25
Aug
2016

Einojunahni Rautavaara zum Gedenken II - Einführungstext zu Rautavaaras Oper DAS SONNENHAUS

Programmhefttext für die deutsche Erstaufführung 1994 am Theater Vorpommern


Gibt es einen nordischen Klang?

Adornos Verdikt gegen die Musik Sibelius' - ...ihre Wirkung ist gefährlich! - steht am Anfang einer Rezeptionsgeschichte, die gerade in Deutschland noch immer von der Randexistenz nordeuropäischer Musik in den Konzert- und Spielplänen geprägt war. Erst die zweite Hälfte des Jahrhunderts erwies die Kraft der Strukturen, die Sibelius, Nielsen oder Pettersson erdachten.

Es sind vor allem drei Merkmale, die ihre Musik prägen:

Berstende Tonalität, "chaotische" harmonische Strukturen stehen auf der einen, Inseln der Ruhe und Einfachheit auf der anderen Seite eines Gegensatzes, der häufig initialen Charakter trägt, so z.B. in Sibelius' 3., 5., in Nielsens 3., 4. oder in Petterssons 7. Sinfonie. So erhält der Zustand des Entwurzelten im Nachhinein die Funktion einer Katharsis, an deren Ende melodische und harmonische Ruhe Fluchtpunkt und Ziel sind - nicht selten übrigens mit geradezu terzenseligen Figuren (Nielsens 4., Sibelius' 5.!).

Eine zweite Gemeinsamkeit entdecken wir - resultierend aus dem Vorhergehenden - in der auffallenden Tendenz zu ostinaten Figuren bzw. der Bildung harmonisch großflächiger Strukturen. Beinahe jede Sibelius-Sinfonie endet im lang ausgebreiteten Orgelpunkt, über dem die thematischen Kräfte gebündelt werden. Ruhe und Kraft gehen von diesen Abschnitten aus, die wohl einen Teil dessen repräsentieren, was Rautavaara als musikalisches Phänomen der Meditation charakterisiert (siehe "Fragen an den Komponisten").

Schließlich ein drittes: die "unendliche Melodie"; melodische Bögen, die kraft ihrer Ausdehnung, motivischen und metrischen Gliederung das Endliche vergessen machen wollen. Dabei werden oft genug die Taktgruppen - Raster, die noch Wagners "unendliche Melodie" prägen - negiert, durch Synkopen, Überbindungen usw. umgangen; wird metrische Identifikation nicht selten unmöglich gemacht.

Die Wege Rautavaaras und Sibelius' kreuzten sich auf eine Weise, die getrost als Pointe der finnischen Musikgeschichte bezeichnet werden kann: Aus Anlaß seines 90. Geburtstages erhielt Sibelius ein Stipendium, das er einem jungen finnischen Komponisten verleihen sollte. Er wählte Rautavaara - heute mit Joonas Kokkonen und Aulis Sallinen einer der bedeutendsten finnischen Tonsetzer. Rautavaara ging nach Amerika, in die Schweiz, nach Deutschland und lernte dabei die westliche Avantgarde kennen, der er sich kompositorisch auch eine Zeit lang anschloß. Er benutzte dodekaphone Techniken bis hin zur 4. Sinfonie ("Arabescata"), dem einzigen finnischen Werk, das seriell strukturiert ist.

Wie bei Salinnen und Kokkonen folgt nach dieser Phase die Abkehr von der Reihentechnik: Rautavaaras 1. Klavierkonzert und das Cellokonzert arbeiten mit diatonischen und Clustermodellen. In den späteren Werken ist eine Verquickung der verschiedenen Techniken zu beobachten.

Interessant ist, daß bereit die serielle 4. Sinfonie eines deutlich zeigt: Rautavaara ist ein Magier des Klanges! Folgerichtig betrachtet er auch das Klavier in den dafür geschriebenen Konzerten als virtuoses Instrument, ebenso wie seine Opern dankbar (aber nicht einfach!) zu singen sind. "Das Sonnenhaus" arbeitet mit einer sparsamen Kammerorchesterbesetzung, das Werk steht und fällt mit dem Gesang.

Kalevi Aho bezeichnet Rautavaara als Romantiker, ja Mystiker*. Tatsächlich befaßte sich der Komponist häufig mit mystischen Themen. Die Opern "Thomas", "Runo 42" und das Weihnachtsmysterium "Marjatta" bilden eine Trilogie, die den Verlust der mythologischen Kalevala-Welt zum Inhalt hat. Aber auch aktuelle Themen haben Rautavaara gereizt: die Oper "Kaivos" nimmt Bezug auf den Ungarn-Aufstand von 1956. Die Libretti zu seinen Opern schreibt der Komponist selbst.

Zeit und Unendlichkeit sind Rautavaaras Thema nicht erst seit "Sonnenhaus". Noch einmal gehe den Weg bis zum Anfang in die Vergangenheit, mein Bruder Vincent!, heißt es in der Oper "Vincent" (1990). Die 6. Sinfonie "Vincentiana" korrespondiert damit unmittelbar.

Um den Weg in die Vergangenheit, ihre Bewahrung, die Überlagerung historischer Zeitebenen geht es nun bei der merkwürdigen Geschichte der alten Schwestern. Die Lebensuhr von Noora und Riina geht in einem bewußt langsamen Rhythmus. Bereits das Vorspiel des Stückes etabliert den Gegensatz. Nach chaotischen, verzerrten und bizarren Gesten des Anfangs beginnt bald ein pianissimo der "Unendlichkeit", das uns gleichsam in die Traumwelt entführen will. Darunter schlägt mit Viertelnoten zart schwingend das Pendel der Zeit.

Aber damit nicht genug. Der Einsatz eines Synthesizers bringt neben dem fremden Klang auch eine andere musikalische Zeit ins Spiel: der Part ist ametrisch komponiert. Gegenüber dem Puls der Instrumente wirkt er somit "frei im Raum schwebend."

Der Synthesizer steht darüber hinaus als Symbol für eine andere Welt: die der Träume und Visionen. Sie sind es, die Glauben und Hoffnung ermöglichen: Wenn man glaubt, wenn man hofft, dann kommt sie doch, die weiße Taube, im Schnabel bringt sie den Ölzweig wonnesam..."

Mit präzisem dramaturgischen Instinkt sind die Momente des Ausstiegs aus der Realität gesetzt und durch eben die erwähnten Strukturen nicht enden wollender Linien charakterisiert:

im Vorspiel;
in der 1. Szene im Gesang der Schwestern;
in der 2. Szene im Orchester (Rückblende: Ankunft in Solgården, gleichermaßen Traumstimmung und Gefangensein symbolisierend);
in der letzten Szene des 1. Aktes: die Schwestern erwarten Rissonen, den sie für den Bekannten (und Geliebten) Riccioni halten - folgerichtig kehrt die Vision des Gestern wieder zurück;
in die umgekehrte Richtung geht die Vision zu Beginn des 2. Aktes: die Schwestern erleben die bittere Vision ihrer zu diesem Zeitpunkt noch undenkbaren Zukunft und träumen sich die Geliebten (oder besser: die versprochenen Verlobten) herbei (Quartett);
grandios die Wiederholung des Quartetts kurz vor Ende des Werkes: die Zeitebenen durchdringen sich; die Männer sind nunmehr durch Noora und Riina ersetzt, in deren Erinnerung sie sich mit Eleanor und Irene verflechten; das Quartett wird somit zum Duett der Zwillinge mit sich selbst.

Träume und Visionen als Tor der Überwindung endlicher Zeit werden in diesen Szenen musikalisch frappierend Gestalt - freilich mit Klängen, die nichts mehr mit dem Stil des einstigen Avantgardisten gemein haben.

Und dennoch ist Rautavaara kein billiger Verfechter "neuer Einfachheit". Das vermeintlich Einfache seiner Musik ist geradezu mit architektonischem Kalkül entworfen. Zwölftonreihen, Modi (die auch Messiaen verwendet und die ostasiatischer Musik entlehnt sind), Cluster ("Tontrauben") und auch tonale Konstruktionen sind eng miteinander verflochten und bilden ein Netz von Klangbeziehungen, die einander kommentieren und ins Verhältnis setzen.

Die Musik arbeitet hinsichtlich der Gesangspartien und des Orchestersatzes tatsächlich mit durchaus "traditionellen" Mitteln - wäre da nicht jenes synthetische Medium: ein Synthesizer, dessen elektronische Klangerzeugung und (siehe oben) rhythmische Ungebundenheit dem Stück eine zusätzliche Dimension verleihen.

Das elektronische Medium benutzt Rautavaara häufig in seinen Werken - und meist nicht nur als bewußten Kontrast zum gewohnten Instrumentarium, sondern als Bedeutungsträger für Traumwelten. Die Synthesizerklänge erhalten dadurch eine geradezu positive Wertung - sie stehen keinesfalls für das Kalte, Abstoßende oder Fremde; statt dessen aber für das Unerreichbare, Ersehnte, Hoffnung gebende.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine klangliche Verwandtschaft zwischen dem Beginn des 2. Aktes und Rautavaaras bekanntestem Orchesterwerk, dem "Cantus arcticus". Gesang arktischer Vögel wurde hier auf Band aufgenommen, teilweise verfremdet und dem konventionellen Orchesterapparat gegenübergestellt. Auch hier vertritt das elektronische Hilfsmittel also eine andere Welt, und es nimmt nicht Wunder, das der "Cantus arcticus" eine Musik der Sehnsucht von der ersten bis zur letzten Note ist.

Und eine Musik der Ruhe.

Rautavaaras Musik und die des "Sonnenhauses" im besonderen ist eine Antwort auf den hektischen Lebensrhythmus des 20. Jahrhunderts. Darin ist sie dem Geist der Musik auch eines Steve Reich, Philip Glass oder John Adams nahe. Es ist interessant, daß mit Arvo Pärt, Peteris Vasks und anderen auch im baltischen Raum ähnliche Tendenzen - wenngleich mit ganz anderen Resultaten - zu beobachten sind.

Darüber hinaus aber spricht Rautavaara mit den Themen Flucht, Exil, Einsamkeit und soziale Entwurzelung neuralgische Punkte unserer Gesellschaft an.

Oper an der Schwelle zum neuen Jahrtausend - kann sie die Last solcher Themenstellung tragen? Rautavaara antwortet mit einer Musik der leisen Töne, der Sensibilität und Stille; einer Musik, die durch ihre unaufdringliche Geste gefangennimmt.

Musik ist Leben, wie dieses unauslöschlich (Carl Nielsen).

Aber die Idee des Menschen ist nicht seine eigene Idee - und deshalb ist sie unzerstörbar (Allan Pettersson).

Der Weg der entwurzelten Schwestern Noora und Riina als Katharsis, die uns am Ende aufruft: Es ist Zeit zu kommen, Zeit zu gehen, Zeit zu erinnern, ...erinnern, ...erinnern...

Gibt es einen nordischen Klang?


*) in: Komponisten der Gegenwart. Edition text und kritik.

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