24
Aug
2016

...wuchernder Kanon mit implodierender Coda...

Plakat-Lobgesaenge

Eine Einführung zum "Ricercar a 5,9", Uraufführung innerhalb des Dresdner Bachfestes am 24.09.2016, 20.00 Uhr in der Dresdner Kreuzkirche und am 25.09.2016 17.00 Uh in der Marienkirche Großenhain. Außerdem im Programm: Strawinskys Psalmensinfonie und Mendelssohns Lobgesang. In Zusammenarbeit mit dem Orchester der Staatsoperette Dresden und dem Dirigentenforum des Deutschen Musikrates.

"…wuchernder Kanon mit implodierender Coda…" – ein FAQ-Katalog zum Ricercar a 5,9

Was ist der Anlass der Entstehung von Ricercar a 5,9?

Das Stück ist für ein Konzert der Singakademie Dresden zum Bachfest in Dresden 2016 geschrieben worden. Im gleichen Konzert erklingen Strawinskys Psalmensinfonie und Mendelssohns Lobgesang-Kantate – ein Programm also, in dem Bach lediglich virtuell anwesend, in allen Stücken jedoch wie durch eine Folie sichtbar ist. Eine Uraufführung sollte den Abend kontrastreich ergänzen. Als künstlerischer Leiter kenne ich den Chor seit 12 Jahren, wir haben bereits viele Uraufführungen, darunter auch einige aus meiner Feder musiziert, so war es ein Bedürfnis, aus Anlass des Bachfestes die Reihe mit einem pointierten Beitrag fortzusetzen.

Gibt es einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt?

Ja – inhaltlich wird auf das Thema des Lobgesanges Bezug genommen, das bei Bach sehr oft im Mittelpunkt steht, uns selbst jedoch gerade in Zeiten von Gewalt, Terrorismus und Flüchtlingselend eher im Halse stecken bleibt. Was hat Bach, Mendelssohn und Strawinsky – keiner von ihnen hat wohl in besseren Zeiten gelebt als wir – bewogen, solch kraftvolles Lob in Töne zu fassen? Ist es ein übergeordnetes Vertrauen? Wenn ja, worauf? Solche und ähnliche Fragen gingen mir durch den Kopf – die ganze Zeit die Werke der Meister im Blick, die ich von meiner Kindheit her im Dresdner Kreuzchor kenne. Für alle drei – Bach besonders eingeschlossen – gibt es ein Grundvertrauen in die Struktur, aus der die Musik eine besondere Spiritualität gewinnt. Das Confiteor der Messe in h-Moll bspw. ist solch ein Stück, wo sich Inspiration und Struktur überlagern, wo der liebe Gott – im übertragenen Sinne gesprochen – im Generalbass spazieren geht und die Stimmen sich darüber kontrapunktisch entfalten. Es hat mich von Kindheit an stark beeindruckt. Gleichzeitig vertraut jeder der Komponisten auf die von außen kommende Inspiration eines vielleicht göttlich zu nennenden Impulses. Ricercar á 5,9 ist der Versuch, diese Herangehensweise aufzunehmen und neu zu beleuchten.

Ricercar á 5,9 – was hat der Titel zu bedeuten?

Das sechsstimmige Ricercar aus dem Musikalischen Opfer gehört zu den ganz großen Werken der Musikgeschichte. Bis dahin gibt es einen langen Weg der Entwicklung, wobei ja ricercare an sich 'suchen' oder 'forschen' bedeutet. Bachs Version – nach dem von Friedrich II. vorgegebenen Thema zunächst dreistimmig improvisiert, danach sechsstimmig ausgearbeitet – ist der Gipfelpunkt eines langen Suchens vieler Komponisten, das vom Präludium über die freie Improvisation mit Imitationen bis zum strengen Kontrapunkt der Fuge geführt hat. Anton Webern (seine Orchesterfassung erklingt auch innerhalb des Dresdner Bachfestes 2016) hat es für Orchester gesetzt und das Werk damit neuerlich zum Monument erhoben. Man kann also nicht versuchen, Bach zu imitieren, gleich gar nicht mit sechs Stimmen. Es bleibt aber nicht aus, dass man bei intensiver Verehrung und Beschäftigung mit Bach immer wieder nach Wegen sucht, wie der Gedanke des Ricercars ins Heute übersetzt werden kann. Pointiert gesprochen: Man muss in der Anzahl der Stimmen 'unter' Bach, dem Unerreichten, bleiben. Deshalb gibt es im Ricercar á 5,9 nicht sechs Stimmen, sondern nur fünf. Die sechste jedoch ist aufgeteilt in neun verschiedene Evokationen, Explosionen, Diskussionen, Aktionen sehr heutigen Charakters, Erinnerungen an TV-Talkrunden, den Boxring, aber auch an die heimische Küche oder politischer Demonstrationen sind ebenso möglich wie erwünscht. Das sind sozusagen Einzelaktionen, die 0,9 Stimmen ergeben… Man kann sie unmöglich als Einzelstimme im Sinne eines ernstzunehmenden Kontrapunktes bezeichnen. Eine kleine Pointe am Rande: 5 + 9 ergibt ja 14, das ist die Namenszahl von Bach. Egal, wie man es dreht und wendet: 5,9 oder 5 + 9 – Bach bleibt virtuell anwesend.

Der Chor lärmt auch auf Schlaginstrumenten?

Ja, alle sollen Alltagsgeräte, Rasseln, Töpfe, Pfeifen oder sonst was dabeihaben und ihre Aktionen damit unterstützen. Ich denke, dass damit ein 'profanes Moment' in das Stück hineinkommt, das teilweise aber auch Bezüge bspw. zu Strawinsky erlaubt. Strawinsky erzählt von einem St. Petersburger Juden, der – unter ihm wohnend – zum Sabbat immer sein Gebetszelt errichtete. Die dazu nötigen Schläge sind in der Psalmensinfonie vielerorts zu hören – auch ein Stück Alltag in der Musik… Wir werden ja überwuchert mit akustischen Signalen und Einflüssen, können sie selbst kaum ordnen und auseinanderhalten, also haben sie auf einfachste, dennoch strukturierte Weise ihren Weg in die Musik gefunden.

Wie ist die sonstige Besetg?

Neben den Aktionen oder Evokationen gibt es fünf ausgedehnte Entwicklungen ('Stimmen'), aufgeteilt auf drei Orchestergruppen, einen sechsstimmigen Chor, einen Kinderchor und einen Solo-Sopran. Der Chor bildet keine eigenständige 'Stimme', sondern mischt sich in verschiedene Stimmen ein, neben den 0,9 Aktionen ist das eine einstimmige Linie, die sich zunächst in Orchestergruppe B entfaltet, außerdem korrespondiert er mit der Orchestergruppe C, die ein akkordisches Material mit einem schwerlastenden Rhythmus der Großen Trommel kombiniert. Orchestergruppe A steuert einen bizarren, von Intervallen geprägten und insgesamt recht aufrührerischen Kontrapunkt bei, während der Kinderchor einen leuchtenden einstimmigen Gesang anstimmt. Die Sopranistin überwölbt mit ihrer Linie das gesamte Geschehen.

Woher stammen die Texte?

…aus der Bibel (Ausschnitte aus Psalm 148, einem typischen Lob- Psalm), von John Milton (aus Paradise lost in der Übersetzung des Leipziger Romantikers Adolf Böttger) und dem zeitgenössischen Autor Christoph Eisenhuth, von dem ich bereits mehrfach Texte vertont habe, u. a. einige seiner Psalmen sowie Jerusalem, uraufgeführt vom Kammerchor der Singakademie im Jahr 2014. Nötig war darüber hinaus ein düsterer Kontrast, den ich zunächst beim Dresdner Dichter Karl Mickel – einem glühenden Atheisten – zu finden geglaubt hatte:

"Ein Narr, der fragt. Ein Narr, der Antwort gibt. Was Wahrheit sei? Nach Wunsch und Wille je…"

Etwas in der Art sollte es sein. Der Text entzog sich aber der Musik zu sehr, also ging es ein paar Jahrhunderte zurück – die Rilke-Übersetzung von Michelangelos Antwort auf G. Strozzis La Notte ist es dann geworden. Sie zieht sich nun durch das gesamte Stück als dunkel gewobener Faden, der damit auch den Zweifel der Neuzeit am Lob Gottes aufnimmt. Christoph Eisenhuths Gedicht Der alte Bach dagegen bringt den eigentlichen Initiator der Komposition ins Spiel und schlägt gegen Ende beiläufig eine Lösung vieler Probleme vor:

"Wenn nur das Licht
Nicht mit Trompeten
Ums Haus schallte
Ich würd
In den Garten gehen zu dem Holunder
Und hören
Auf die sanfte Stimme Gottes"

Ein Wort zu den Tönen?

Die sind alle 'weißlich geordnet', wie es im Psalm 104 heißt. Die Initialzündung war ein einzelner Ton Cis, der sich mir mehrere Wochen ins Gedächtnis bohrte und nun in der Orchestergruppe B die einstimmige Linie eröffnet. Später kam eine bissige Intervallstruktur hinzu, die die einstimmige Linie durchkreuzen sollte. Zusätzlich gab es aber die Herausforderung, auf Bachs Vorlage zurückzugreifen oder eben nicht. Ich habe mich gegen das direkte Zitat entschieden (mit einer Ausnahme kurz vor Ende, wo in einem düsteren Paukenpart das 'königliche Thema' tatsächlich erklingt), verwende aber die Tonfolgen und Spiegelvarianten des Themas aus dem Musikalischen Opfer als Folie für zeitgenössische Varianten. Die Chromatik wird dabei auf verschiedene Oktaven gelegt und klanglich mit heutigen Mitteln aufgebrochen. Überlagert wird das Ganze von einer Quint-Quart-Struktur E-H-A-D, die vielfach transponiert und auf Bachs Töne projiziert wird. So entsteht bspw. der intervallische Kontrapunkt der Orchestergruppe A, während die Kinder an der untransponierten Version festhalten. Die einstimmige, bizarre Linie der Orchestergruppe B geht auf die Chromatik des zweiten Teils des Bach-Themas zurück, während die ersten fünf Töne – C-Es-G-As-H – sich wunderschön zu Akkorden mit ihren Spiegelbildern nutzen lassen, woraus die gesamte Michelangelo-Struktur gebildet ist. Ein dunkler Grundrhythmus, ein düsteres Pochen, bildet eine Art schreitenden Kondukt, der sich – mit einer Pause in Teil 4, die das Gleichmaß unterbricht – durch die Komposition zieht. Auch dieses Pochen ist rhythmisch aus Bachs Thema generiert. Es korrespondiert damit auch mit dem Gedanken einer Passacaglia, die ja in Bachs Denken immer wieder eine große Rolle gespielt hat, am ausgeprägtesten im Crucifixus der Messe in h-Moll bzw. der Kantate BWV 12 "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen" (die interessanterweise zum Sonntag Jubilate komponiert ist: Klage und Lob ganz dicht beieinander!). Völlig frei dagegen schwingt sich ausgerechnet die Solostimme auf, die ja mit Eisenhuths Text gewissermaßen Bachs eigene Stimme symbolisiert. Sie darf deshalb 'unstrukturiert' und völlig ohne Bezug zur sonstigen Matrix agieren. Auch sie entsprang einer klanglichen Vision, von der ich nicht sagen kann, woher sie auf einmal kam, ich musste sie nur einfangen und aufschreiben. Inspiration und Struktur durchdringen sich wechselseitig und häufig ist man nicht in der Lage zu sagen, auf welche Seite die Fassung auf dem Papier gehört…

Und ein Wort zur Form?

Das Stück hat fünf Teile und eine Coda. Jeder Teil ist mit 64 Takten gleich lang. Diese ergeben sich aus der 6-maligen Abfolge des aus dem Bach-Thema generierten 'Pochens'. Der Chor verteilt seine 'Aktionen' und sonstigen Einsätze nach einem Schema von 5, 11, 11, 5, 8, 1, 18, 4 Takten, das entspricht den Buchstabenzahlen meines Vornamens und ergibt in der Summe immerhin auch 63 – das kleine 'pythagoreische Komma' zwischen 63 und 64 drücken wir in den Skat… Man kann sich das Ganze als einen wuchernden Kanon mit implodierender Coda vorstellen.

Es soll keine Partitur geben?

Das ist richtig, in der Tat, das Stück entsteht erst im Moment der Aufführung endgültig. Es gibt einzelne Partituren für jede Gruppe bzw. die Sopranistin. Alle Dirigierenden leiten ihre eigene Gruppe, die Sopranistin agiert gewissermaßen eigenverantwortlich. Es gibt eine "Spiel"-Regel, nach der das Stück musiziert werden soll, die einen ungefähren Ablauf und vor allem einen Aufbau von einstimmig bis mehrstimmig garantiert. Ansonsten aber entscheiden die Dirigierenden – und damit die einzelnen Stimmen – selbst, wann was erklingt aus dem Fundus der zur Verfügung stehenden Module. Es wird so sein, dass das Stück bei jeder Aufführung eine andere Ausprägung erhält. Durch diese Anordnung kommt in die kompositorisch eigentlich recht strenge Struktur der Geist der Improvisation, des Suchens und Experimentierens zurück, der ja ein Ausgangspunkt des ricercare war.

Und was ist nun mit dem Lob Gottes anno 2016?

Gott loben heißt Suchen nach seiner Inspiration und seinen Strukturen – Bach, Strawinsky und Mendelssohn haben das hervorragend vermocht. Es kann nicht falsch sein, das auch 2016 zumindest zu versuchen, mit großer Offenheit, den Lärm und das Dunkel des Heute nicht ausblendend, improvisierend, vertrauend. Auf die sanfte Stimme Gottes hören und sie – ricercare – erforschen, das könnte ein Ansatz sein. Suchen, loben, explodieren, wuchern, implodieren liegen immer eng beieinander.

EK, 15.08.2016

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