch machen
- 410 wieder recht kurz und knapp nehmen
- 432 ohne rit., die Halben werden zum Viertel, es geht in 6 weiter, ab 439 dann in Halben

...

Wir enden an dieser Stelle den Blick auf die interpretatorische Werkbank, die ein Resultat monatelangen Ringens ist und dennoch Werkbank bleibt: indem ich diese Notizen schreibe, hatte ich noch keine Orchesterprobe – alles ist bis hierher nur musikalischer Wille, der die Reibung der Praxis noch vor sich hat. Diese bringt nur zu oft große Überraschungen mit sich: eine unübersehbare Zahl von CD-Aufnahmen zeugt von den Leistungen, Erfolgen und auch vom Scheitern bedeutender Dirigenten. Da gibt es die durchgeistigte und alles in allem überzeugende Version des großen Beethoven-Kenners Michael Gielen, die fulminante von John Eliot Gardiner, der aber überraschenderweise viele der mechanischen Achtelketten der Streicher so breit spielen läßt, daß der 'Arbeitseffekt', das Motorische dieser Figuren gänzlich verschwindet; es gibt den ruppig rasenden Toscanini – in diesem Fall nicht so überzeugend wie in seinen Aufnahmen der Beethovenschen Sinfonien oder des FALSTAFF von Verdi, dennoch ist von ihm immer ein frischer Blick zu erheischen; es gibt den wundervollen David Zinman, transparent und klar im Klang mit dem Tonhalle-Orchester Zürich – während andere Passagen überrschend eilig wirken (Agnus Dei) ...

Auch Momente der völligen Irritation sind inbegriffen – denn das Hineinhören in die Interpretationen der Kollegen kann bestenfalls ein Verorten des eigenen Standpunktes sein und findet bei mir (wenn überhaupt) erst im letzten Stadium der Beschäftigung statt: nach dem Presto 3/4-Takt des ersten Osanna kommt ein als Präludium bezeichneter Überleitungsteil zum Benedictus (12/8-Takt). Diese Musik, noch immer im 3/4 – Metrum ist sostenuto ma non troppo überschrieben, was in etwa bedeutet "ruhig aber nicht zu sehr". Ich war mir völlig klar, daß diese Stelle lediglich eine Duchgangsstation vom Presto zum kommenden 12/8-Takt sein soll (Präludium!) – der alte Organist Beethoven (mit 14 bereits in Bonn tätig) 'erspinnt' eine orgeltypische Überleitung. Es sollte also das Presto etwas beruhigt und weiter in Ganzen musiziert werden. Was macht nun die versammelte interpretatorische Prominenz aus diesen Takten? Ein Stück Mysterium! Statt Ganze werden langsame Viertel zelebriert. Zweifellos gerät die Stelle damit zum harmonischen und instrumentatorischen (tiefe geteilte Streicher!) Juwel – vor dem Hintergrund des nachfolgenden (sehr!) langen Benedictus mit Violinsolo jedoch darf m.E. das Präludium nicht den Charakter eines eigenen lang dauernden Stückes erhalten. Ich bleibe bei flüssigen Ganzen als Überleitung zum nächsten Teil!

Es sind genau diese Details, die – wie unwichtig scheinend vielleicht – den Bogen des Zusammenhalts einer interpretatorischen Konzeption schließen können. Wobei ein kleines PS notwendig ist: keine der Tempo- , dynamischen oder Artikulationsentscheidungen dürfen für sich stehen, im ausdruckslosen Raum des nur Musikalischen. Es gibt keine nur musikalischen Entscheidungen – jede musikalische ist eine Ausdrucksentscheidung, die oben zitierten Notizen deuten es an. Zu beobachten ist im aktuellen Musik-Geschäft leider eine Dominanz des Ausdrucks gegenüber der musikalischen Struktur – heraus kommt falscher Ausdruck, mithin unehrliche Musik. Auf die Balance zwischen Struktur und Emotion käme es an – aus Struktur gerinnt Ausdruck, nicht umgekehrt. Das erwähnte Präludium scheint mir ein klassisches Beispiel zu sein. Gerade im Spannungsfeld des 'Erhabenen' – u.a. auch in Mozarts ZAUBERFLÖTE – schiebt sich recht schnell Pathos und Mystik in den Vordergrund, wo beide zumeist nichts zu suchen haben. Wir haben es mit Musik der Aufklärung zu tun, selbst wenn Beethoven "mit Andacht" o.ä. vorschreibt.

Stark genug sind seine Neuinterpretationen und besonderen Akzente des klassischen Messe-Textes allemal – und stets unpathetisch:

- das rhythmisch auf unbetonter Zeit beginnende "Kyrie" – ein HErr, der die normalen Gewichte der Musik vom ersten Ton an aus den Angeln hebt
- der vom Kyrie an geformte Kontrast zwischen Dreiklang und legato-Linie, der das
gesamte Stück prägend durchzieht, wobei der Dreiklang ("Kyrie") eindeutig semantisch verankert ist, während die Linie sowohl im Kyrie wie auch im Christe dem Wort "eleison" zugeordnet wird
- der in Terzen und Oktaven aufgespaltene Dreiklang als "Christe"-Ruf – die Nagelschläge der Kreuzigung!

- die raketenartig zum Himmel auffahrenden "Gloria"-Tonleitern, die leitmotivisch die Gesamtform des Gloria zusammenbinden
- die oben bereits erwähnten Anklänge an Trommelschläge, -wirbel oder französische Märsche – im Zusammenhang mit der Messevertonung in völlig neuem Licht
- die sensationelle Fuge "in gloria Dei patris", die in sforzato-Ketten justament die Moll-Figur des "eleison" aus dem Christe ins Dur wendet!! und die Masse der Ausführenden inklusive der Soli regelrecht 'arbeiten' läßt, ehe der Presto-Jubel im 3/4-Takt die aufstrebenden Linien des Beginns tempomäßig noch überhöht und zur Apotheose führt, die keinerlei Pathos kennt

- das zweifache "Credo", das einige Apologeten (Gielen) als Besonderheit betonen und als Bekräftigung des Zweiflers Beethoven interpretieren (im Unterschied zu Dahlhaus übrigens, für den eine solche Deutung "ins Leere" geht); auch dieses Motiv hält die Gesamtform des Credo ähnlich der Tonleitern im Gloria zusammen
- das dorisch beginnende "Et incarnatus"
- das atypische "Et resurrexit" – in vielen Messe-Kompositionen groß ausgeführt, hier nur vierstimmig in einem a-cappella-Satz dem "et ascendit in coelum" vorangestellt – wiederum ein 'verdächtiger' Akzent Beethovens: "secundum scripturas" wird zusätzlich mit sforzati versehen, als wenn der Komponist sagen wollte, "auferstanden nach dem Wort der Schrift" – aber es kommt auf viel wichtigere Dinge an...
- das Dreiklang und Linie zum Fugenthema verbindende "Et vitam venturi saeculi amen", das Allegretto beginnt, sich Allegro con moto steigert, im Grave schließlich gipfelt und – völlig überrschend – in einem wundervolle Spiel (im Himmel?) endet: der Chor singt pianissimo die Dreiklänge, während Soli und Instrumente mit Linien auf- und abwärts das "Amen" gleichsam umschlingen – religiöses Pathos? Fehlanzeige

- das zunächst ganz den Soli zugeordnete Sanctus mit zwei unterschiedlichen Osanna-Varianten, aus dem Staunen entstehend – nicht aus der Verherrlichung
- das nun wirklich – das Wort sei gestattet: - 'himmlische' Benedictus: "Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn" – das, was diese Aussage zusammenhält und thematisch führt, ist die Solo-Violine, das Instrument!; die singenden Menschen versuchen lediglich, sich dieser Vision anzunähern, umkreisen die Violine, kontrapunktieren, ergänzen oder spinnen fort... was für eine geniale Idee zur Vertonung dieser Worte

- schließlich das lastend und im seltenen h-moll daherkommende Agnus Dei, das 95 Takte lang Adagio bleibt, ehe es in den 6/8-Takt ("Dona nobis pacem") mündet, innerhalb dessen aber die eigentliche Sensation stattfindet: kriegerische Trompeten und Pauken zerreißen die bis dahin pastoral anmutende Atmosphäre, recitative Passagen der Soli bis hin zum Aufschrei irritieren bei der ersten dieser Unterbrechungen, ein Presto-Strudel fegt beim zweiten Mal durch das Stück und bringt die Musik an den Rand der Katastrophe; und noch kurz vor Schluß sind von fern die pianissimo und harmonisch 'unpassend' (Ton B in D-dur) gesetzten Pauken als bleibende Folie der "pacem, pacem"-Bitte zu hören

Das alles ist so visionär und groß ge- und erdacht, daß jede Qual der Einstudierung nach
der Aufführung vergessen sein wird!

Noch einmal Martin Geck: "Musik will nicht nur singen, tanzen, reden, darstellen,
abbilden, bauen; sie ist vielmehr Inbegriff gestaltender Kraft." Diese zu spüren wird die
Auseinandersetzung mit diesem schweren Werk zur Lust machen.
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