Tagung Musiker 3.0 in Dresden II
Referat innerhalb der Tagung Musiker 3.0 an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden
Sie wollen sich der Kunst weihen. Es ist meine Pflicht,
Sie auf die unendlichen Schwierigkeiten aufmerksam zu machen,
die Sie dann zu überwinden haben. Ich kenne das Talent nicht,
das Ihnen Gott verliehen hat , ich weiß nur, daß selbst das
außerordentliche noch der günstigsten Umstände bedarf,
um Bedeutendes zu leisten und in der Welt etwas zu gelten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Mit den zitierten Worten wendet sich Carl Maria von Weber 1824 an Aloys Fuchs in Wien, der ihn gebeten hatte, über die Aussichten des Musikerberufes seine Ansichten mitzuteilen.
Ich stehe nicht an, in gebotener Kürze Zutreffenderes, Aktuelleres und Anregenderes zum Thema Musikerberuf der Zukunft aus dem Blickwinkel der Koordinaten Hochschule und Ausbildung zu sagen, als dies der Namenspatron unserer Hochschule getan hat. Dennoch sei der Versuch gewagt, einige zeitgenössische Kommentare hinzuzufügen.
Gliedern möchte ich dieses Statement in 3 Teile, die Fragen nach:
1. dem Warum
2. dem Woher
3. dem Wohin
1. Warum
Im Vorfeld der Beschäftigung mit dem Thema der Tagung hat mich am meisten die Frage beschäftigt, warum wir uns überhaupt mit der Zukunft des Musikerberufes so intensiv auseinandersetzen. Ist der Beruf gefährdet? Wird er von außen in Frage gestellt? Ist er tatsächlich solch gravierenden Veränderungen unterworfen, wie man uns glauben machen will oder wir selbst es fühlen? Worin sollten diese Umbrüche bestehen?
Um nur einen aktuellen Streitfall herauszugreifen, jenen, bei dem den Hochschulen vorgeworfen wird, sie bildeten zu viele Solisten aus (die niemals welche würden) und mäßen dem Orchesterspiel zu wenig Aufmerksamkeit zu. Mit Verlaub: Richtig neu ist dieser Streit nicht. Er findet sich bereits bei Leopold Mozart, der im 12. Hauptstück seiner Violinschule von 1756 unter §4 resümiert:
"Man schließe nun selbst ob nicht ein guter Orchestergeiger weit höher zu schätzen sei, als ein purer Solospieler? Dieser kann alles nach seiner Willkuhr spielen, und den Vortrag nach seinem Sinne, ja nach seiner Hand einrichten: da der erste die Fertigkeiten besitzen muß den Geschmack verschiedener Componisten, ihre Gedanken und Ausdrücke alsogleich einzusehen und richtig vorzutragen. Dieser darf sich nur zu Hause üben um alles rein herauszubringen, und andere müssen sich nach ihm richten; iener aber muß alles vom Blatte weg, und zwar oft solche Passagen abspielen, die wider die natürliche Ordnung des Zeitmaaßes lauffen… Ein Solospieler kann ohne grosse Einsicht in die Musik überhaupts seine Concerte erträglich, ja auch mit Ruhme abspielen; wenn er nur einen guten Vortrag hat: ein guter Orchestergeiger aber muß viele Einsicht in die ganze Musik, die Satzkunst und die Verschiedenheit des Charakters haben…
Der Passus schließt mit dem Stoßseufzer:
"heut zu Tage will alles Solo spielen".
Beim Deutschen Bühnenverein klingt derselbe Stoßseufzer so:
"Dringend erforderlich ist es, die Ausbildung zunehmend nicht auf eine Solistentätigkeit, sondern mehr auf die Tätigkeit eines Orchestermusikers zu fokussieren"
(Sollte ich die Bemerkung hinzufügen, dass ich die direkte Tonart und Ehrlichkeit des großen Leopold der diplomatischen Verklausulierung der geschätzten Kollegen von 2012 durchaus vorziehe?)
Zwischen beiden Stellungnahmen liegen überschlägig reichliche 250 Jahre – wozu also die Aufregung, wenn wir eigentlich noch immer um die Themen von 1756 streiten?
In Wahrheit treibt uns das Thema anderer Ursachen wegen um. Diese liegen viel tiefer und beim Versuch, sie zu beschreiben, stieß ich auf eine Terminologie der Ausgabe, die ich Nr. 32 von GEOkompakt entnahm – eher ein Zufallsfund. Titel des Heftes ist: "Die Suche nach dem Ich", Untertitel: "Wer wir sind – und was wir wollen".
Vor einigen sehr klugen, hochinteressanten Artikeln zu den Themen Bewusstsein, Persönlichkeit, nota bene Siegmund Freud, dem Unbewussten und dem 'veränderten Ich' findet sich ein mit eindrucksvollen Fotos illustrierter Themen-Einstieg unter dem Titel: "Im Bann einer dunklen Kraft". Dort heißt es:
"Die Erkundung des Ichs ist immer auch eine Reise in die Abgründe der Psyche. Denn der größte Teil dessen, was unsere Persönlichkeit, unser Selbst, unsere Vergangenheit ausmacht, ist verborgen unter der Oberfläche des bewussten Wahrnehmens. Wünsche, Erlebnisse, Erlerntes, Erinnerungen – all das hinterlässt Spuren im Unbewussten und fügt sich zusammen zu dem, was uns ausmacht und zu einem unverwechselbaren Individuum mit einer eigenen Geschichte werden lässt."
Die Erkundung der Musik und unseres Verständnisses davon als Reise in die Abgründe der Seele; unsere tiefsten Wünsche, Erlebnisse und Erinnerungen fügen sich mit Erlerntem zu dem unverwechselbaren musikalischen Individuum, das wir ebenso verkörpern wie retten wollen, weil es uns zu entgleiten droht!?
Bei jedem der im Artikel folgenden 8 Stichworte im Kontext zu den Fotos stellen sich unwillkürlich Assoziationen ein, die auf unser Thema zu übertragen wären.
1. In einem rätselhaften Land
- Die Welt unserer Träume als Ausgangspunkt geheimster Reisen ins Unbewusste, ins Reich von Konflikten und Trieben
…sicher auch in das Reich von musikalischer Inspiration und Intuition
2. Das Haus der Ängste
- Die Furcht der Menschen davor, dass etwas aus den Fugen gerät und nichts mehr so sei wie früher. "Ängste entstehen in
evolutionär alten, unbewusst arbeitenden Hirnregionen." Sie sollen uns vor Gefahren warnen.
Das Musikbusiness scheint im Augenblick ein einziges Haus der Ängste zu sein. Von Annaberg/Aue über Baden-Baden, Bonn und Köln bis nach Radebeul, Riesa oder Wuppertal: Haustarifverträge, Fusionen, Kürzungen, Nullrunden… Der demografische Wandel (wahlweise die Finanzkrise) ist die Keule, mit der alle Argumente schnell beiseite gefegt werden.
Wie ernst sind eigentlich Überlegungen angestellt worden, durch Kultur, Kunst und Musik den demografischen Wandel positiv zu beeinflussen??
3. Im Reich der Wünsche
- nach S. Freud verrieten die Träume wahre Wünsche und Ziele, enthüllten Verstrickungen des Ichs zwischen triebhaften Bedürfnissen und moralischen Vorgaben; Stichwort 'Das Es und das Ich'
Viel wäre zu sagen über die triebhaften Bedürfnisse von Musikern und ihre moralischen Vorgaben: Anders gefragt: Sind die geheimen Wünsche nach Aufmerksamkeit, Reichtum, nach Beifall und Medienrummel eine Gefahr für die Moral der Musik und des Musikerberufes?
Noch konkreter: Verhält sich die Anzahl hochbezahlter Open-air-Konzerte und luxuriöser Festivals, von Künstlergagen und Charterfliegern umgekehrt proportional zum Wert dargebotener Musik?
Gefährden die Musiker selbst den Fortbestand ihres Berufsstandes?
4. Die Grenzen der Freiheit
- Gezeigt werden die fatalen Folgen, wenn technische Erfindung und exzessives Streben nach Fortschritt genutzt wird, der Welt einen Willen aufzuzwingen.
Was geschieht, wenn Künstler versuchen, uns ihren Willen aufzuzwingen? Wenn Leute wie Wagner oder Stockhausen uns nötigen, ganze Tage sich nur ihrer Kunst zu widmen? Schön oder gefährlich? Manipulativ oder Sinnlich? Fluch oder Segen für die Kunst?
Auch die Möglichkeiten und Grenzen neuer Technik inklusive ihrer Folgen (bspw. für das Urheberrecht) sollten hier ins Blickfeld kommen.
5. Vom Wesen der Geschlechter
- Was ist weiblich, was männlich? Selbstwertgefühl und Identität plus Zusammenspiel genetischer Faktoren und Hormone…
Ein weites Feld, gerade auf dem Gebiet der Musik, die sich anschickt, viel weiblicher zu werden: Schon sind fast weit über die Hälfte der Musikstudierenden Frauen, ganze Jugendorchester bestehen zu über zwei Dritteln aus Mädchen und Autoren wie Eckard Fuhr, Hans Ullrich Treichel oder Uwe Tellkamp registrieren in Freiburg, Berlin und Dresden die Mädchen mit den Geigenkästen…
Wird diese Entwicklung die Musik verändern? Stecken hinter den Ängsten um den Musikerberuf womöglich männliche Urängste vor dem aufziehenden Matriarchat auf den Brettern, die die Welt bedeuten?
6. Im Karussell der Gefühle
- Zuneigung, Liebe, Glück, Wohlbefinden, Abneigung, Wut, Trauer, Trostlosigkeit: "Die Emotionen entstanden im Laufe der Evolution: Sie halfen den Urmenschen im Kampf ums Überleben."
In Wahrheit lieben wir dieses Karussell mehr, als dass wir es fürchten – fürchten wir aber vielleicht die kongeniale Darstellung der Emotionen durch die und in der Musik? Verlustängste beim Hören von Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann, Mark Andre oder Rebecca Saunders? Wie viel Chaos, Verstummen, Ratlosigkeit oder Aggressivität darf zeitgenössische Musik in sich tragen?
7. Die Masken des Ichs
- Der Spiegel der 5 Temperamente, der "Big Five", die entscheiden, ob wir sind:
gesellig oder gehemmt - Extraversion
pflichtbewusst oder schlampig - Gewissenhaftigkeit
neugierig oder engstirnig - Offenheit
selbstsicher oder ängstlich - Neurotizismus
gutmütig oder aggressiv - Verträglichkeit
Und hier der grausame Befund: Die wahren Künstler neigen wohl eher zu den 'negativ' konnotierten Eigenschaften… (die anderen wandern in's Musikbusiness?)
8. Eine Frage des Körpers
- Die Frage der Akzeptanz des eigenen Körpers, der Wechselwirkung von physischer Erscheinung und Selbstbewusstsein; die Wahrnehmung des Unvollkommenen; der Körper als Erlebnisraum des von der Welt Abgegrenzten
Diese letzte Assoziation wirkt in zwei Richtungen: Sie weist den Weg einerseits in die Richtung der Erforschung des Körpers als Basis eines gesunden Musizierens; und sie lenkt den Blick auf den gesunden Körper Musik – wann empfinden wir eine Musik als 'unheil' oder depressiv?
Und noch weiter getrieben die Frage: Wie verhalten sich Schönheit, Oberflächlichkeit und Form und Inhalt zueinander?
Schütz' Cantiones sacrae, Bachs Goldberg-Variationen, Brahms' 3. Sinfonie oder Schönbergs Moses und Aron – musikalisch-physische Erscheinungen bar jeder Unvollkommenheit; ideale Körper eines künstlerischen Selbstbewusstseins, das uns den Angstschweiß auf die Stirn treibt, diese Vollkommenheit je wieder erreichen zu können?!
Um Vergebung, mit einem Referat über das Thema Musiker 3.0, Stichwort "Hochschule und Ausbildung" hat dies noch wenig zu tun – dennoch: Ich halte das Nachdenken über die Urgründe unseres Tuns für noch wichtiger als jenes über die Details der Formen.
Wenn wir nun zu diesen vordringen, kommen wir zur zweiten Frage, dem
2. Woher
Es müssen an dieser Stelle einige Zeitzeugen Erwähnung finden, die hier in Dresden für die Musikerausbildung der zurückliegenden 400 Jahre stehen – nur im bewussten Reflektieren ihrer Ansätze kann gefunden werden, was im 3. Jahrtausend fortgesetzt, neu bewertet oder vielleicht auch abgeschafft werden muss. Und sehr deutlich sei hinzugefügt: Die Qualität aller bisheriger Ausbildung war so eminent und brachte immer wieder so bedeutende Geister hervor, dass, sie auf den Prüfstand zu stellen ein erhebliches Wagnis und Risiko darstellt. Es kann eigentlich nur darum gehen, sie stets neu auf ihre Aktualität zu befragen.
Dresdner Musikausbildung beginnt – wie könnte es anders sein – mit dem ersten großen deutschen und auch einem der ersten bedeutenden europäischen Komponisten: Mit Heinrich Schütz. Martin Gregor-Dellin entwirft ein faszinierendes Bild dieses Lebens und schreibt ein eigenes Kapitel über den Lehrer und seine Lehre. Darin heißt es:
"Er vertrat die zwei Geiste der Zeit auf exemplarische Weise in seinem Bestreben, sie auf einen gemeinsamen formalen Nenner zu bringen, und wirkte daher regulierend und Neues ermöglichend weiter . … Die Lehre, die Schütz hinterließ, wurde gleichsam unterirdisch weitergegeben, durch mündliche Überlieferung, durch das Werk, die Praxis – und, wie sich herausstellen sollte, durch das erstaunliche Vorkommnis einer handschriftlichen Kompositions-Anleitung, die nicht einmal seinen Namen trug. Voraussetzung für die Wirksamkeit seiner Lehre war eine Kantoreikultur, deren Fundamente der Lehrmeister an vielen Stellen selbst gelegt hat."
Die Zahl Schütz'scher Schüler geht – die ihm anvertrauten Choristen mitgerechnet – in die Hunderte. Viele bedeutende Komponisten des Barock befinden sich darunter: Hering, Loewe, Theile, Drese, Förster, Hammerschmidt, Dedekind, Rosenmüller, Krieger und schließlich Christoph Bernhard, der Schütz' Kompositionslehre überlieferte. Neben dieser steht die Ausführung im Vordergrund, die Stimmbildung, der Vortrag, die Ausbildung eines dem Werk angemessenen Geschmacks, Triller, Verzierungen usw. Über die drei Stufen des schlichten, des affektbetonten und des ornamentalen Gesanges dringe Bernhard zu einer Affektenlehre vor, die bis zum jungen Mozart ihre Gültigkeit behalten hätte, schreibt Gregor-Dellin. Mit Bernhards Lehre sei der Nachweis einer Verbindung zwischen Schütz und Bach gelungen, das Musikalische Opfer und die Kunst der Fuge seien nichts weniger als die Erfüllung eines Schütz'schen Testaments, festgehalten in der Lehre seines Schülers. Gregor-Dellin resümiert:
"Seine systematische Figurenlehre vergleicht Christoph Bernhard wegen der Menge der Figuren mit der Rhetorik. Auch darin meldet sich noch einmal der wissenschaftliche Anspruch eines Musizierens, das sich seine grammatikalischen und syntaktischen Regeln vorher bewußt macht, bevor es zu 'sprechen' beginnt."
In meinem Grußwort zu Beginn der Tagung habe ich bewusst die Definition des Web 3.0 als Semantisches Web zitiert. Hier findet sich ein Anknüpfungspunkt aus viel älterer Zeit: Komposition, Musik und ihre Ausführung unter dem Blickwinkel systematischer Figurenlehre, grammatikalischer und syntaktischer Regeln und mit wissenschaftlichem Anspruch – ein möglicher Ansatz in krisenhaften Zeiten?
Der musikalische Revolutionär Weber beschreibt und lobt reichlich 140 Jahre nach Schütz' Tod das System des Prager Konservatoriums:
"…jeder Schüler muß den Unterricht durch sechs Jahre fortsetzen, von denen er drei in der ersten und drei in der zweiten Klasse zubringt. Die Direktoren halten ihre Sitzungen, so oft es die Umstände erheischen, und nehmen alle verhandelten Gegenstände zu Protokoll, welches nach aller Unterzeichnung versiegelt wird. Jedes Jahr .. ladet die Direktion alle in Prag anwesenden Mitglieder zu einer Hauptversammlung ein, um denselben über den Fortgang, die Verwaltung des Instituts und den Stand der Kasse Auskunft zu geben. Der Hauptlehrgegenstand des Instituts ist die Instrumentalmusik, da sein Zweck ist, tüchtige Musiker zu bilden, und es werden alle zu einem vollkommenen Orchester erforderlichen Instrumente, von eigens hierzu angestellten Lehrern, in abgesonderten Lehrzimmern, täglich durch zwei Stunden gelehrt."
Auch Gesang und Theorie wird angeboten und interessant ist der Verweis Webers, dass die Zöglinge auch "in den notwendigsten literarischen Gegenständen, als in der deutschen und italienischen Sprache, Mathematik, Geographie, Naturgeschichte, Geschichte, deutschen und italienischen Prosodie und Metrik, Ästhetik und Mythologie wie auch der Religionslehre" unterrichtet würden.
Interdisziplinarität anno 1817.
Noch einige Jahre später, 1849, verfasst Richard Wagner seinen "Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters" und schlägt dort sowohl eine Theater-, Chor als auch Orchesterschule vor.
"Um dieses schöne Institut von ersichtlichem Nutzen für die musikalische Kunst im gesammten Vaterlande werden zu lassen, ist zunächst der Anschluß einer Musikschule an dasselbe als nothwendig zu erachten. Bisher ist die Bildung von Musikern in Dresden nur dem Privatunterrichte und der Geneigtheit der einzelnen Künstler überlassen worden."
Es fällt auf, dass die Ausformulierung von Details mittlerweile sehr pragmatisch geworden ist:
"Die Ansprüche an den einzelnen Chorsänger sind allerdings, dem dramatischen Sänger und auch dem Mitgliede des Orchesters, von dem individuelle künstlerische Ausbildung ebenfalls gefordert wird, gegenübergehalten, geringerer Natur: für ihn genügt der Besitz einer Stimme untergeordneterer Gattung, ein unanstößiges Äußere und Fleiß."
Während bei Schütz und Bernhard die Ausbildung von Komponisten eine Einheit bildete mit der Ausbildung von Musikern und Weber die Musiktheorie bereits als Zusatzfach beschreibt, schlägt Wagner die Gründung eines Komponisten-Vereins vor und möchte insgesamt die Verantwortung beim Staat angesiedelt wissen:
"…es ist somit Sache des Staates, auch an diese Kunst jene Anforderung Kaiser Joseph's an die Schauspielkunst zu stellen: »sie solle auf die Veredelung des Geschmackes und der Sitten wirken«. Die Verantwortlichkeit für die Aufrechthaltung dieses Grundsatzes muß ebenfalls einer der Minister übernehmen, und er kann dieß wiederum nur, wenn er die volle freie Betheiligung der Nation in die Organisation auch dieses Institutes mit einschließt, so daß auch hierin der verständige, intelligentere Theil derselben jenen Grundsatz im eigenen Interesse selbst überwacht.
Ein Verein sämmtlicher Komponisten des Vaterlandes soll sich daher bilden, und nach eigenem Ermessen durch Aufnahme musikalischer Theoretiker, sowie selbst bloß praktisch ausübender Musiker sich verstärken können."
Wir sind noch nicht ganz beim Heute angekommen, indessen sind die Umrisse heutiger Hochschulen bei Weber, Wagner oder Mendelssohn, der die Struktur für Leipzig skizzierte, klar zu erkennen. Den persönlich so heißgeliebten Schumann, der gerade in Dresden Grundsteine für ein modernes Musikleben schuf (u.a. durch seine genialen Chorkompositionen, die er im selbst geleiteten Chor einstudierte und aufführte und solcherart regionale Wurzeln legte) überspringe ich. Wir können zur 3. Frage fortschreiten:
3. Wohin
Es scheint noch immer schwer zu sein, verlässliche Daten über Sinn und Zweck unserer Ausbildung zu gewinnen. Prof. Heiner Gembris und Daina Langner vom Institut für Begabungsforschung in der Musik (IBFM) der Universität Paderborn haben eine Studie veröffentlicht und beklagen darin auch verschiedene Umstände, die möglicherweise die Daten ungünstig beeinflusst haben könnten: Es wird vermutet, nur die selbstbewussten Studierenden könnten sich zurückgemeldet haben, ferner seien die Adressdateien der Hochschulen unzuverlässig, nicht nach Studienfächern geordnet, es habe Probleme mit dem Datenschutz gegeben usw. usf. Dennoch liegt folgendes Ergebnis vor, ich zitiere einen längeren Abschnitt:
"Es wurden insgesamt 418 Streicher, Bläser, Sänger und Pianisten befragt, die eine künstlerische Ausbildung absolviert haben. Ihr Berufsziel zu Beginn des Studiums war, Orchestermusiker oder Solist zu werden. Zum Befragungszeitpunkt waren die Musiker um die 30 Jahre alt. Der Frauenanteil beträgt 60% und entspricht damit auch der Verteilung an deutschen Musikhochschulen. Das Musikstudium beendeten sie im Durchschnitt mit 27 Jahren, fast alle mit „guten“ und „sehr guten“ Leistungen (Durchschnittsnote 1,6). Von den befragten Streichern (n = 160) gaben 42% an, eine feste Vollzeitstelle zu haben, davon 38% im Orchester. Bei den Bläsern (n = 108) haben 49% eine feste Vollzeitstelle, davon 42% im Orchester. … Etwas über ein Drittel (34%) aller befragten Streicher und etwas über ein Viertel (27%) aller Bläser arbeiteten freiberuflich bzw. kombinierten eine freiberufliche Tätigkeit mit einer befristeten Tätigkeit im Orchester. … Nur 2% der Streicher und 4% der Bläser waren zwar ausschließlich musikalisch tätig, finanzierten jedoch ihren Lebensunterhalt über Eltern, Ehepartner oder andere Quellen ( z.B. Agentur für Arbeit). Ein einziger Streicher verdiente seinen Lebensunterhalt als Solist. …
Von den befragten Sängern (n = 100) gaben 38% an, ein Vollzeit-Anstellungsverhältnis im Chor (26%) bzw. als Gesangssolist (12%) am Theater zu haben. Ein etwas größerer Teil von 42% war freiberuflich tätig, … Nur ein Sänger hatte eine unbefristete Teilzeitstelle (an einer Musikschule); 3% der Sänger arbeiteten zwar musikalisch, bezogen ihren Lebensunterhalt jedoch aus anderen Quellen (Eltern, Ehepartner u.a.).
Die größte Gruppe der zwangsläufig miterfassten Absolventen bildeten die Absolventen der Instrumentalpädagogik. Die meisten arbeiteten freiberuflich (48%) und gingen ausschließlich musikalischen Tätigkeiten nach. Unbefristete Vollzeitverträge an Musikschulen hatten 17%, unbefristete Teilzeitverträge 11% (ebenfalls an Musikschulen). Etwa ein Drittel (31%) der Stichprobe ging mehreren musikalischen Tätigkeiten nach. In den meisten Fällen unterrichteten sie, dazu kamen Muggen in Orchesterprojekten, kammermusikalische oder solistische Auftritte."
Mit Verlaub: so schlecht scheint es also gar nicht auszusehen. (Einzig die Zahlen der Pianisten sehen alarmierend aus. Im Bereich Lehramt und Jazz/Rock/Pop lagen zu wenig Rückmeldungen für belastbare Aussagen vor.)
Auch die HfM Dresden bereitet entsprechende Studien vor und ist bemüht, belastbare Daten zu erhalten. Unser Konzept von Evaluationen innerhalb der Hochschulinitiative Neue Bundesländer bildet gleichzeitig den Anfang der Errichtung eines internen und externen Systems des Qualitätsmanagements und sieht u.a. die Befragung von Experten, von Alumni und Studierenden vor. In weiteren Schritten sollen aber auch besonders die Lehrenden einbezogen werden, denn wir sind überzeugt, dass Qualitätsmanagement nicht nur in eine Richtung funktioniert, jener, bei der Studierende über ihre Profs und ihre Hochschulen urteilen. Professoren dürfen auch unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen, sogar mit den Studierenden oder mit der Verwirklichung ihrer Ideen sein – sie haben das Recht, dies innerhalb solcher Konzepte als Anstoß zu Verbesserungen dokumentiert zu sehen.
In der Gembris-Studie werden auch Defizite der Ausbildung benannt:
Orchesterstimmenkenntnis (auch von Opern),
Anpassung im Orchester,
Blattspiel, schnelles Erfassen des Notentextes,
Vorauslesen im Notentext, schnelle und effektive Erarbeitung von
Stücken,
Dirigiergestik/Dirigate lesen,
Fertigkeiten im
Ensemblespiel/Aufeinanderhören/Kammermusik,
musikalische Flexibilität und Routine in verschiedenen Genres.
Alle diese Probleme wurden auch an diesem Haus erkannt – sind aber bei weitem keine neuen Erkenntnisse – sh. oben die Klagen von Leopold Mozart.
Ein soeben neu verabschiedetes Leitbild unserer Hochschule, in dem u.a. das Bekenntnis zur Internationalität, zur Praxisorientierung, der Nachwuchsarbeit auf Exzellenzniveau im Landesgymnasium für Musik, zur Interdisziplinarität und zum Begreifen von Musikausbildung als künstlerischer, pädagogischer und wissenschaftlicher Tätigkeit mit höchster gesellschaftlicher Verantwortung abgelegt und beschrieben wird ist gerade verabschiedet und kann eingesehen werden. Aber statt vorgefertigter und wohlfeiler Konzepte möchte ich – anknüpfend an die etwas mythisch daherkommenden Urgründe zu Beginn des Vortrages – einige Begriffspaare und dazugehörige persönliche Fragen als Diskussionsanregungen geben, in deren Spannungsfeld sich unsere Auseinandersetzungen der nächsten Stunden, Monate und Jahre bewegen könnten:
Improvisation und Perfektion
- Könnte der Hang zu improvisierten Gesten und Unfertigen sich wieder mehr in die Richtung abgeschlossener Entwürfe von Kunst und Musik bewegen?
Emotion und Struktur
- Inwiefern könnte eine einseitige Fokussierung auf Emotionen zu einer gefährlichen 'Emotionalisierung von Strukturen' führen, die den Kern musikalischer Aussage betreffen und Musik damit verfälschen und überflüssig machen?
Individualität und Masse
- Was haben die gesellschaftlichen Prozesse mit den Themen Solo- bzw. Ensemblespiel vs. Orchester und Chor zu tun? Sind die Unzufriedenheiten mit dem Musizieren in größeren Gruppen (offenbar im Gegensatz zum beginnenden 19. Jahrhundert) Ergebnisse einer fortschreitenden Individualisierung?
Kanon und Erneuerung
- Inwiefern stehen Traditionen einer neuen Kreativität von Musik, Musikformaten und Musikausbildung im Wege? Nur ein Beispiel von unzähligen: Das entsetzliche 15-min.-Werk zeitgenössischer Musik zum Konzertbeginn…
Identität und Öffnung
- Mit dem vorigen Thema sehr verwandt, dennoch auch ein Stück spezieller: Der Widerspruch zwischen regionalen musikalischen Identitäten (Stichworte Wien, warum nicht auch Dresden, deutsche Orchesterkultur) und der Notwendigkeit oder Gefahr der Öffnung. Wo beginnt ein kultureller 'Relativismus', in der Kunst nötige Identitäten zu nivellieren?
Spezialisierung und Interdisziplinarität
- Was ist zukunftsweisender – die Konzentration auf wenige Themen oder die breite Aufstellung der Ausbildung? Die Preise gewinnen die Spezialisten, die größeren Berufsaussichten haben mglw. die Alleskönner…
Gewalt und Sensibilität
- Entweder Schrei oder Verstummen – wer beherrscht die Zwischentöne? Oder auch: Blut und Sperma vs. billige Sentimentalität. Wird Kunst ohne Extreme noch verstanden, wie müsste extreme Kunst heute definiert werden?
Starkult und Kunst
- Gefährden Erscheinungen wie Anna Netrebko, Lang-Lang oder Lady Gaga die Wahrhaftigkeit künstlerischen Tuns? (es ist hier eindeutig hinzuzufügen: ich zweifle nicht an der Wahrhaftigkeit ihrer Darbietungen. Die Frage ist aber, ob die mediale Präsentation der Kunst dient)
Oberfläche und Tiefe
- Verbunden mit dem Vorigen: Inwiefern ist der von uns produzierte und bediente 'ästhetische Apparat' (H. Lachenmann) einer flimmernden Medienwelt der Totengräber einer lebendigen, regional verwurzelten und solcherart gut gedüngt wachsenden Musikkultur?
Lassen Sie mich mit zwei Zitaten aus der Süddeutschen Zeitung vom 15./16. September schließen – entnommen zwei verschiedenen Artikeln. Im ersten über das Urheberrecht heißt es:
"Immer wieder gibt es ja Autoren, Musiker, Filmemacher, die mit wilder Intuition ins Blaue feuern und dann irgendwo hintreffen, wo das kollektive Unbewusste eines Landes – und vielleicht sogar der ganzen Welt – verrückt spielt."
Und rechts daneben eine Kritik über das Klavierspiel des 21-jährigen Pianisten Daniil Trifonov, der das Zeug hätte, das Erbe des großen Horowitz anzutreten, wie es heißt:
"Es gelten die alten Voraussetzungen: natürliches Talent, musikalisches Elternhaus, frühe professionelle Ausbildung auch unter widrigen Umständen, materieller Druck und psychischer Leidensdruck."
Von unerträglicher Ungewissheit, ob es klappt mit der Karriere, ob man gut genug ist, wird berichtet, und dann ein entscheidender Satz:
"Auch die Einsamkeit muss man aushalten."
Die neuen Dresdner Studentinnen und Studenten habe ich kürzlich mit dem Satz begrüßt: Sie sind verrückt, ein solches Studium zu beginnen. Aber bleiben Sie ruhig, denn bisher haben Sie dennoch alles richtig gemacht – denn Sie MÜSSEN verrückt sein.
Ohne das Müssen wird auch 3.0 keine Musikausbildung Sinn ergeben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
E. Klemm
17.10.2012
Sie wollen sich der Kunst weihen. Es ist meine Pflicht,
Sie auf die unendlichen Schwierigkeiten aufmerksam zu machen,
die Sie dann zu überwinden haben. Ich kenne das Talent nicht,
das Ihnen Gott verliehen hat , ich weiß nur, daß selbst das
außerordentliche noch der günstigsten Umstände bedarf,
um Bedeutendes zu leisten und in der Welt etwas zu gelten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Mit den zitierten Worten wendet sich Carl Maria von Weber 1824 an Aloys Fuchs in Wien, der ihn gebeten hatte, über die Aussichten des Musikerberufes seine Ansichten mitzuteilen.
Ich stehe nicht an, in gebotener Kürze Zutreffenderes, Aktuelleres und Anregenderes zum Thema Musikerberuf der Zukunft aus dem Blickwinkel der Koordinaten Hochschule und Ausbildung zu sagen, als dies der Namenspatron unserer Hochschule getan hat. Dennoch sei der Versuch gewagt, einige zeitgenössische Kommentare hinzuzufügen.
Gliedern möchte ich dieses Statement in 3 Teile, die Fragen nach:
1. dem Warum
2. dem Woher
3. dem Wohin
1. Warum
Im Vorfeld der Beschäftigung mit dem Thema der Tagung hat mich am meisten die Frage beschäftigt, warum wir uns überhaupt mit der Zukunft des Musikerberufes so intensiv auseinandersetzen. Ist der Beruf gefährdet? Wird er von außen in Frage gestellt? Ist er tatsächlich solch gravierenden Veränderungen unterworfen, wie man uns glauben machen will oder wir selbst es fühlen? Worin sollten diese Umbrüche bestehen?
Um nur einen aktuellen Streitfall herauszugreifen, jenen, bei dem den Hochschulen vorgeworfen wird, sie bildeten zu viele Solisten aus (die niemals welche würden) und mäßen dem Orchesterspiel zu wenig Aufmerksamkeit zu. Mit Verlaub: Richtig neu ist dieser Streit nicht. Er findet sich bereits bei Leopold Mozart, der im 12. Hauptstück seiner Violinschule von 1756 unter §4 resümiert:
"Man schließe nun selbst ob nicht ein guter Orchestergeiger weit höher zu schätzen sei, als ein purer Solospieler? Dieser kann alles nach seiner Willkuhr spielen, und den Vortrag nach seinem Sinne, ja nach seiner Hand einrichten: da der erste die Fertigkeiten besitzen muß den Geschmack verschiedener Componisten, ihre Gedanken und Ausdrücke alsogleich einzusehen und richtig vorzutragen. Dieser darf sich nur zu Hause üben um alles rein herauszubringen, und andere müssen sich nach ihm richten; iener aber muß alles vom Blatte weg, und zwar oft solche Passagen abspielen, die wider die natürliche Ordnung des Zeitmaaßes lauffen… Ein Solospieler kann ohne grosse Einsicht in die Musik überhaupts seine Concerte erträglich, ja auch mit Ruhme abspielen; wenn er nur einen guten Vortrag hat: ein guter Orchestergeiger aber muß viele Einsicht in die ganze Musik, die Satzkunst und die Verschiedenheit des Charakters haben…
Der Passus schließt mit dem Stoßseufzer:
"heut zu Tage will alles Solo spielen".
Beim Deutschen Bühnenverein klingt derselbe Stoßseufzer so:
"Dringend erforderlich ist es, die Ausbildung zunehmend nicht auf eine Solistentätigkeit, sondern mehr auf die Tätigkeit eines Orchestermusikers zu fokussieren"
(Sollte ich die Bemerkung hinzufügen, dass ich die direkte Tonart und Ehrlichkeit des großen Leopold der diplomatischen Verklausulierung der geschätzten Kollegen von 2012 durchaus vorziehe?)
Zwischen beiden Stellungnahmen liegen überschlägig reichliche 250 Jahre – wozu also die Aufregung, wenn wir eigentlich noch immer um die Themen von 1756 streiten?
In Wahrheit treibt uns das Thema anderer Ursachen wegen um. Diese liegen viel tiefer und beim Versuch, sie zu beschreiben, stieß ich auf eine Terminologie der Ausgabe, die ich Nr. 32 von GEOkompakt entnahm – eher ein Zufallsfund. Titel des Heftes ist: "Die Suche nach dem Ich", Untertitel: "Wer wir sind – und was wir wollen".
Vor einigen sehr klugen, hochinteressanten Artikeln zu den Themen Bewusstsein, Persönlichkeit, nota bene Siegmund Freud, dem Unbewussten und dem 'veränderten Ich' findet sich ein mit eindrucksvollen Fotos illustrierter Themen-Einstieg unter dem Titel: "Im Bann einer dunklen Kraft". Dort heißt es:
"Die Erkundung des Ichs ist immer auch eine Reise in die Abgründe der Psyche. Denn der größte Teil dessen, was unsere Persönlichkeit, unser Selbst, unsere Vergangenheit ausmacht, ist verborgen unter der Oberfläche des bewussten Wahrnehmens. Wünsche, Erlebnisse, Erlerntes, Erinnerungen – all das hinterlässt Spuren im Unbewussten und fügt sich zusammen zu dem, was uns ausmacht und zu einem unverwechselbaren Individuum mit einer eigenen Geschichte werden lässt."
Die Erkundung der Musik und unseres Verständnisses davon als Reise in die Abgründe der Seele; unsere tiefsten Wünsche, Erlebnisse und Erinnerungen fügen sich mit Erlerntem zu dem unverwechselbaren musikalischen Individuum, das wir ebenso verkörpern wie retten wollen, weil es uns zu entgleiten droht!?
Bei jedem der im Artikel folgenden 8 Stichworte im Kontext zu den Fotos stellen sich unwillkürlich Assoziationen ein, die auf unser Thema zu übertragen wären.
1. In einem rätselhaften Land
- Die Welt unserer Träume als Ausgangspunkt geheimster Reisen ins Unbewusste, ins Reich von Konflikten und Trieben
…sicher auch in das Reich von musikalischer Inspiration und Intuition
2. Das Haus der Ängste
- Die Furcht der Menschen davor, dass etwas aus den Fugen gerät und nichts mehr so sei wie früher. "Ängste entstehen in
evolutionär alten, unbewusst arbeitenden Hirnregionen." Sie sollen uns vor Gefahren warnen.
Das Musikbusiness scheint im Augenblick ein einziges Haus der Ängste zu sein. Von Annaberg/Aue über Baden-Baden, Bonn und Köln bis nach Radebeul, Riesa oder Wuppertal: Haustarifverträge, Fusionen, Kürzungen, Nullrunden… Der demografische Wandel (wahlweise die Finanzkrise) ist die Keule, mit der alle Argumente schnell beiseite gefegt werden.
Wie ernst sind eigentlich Überlegungen angestellt worden, durch Kultur, Kunst und Musik den demografischen Wandel positiv zu beeinflussen??
3. Im Reich der Wünsche
- nach S. Freud verrieten die Träume wahre Wünsche und Ziele, enthüllten Verstrickungen des Ichs zwischen triebhaften Bedürfnissen und moralischen Vorgaben; Stichwort 'Das Es und das Ich'
Viel wäre zu sagen über die triebhaften Bedürfnisse von Musikern und ihre moralischen Vorgaben: Anders gefragt: Sind die geheimen Wünsche nach Aufmerksamkeit, Reichtum, nach Beifall und Medienrummel eine Gefahr für die Moral der Musik und des Musikerberufes?
Noch konkreter: Verhält sich die Anzahl hochbezahlter Open-air-Konzerte und luxuriöser Festivals, von Künstlergagen und Charterfliegern umgekehrt proportional zum Wert dargebotener Musik?
Gefährden die Musiker selbst den Fortbestand ihres Berufsstandes?
4. Die Grenzen der Freiheit
- Gezeigt werden die fatalen Folgen, wenn technische Erfindung und exzessives Streben nach Fortschritt genutzt wird, der Welt einen Willen aufzuzwingen.
Was geschieht, wenn Künstler versuchen, uns ihren Willen aufzuzwingen? Wenn Leute wie Wagner oder Stockhausen uns nötigen, ganze Tage sich nur ihrer Kunst zu widmen? Schön oder gefährlich? Manipulativ oder Sinnlich? Fluch oder Segen für die Kunst?
Auch die Möglichkeiten und Grenzen neuer Technik inklusive ihrer Folgen (bspw. für das Urheberrecht) sollten hier ins Blickfeld kommen.
5. Vom Wesen der Geschlechter
- Was ist weiblich, was männlich? Selbstwertgefühl und Identität plus Zusammenspiel genetischer Faktoren und Hormone…
Ein weites Feld, gerade auf dem Gebiet der Musik, die sich anschickt, viel weiblicher zu werden: Schon sind fast weit über die Hälfte der Musikstudierenden Frauen, ganze Jugendorchester bestehen zu über zwei Dritteln aus Mädchen und Autoren wie Eckard Fuhr, Hans Ullrich Treichel oder Uwe Tellkamp registrieren in Freiburg, Berlin und Dresden die Mädchen mit den Geigenkästen…
Wird diese Entwicklung die Musik verändern? Stecken hinter den Ängsten um den Musikerberuf womöglich männliche Urängste vor dem aufziehenden Matriarchat auf den Brettern, die die Welt bedeuten?
6. Im Karussell der Gefühle
- Zuneigung, Liebe, Glück, Wohlbefinden, Abneigung, Wut, Trauer, Trostlosigkeit: "Die Emotionen entstanden im Laufe der Evolution: Sie halfen den Urmenschen im Kampf ums Überleben."
In Wahrheit lieben wir dieses Karussell mehr, als dass wir es fürchten – fürchten wir aber vielleicht die kongeniale Darstellung der Emotionen durch die und in der Musik? Verlustängste beim Hören von Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann, Mark Andre oder Rebecca Saunders? Wie viel Chaos, Verstummen, Ratlosigkeit oder Aggressivität darf zeitgenössische Musik in sich tragen?
7. Die Masken des Ichs
- Der Spiegel der 5 Temperamente, der "Big Five", die entscheiden, ob wir sind:
gesellig oder gehemmt - Extraversion
pflichtbewusst oder schlampig - Gewissenhaftigkeit
neugierig oder engstirnig - Offenheit
selbstsicher oder ängstlich - Neurotizismus
gutmütig oder aggressiv - Verträglichkeit
Und hier der grausame Befund: Die wahren Künstler neigen wohl eher zu den 'negativ' konnotierten Eigenschaften… (die anderen wandern in's Musikbusiness?)
8. Eine Frage des Körpers
- Die Frage der Akzeptanz des eigenen Körpers, der Wechselwirkung von physischer Erscheinung und Selbstbewusstsein; die Wahrnehmung des Unvollkommenen; der Körper als Erlebnisraum des von der Welt Abgegrenzten
Diese letzte Assoziation wirkt in zwei Richtungen: Sie weist den Weg einerseits in die Richtung der Erforschung des Körpers als Basis eines gesunden Musizierens; und sie lenkt den Blick auf den gesunden Körper Musik – wann empfinden wir eine Musik als 'unheil' oder depressiv?
Und noch weiter getrieben die Frage: Wie verhalten sich Schönheit, Oberflächlichkeit und Form und Inhalt zueinander?
Schütz' Cantiones sacrae, Bachs Goldberg-Variationen, Brahms' 3. Sinfonie oder Schönbergs Moses und Aron – musikalisch-physische Erscheinungen bar jeder Unvollkommenheit; ideale Körper eines künstlerischen Selbstbewusstseins, das uns den Angstschweiß auf die Stirn treibt, diese Vollkommenheit je wieder erreichen zu können?!
Um Vergebung, mit einem Referat über das Thema Musiker 3.0, Stichwort "Hochschule und Ausbildung" hat dies noch wenig zu tun – dennoch: Ich halte das Nachdenken über die Urgründe unseres Tuns für noch wichtiger als jenes über die Details der Formen.
Wenn wir nun zu diesen vordringen, kommen wir zur zweiten Frage, dem
2. Woher
Es müssen an dieser Stelle einige Zeitzeugen Erwähnung finden, die hier in Dresden für die Musikerausbildung der zurückliegenden 400 Jahre stehen – nur im bewussten Reflektieren ihrer Ansätze kann gefunden werden, was im 3. Jahrtausend fortgesetzt, neu bewertet oder vielleicht auch abgeschafft werden muss. Und sehr deutlich sei hinzugefügt: Die Qualität aller bisheriger Ausbildung war so eminent und brachte immer wieder so bedeutende Geister hervor, dass, sie auf den Prüfstand zu stellen ein erhebliches Wagnis und Risiko darstellt. Es kann eigentlich nur darum gehen, sie stets neu auf ihre Aktualität zu befragen.
Dresdner Musikausbildung beginnt – wie könnte es anders sein – mit dem ersten großen deutschen und auch einem der ersten bedeutenden europäischen Komponisten: Mit Heinrich Schütz. Martin Gregor-Dellin entwirft ein faszinierendes Bild dieses Lebens und schreibt ein eigenes Kapitel über den Lehrer und seine Lehre. Darin heißt es:
"Er vertrat die zwei Geiste der Zeit auf exemplarische Weise in seinem Bestreben, sie auf einen gemeinsamen formalen Nenner zu bringen, und wirkte daher regulierend und Neues ermöglichend weiter . … Die Lehre, die Schütz hinterließ, wurde gleichsam unterirdisch weitergegeben, durch mündliche Überlieferung, durch das Werk, die Praxis – und, wie sich herausstellen sollte, durch das erstaunliche Vorkommnis einer handschriftlichen Kompositions-Anleitung, die nicht einmal seinen Namen trug. Voraussetzung für die Wirksamkeit seiner Lehre war eine Kantoreikultur, deren Fundamente der Lehrmeister an vielen Stellen selbst gelegt hat."
Die Zahl Schütz'scher Schüler geht – die ihm anvertrauten Choristen mitgerechnet – in die Hunderte. Viele bedeutende Komponisten des Barock befinden sich darunter: Hering, Loewe, Theile, Drese, Förster, Hammerschmidt, Dedekind, Rosenmüller, Krieger und schließlich Christoph Bernhard, der Schütz' Kompositionslehre überlieferte. Neben dieser steht die Ausführung im Vordergrund, die Stimmbildung, der Vortrag, die Ausbildung eines dem Werk angemessenen Geschmacks, Triller, Verzierungen usw. Über die drei Stufen des schlichten, des affektbetonten und des ornamentalen Gesanges dringe Bernhard zu einer Affektenlehre vor, die bis zum jungen Mozart ihre Gültigkeit behalten hätte, schreibt Gregor-Dellin. Mit Bernhards Lehre sei der Nachweis einer Verbindung zwischen Schütz und Bach gelungen, das Musikalische Opfer und die Kunst der Fuge seien nichts weniger als die Erfüllung eines Schütz'schen Testaments, festgehalten in der Lehre seines Schülers. Gregor-Dellin resümiert:
"Seine systematische Figurenlehre vergleicht Christoph Bernhard wegen der Menge der Figuren mit der Rhetorik. Auch darin meldet sich noch einmal der wissenschaftliche Anspruch eines Musizierens, das sich seine grammatikalischen und syntaktischen Regeln vorher bewußt macht, bevor es zu 'sprechen' beginnt."
In meinem Grußwort zu Beginn der Tagung habe ich bewusst die Definition des Web 3.0 als Semantisches Web zitiert. Hier findet sich ein Anknüpfungspunkt aus viel älterer Zeit: Komposition, Musik und ihre Ausführung unter dem Blickwinkel systematischer Figurenlehre, grammatikalischer und syntaktischer Regeln und mit wissenschaftlichem Anspruch – ein möglicher Ansatz in krisenhaften Zeiten?
Der musikalische Revolutionär Weber beschreibt und lobt reichlich 140 Jahre nach Schütz' Tod das System des Prager Konservatoriums:
"…jeder Schüler muß den Unterricht durch sechs Jahre fortsetzen, von denen er drei in der ersten und drei in der zweiten Klasse zubringt. Die Direktoren halten ihre Sitzungen, so oft es die Umstände erheischen, und nehmen alle verhandelten Gegenstände zu Protokoll, welches nach aller Unterzeichnung versiegelt wird. Jedes Jahr .. ladet die Direktion alle in Prag anwesenden Mitglieder zu einer Hauptversammlung ein, um denselben über den Fortgang, die Verwaltung des Instituts und den Stand der Kasse Auskunft zu geben. Der Hauptlehrgegenstand des Instituts ist die Instrumentalmusik, da sein Zweck ist, tüchtige Musiker zu bilden, und es werden alle zu einem vollkommenen Orchester erforderlichen Instrumente, von eigens hierzu angestellten Lehrern, in abgesonderten Lehrzimmern, täglich durch zwei Stunden gelehrt."
Auch Gesang und Theorie wird angeboten und interessant ist der Verweis Webers, dass die Zöglinge auch "in den notwendigsten literarischen Gegenständen, als in der deutschen und italienischen Sprache, Mathematik, Geographie, Naturgeschichte, Geschichte, deutschen und italienischen Prosodie und Metrik, Ästhetik und Mythologie wie auch der Religionslehre" unterrichtet würden.
Interdisziplinarität anno 1817.
Noch einige Jahre später, 1849, verfasst Richard Wagner seinen "Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters" und schlägt dort sowohl eine Theater-, Chor als auch Orchesterschule vor.
"Um dieses schöne Institut von ersichtlichem Nutzen für die musikalische Kunst im gesammten Vaterlande werden zu lassen, ist zunächst der Anschluß einer Musikschule an dasselbe als nothwendig zu erachten. Bisher ist die Bildung von Musikern in Dresden nur dem Privatunterrichte und der Geneigtheit der einzelnen Künstler überlassen worden."
Es fällt auf, dass die Ausformulierung von Details mittlerweile sehr pragmatisch geworden ist:
"Die Ansprüche an den einzelnen Chorsänger sind allerdings, dem dramatischen Sänger und auch dem Mitgliede des Orchesters, von dem individuelle künstlerische Ausbildung ebenfalls gefordert wird, gegenübergehalten, geringerer Natur: für ihn genügt der Besitz einer Stimme untergeordneterer Gattung, ein unanstößiges Äußere und Fleiß."
Während bei Schütz und Bernhard die Ausbildung von Komponisten eine Einheit bildete mit der Ausbildung von Musikern und Weber die Musiktheorie bereits als Zusatzfach beschreibt, schlägt Wagner die Gründung eines Komponisten-Vereins vor und möchte insgesamt die Verantwortung beim Staat angesiedelt wissen:
"…es ist somit Sache des Staates, auch an diese Kunst jene Anforderung Kaiser Joseph's an die Schauspielkunst zu stellen: »sie solle auf die Veredelung des Geschmackes und der Sitten wirken«. Die Verantwortlichkeit für die Aufrechthaltung dieses Grundsatzes muß ebenfalls einer der Minister übernehmen, und er kann dieß wiederum nur, wenn er die volle freie Betheiligung der Nation in die Organisation auch dieses Institutes mit einschließt, so daß auch hierin der verständige, intelligentere Theil derselben jenen Grundsatz im eigenen Interesse selbst überwacht.
Ein Verein sämmtlicher Komponisten des Vaterlandes soll sich daher bilden, und nach eigenem Ermessen durch Aufnahme musikalischer Theoretiker, sowie selbst bloß praktisch ausübender Musiker sich verstärken können."
Wir sind noch nicht ganz beim Heute angekommen, indessen sind die Umrisse heutiger Hochschulen bei Weber, Wagner oder Mendelssohn, der die Struktur für Leipzig skizzierte, klar zu erkennen. Den persönlich so heißgeliebten Schumann, der gerade in Dresden Grundsteine für ein modernes Musikleben schuf (u.a. durch seine genialen Chorkompositionen, die er im selbst geleiteten Chor einstudierte und aufführte und solcherart regionale Wurzeln legte) überspringe ich. Wir können zur 3. Frage fortschreiten:
3. Wohin
Es scheint noch immer schwer zu sein, verlässliche Daten über Sinn und Zweck unserer Ausbildung zu gewinnen. Prof. Heiner Gembris und Daina Langner vom Institut für Begabungsforschung in der Musik (IBFM) der Universität Paderborn haben eine Studie veröffentlicht und beklagen darin auch verschiedene Umstände, die möglicherweise die Daten ungünstig beeinflusst haben könnten: Es wird vermutet, nur die selbstbewussten Studierenden könnten sich zurückgemeldet haben, ferner seien die Adressdateien der Hochschulen unzuverlässig, nicht nach Studienfächern geordnet, es habe Probleme mit dem Datenschutz gegeben usw. usf. Dennoch liegt folgendes Ergebnis vor, ich zitiere einen längeren Abschnitt:
"Es wurden insgesamt 418 Streicher, Bläser, Sänger und Pianisten befragt, die eine künstlerische Ausbildung absolviert haben. Ihr Berufsziel zu Beginn des Studiums war, Orchestermusiker oder Solist zu werden. Zum Befragungszeitpunkt waren die Musiker um die 30 Jahre alt. Der Frauenanteil beträgt 60% und entspricht damit auch der Verteilung an deutschen Musikhochschulen. Das Musikstudium beendeten sie im Durchschnitt mit 27 Jahren, fast alle mit „guten“ und „sehr guten“ Leistungen (Durchschnittsnote 1,6). Von den befragten Streichern (n = 160) gaben 42% an, eine feste Vollzeitstelle zu haben, davon 38% im Orchester. Bei den Bläsern (n = 108) haben 49% eine feste Vollzeitstelle, davon 42% im Orchester. … Etwas über ein Drittel (34%) aller befragten Streicher und etwas über ein Viertel (27%) aller Bläser arbeiteten freiberuflich bzw. kombinierten eine freiberufliche Tätigkeit mit einer befristeten Tätigkeit im Orchester. … Nur 2% der Streicher und 4% der Bläser waren zwar ausschließlich musikalisch tätig, finanzierten jedoch ihren Lebensunterhalt über Eltern, Ehepartner oder andere Quellen ( z.B. Agentur für Arbeit). Ein einziger Streicher verdiente seinen Lebensunterhalt als Solist. …
Von den befragten Sängern (n = 100) gaben 38% an, ein Vollzeit-Anstellungsverhältnis im Chor (26%) bzw. als Gesangssolist (12%) am Theater zu haben. Ein etwas größerer Teil von 42% war freiberuflich tätig, … Nur ein Sänger hatte eine unbefristete Teilzeitstelle (an einer Musikschule); 3% der Sänger arbeiteten zwar musikalisch, bezogen ihren Lebensunterhalt jedoch aus anderen Quellen (Eltern, Ehepartner u.a.).
Die größte Gruppe der zwangsläufig miterfassten Absolventen bildeten die Absolventen der Instrumentalpädagogik. Die meisten arbeiteten freiberuflich (48%) und gingen ausschließlich musikalischen Tätigkeiten nach. Unbefristete Vollzeitverträge an Musikschulen hatten 17%, unbefristete Teilzeitverträge 11% (ebenfalls an Musikschulen). Etwa ein Drittel (31%) der Stichprobe ging mehreren musikalischen Tätigkeiten nach. In den meisten Fällen unterrichteten sie, dazu kamen Muggen in Orchesterprojekten, kammermusikalische oder solistische Auftritte."
Mit Verlaub: so schlecht scheint es also gar nicht auszusehen. (Einzig die Zahlen der Pianisten sehen alarmierend aus. Im Bereich Lehramt und Jazz/Rock/Pop lagen zu wenig Rückmeldungen für belastbare Aussagen vor.)
Auch die HfM Dresden bereitet entsprechende Studien vor und ist bemüht, belastbare Daten zu erhalten. Unser Konzept von Evaluationen innerhalb der Hochschulinitiative Neue Bundesländer bildet gleichzeitig den Anfang der Errichtung eines internen und externen Systems des Qualitätsmanagements und sieht u.a. die Befragung von Experten, von Alumni und Studierenden vor. In weiteren Schritten sollen aber auch besonders die Lehrenden einbezogen werden, denn wir sind überzeugt, dass Qualitätsmanagement nicht nur in eine Richtung funktioniert, jener, bei der Studierende über ihre Profs und ihre Hochschulen urteilen. Professoren dürfen auch unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen, sogar mit den Studierenden oder mit der Verwirklichung ihrer Ideen sein – sie haben das Recht, dies innerhalb solcher Konzepte als Anstoß zu Verbesserungen dokumentiert zu sehen.
In der Gembris-Studie werden auch Defizite der Ausbildung benannt:
Orchesterstimmenkenntnis (auch von Opern),
Anpassung im Orchester,
Blattspiel, schnelles Erfassen des Notentextes,
Vorauslesen im Notentext, schnelle und effektive Erarbeitung von
Stücken,
Dirigiergestik/Dirigate lesen,
Fertigkeiten im
Ensemblespiel/Aufeinanderhören/Kammermusik,
musikalische Flexibilität und Routine in verschiedenen Genres.
Alle diese Probleme wurden auch an diesem Haus erkannt – sind aber bei weitem keine neuen Erkenntnisse – sh. oben die Klagen von Leopold Mozart.
Ein soeben neu verabschiedetes Leitbild unserer Hochschule, in dem u.a. das Bekenntnis zur Internationalität, zur Praxisorientierung, der Nachwuchsarbeit auf Exzellenzniveau im Landesgymnasium für Musik, zur Interdisziplinarität und zum Begreifen von Musikausbildung als künstlerischer, pädagogischer und wissenschaftlicher Tätigkeit mit höchster gesellschaftlicher Verantwortung abgelegt und beschrieben wird ist gerade verabschiedet und kann eingesehen werden. Aber statt vorgefertigter und wohlfeiler Konzepte möchte ich – anknüpfend an die etwas mythisch daherkommenden Urgründe zu Beginn des Vortrages – einige Begriffspaare und dazugehörige persönliche Fragen als Diskussionsanregungen geben, in deren Spannungsfeld sich unsere Auseinandersetzungen der nächsten Stunden, Monate und Jahre bewegen könnten:
Improvisation und Perfektion
- Könnte der Hang zu improvisierten Gesten und Unfertigen sich wieder mehr in die Richtung abgeschlossener Entwürfe von Kunst und Musik bewegen?
Emotion und Struktur
- Inwiefern könnte eine einseitige Fokussierung auf Emotionen zu einer gefährlichen 'Emotionalisierung von Strukturen' führen, die den Kern musikalischer Aussage betreffen und Musik damit verfälschen und überflüssig machen?
Individualität und Masse
- Was haben die gesellschaftlichen Prozesse mit den Themen Solo- bzw. Ensemblespiel vs. Orchester und Chor zu tun? Sind die Unzufriedenheiten mit dem Musizieren in größeren Gruppen (offenbar im Gegensatz zum beginnenden 19. Jahrhundert) Ergebnisse einer fortschreitenden Individualisierung?
Kanon und Erneuerung
- Inwiefern stehen Traditionen einer neuen Kreativität von Musik, Musikformaten und Musikausbildung im Wege? Nur ein Beispiel von unzähligen: Das entsetzliche 15-min.-Werk zeitgenössischer Musik zum Konzertbeginn…
Identität und Öffnung
- Mit dem vorigen Thema sehr verwandt, dennoch auch ein Stück spezieller: Der Widerspruch zwischen regionalen musikalischen Identitäten (Stichworte Wien, warum nicht auch Dresden, deutsche Orchesterkultur) und der Notwendigkeit oder Gefahr der Öffnung. Wo beginnt ein kultureller 'Relativismus', in der Kunst nötige Identitäten zu nivellieren?
Spezialisierung und Interdisziplinarität
- Was ist zukunftsweisender – die Konzentration auf wenige Themen oder die breite Aufstellung der Ausbildung? Die Preise gewinnen die Spezialisten, die größeren Berufsaussichten haben mglw. die Alleskönner…
Gewalt und Sensibilität
- Entweder Schrei oder Verstummen – wer beherrscht die Zwischentöne? Oder auch: Blut und Sperma vs. billige Sentimentalität. Wird Kunst ohne Extreme noch verstanden, wie müsste extreme Kunst heute definiert werden?
Starkult und Kunst
- Gefährden Erscheinungen wie Anna Netrebko, Lang-Lang oder Lady Gaga die Wahrhaftigkeit künstlerischen Tuns? (es ist hier eindeutig hinzuzufügen: ich zweifle nicht an der Wahrhaftigkeit ihrer Darbietungen. Die Frage ist aber, ob die mediale Präsentation der Kunst dient)
Oberfläche und Tiefe
- Verbunden mit dem Vorigen: Inwiefern ist der von uns produzierte und bediente 'ästhetische Apparat' (H. Lachenmann) einer flimmernden Medienwelt der Totengräber einer lebendigen, regional verwurzelten und solcherart gut gedüngt wachsenden Musikkultur?
Lassen Sie mich mit zwei Zitaten aus der Süddeutschen Zeitung vom 15./16. September schließen – entnommen zwei verschiedenen Artikeln. Im ersten über das Urheberrecht heißt es:
"Immer wieder gibt es ja Autoren, Musiker, Filmemacher, die mit wilder Intuition ins Blaue feuern und dann irgendwo hintreffen, wo das kollektive Unbewusste eines Landes – und vielleicht sogar der ganzen Welt – verrückt spielt."
Und rechts daneben eine Kritik über das Klavierspiel des 21-jährigen Pianisten Daniil Trifonov, der das Zeug hätte, das Erbe des großen Horowitz anzutreten, wie es heißt:
"Es gelten die alten Voraussetzungen: natürliches Talent, musikalisches Elternhaus, frühe professionelle Ausbildung auch unter widrigen Umständen, materieller Druck und psychischer Leidensdruck."
Von unerträglicher Ungewissheit, ob es klappt mit der Karriere, ob man gut genug ist, wird berichtet, und dann ein entscheidender Satz:
"Auch die Einsamkeit muss man aushalten."
Die neuen Dresdner Studentinnen und Studenten habe ich kürzlich mit dem Satz begrüßt: Sie sind verrückt, ein solches Studium zu beginnen. Aber bleiben Sie ruhig, denn bisher haben Sie dennoch alles richtig gemacht – denn Sie MÜSSEN verrückt sein.
Ohne das Müssen wird auch 3.0 keine Musikausbildung Sinn ergeben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
E. Klemm
17.10.2012
klemmdirigiert - 2012-10-20 22:17
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