Laudatio für Hans Christoph Rademann
Am heutigen Tag wurden die biennal zu vergebende Johann-Walter-Plakette des Sächsischen Musikrates verliehen, einerseits an den Geschäftsführer der Ostdeutschen Sparkassenstiftung, andererseits an den Chefdirigenten des RIAS-Kammerchores, den Künstlerischen Leiter der Bachakademie Stuttgart und Dresdner Professorenkollegen Hans Christoph Rademann - eine Laudatio.
Lieber Hans-Christoph,
sehr geehrter Herr Präsident Prof. Dr. Krummacher,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Fischer,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Bitte, eine Laudatio auf Hans-Christoph Rademann zu halten ist an sich schon Ehre genug. Dies an einem Ort zu tun, der als die Wiege der deutschen Musik bezeichnet werden kann beschwert das Vorhaben auf eine nicht unerheblich zu nennende Weise. Wenn es sich in unserem Fall auch noch um die Verleihung der Johann-Walter-Plakette an einen der bedeutendsten Chordirigenten, guten Freund und wundervollen Kollegen handelt und der Bogen damit auf eine Art und Weise gespannt wird, die nicht anders als mit Symbolik fast überladen bezeichnet werden muss, kann das dem bedauernswerten Redner durchaus weiche Knie verschaffen und ich hoffe inständig, dass dieses mir in den nächsten Minuten nicht widerfährt.
Um die erwähnte Symbolik durch Fakten zu untersetzen, darf ich auf die kürzlich erschienene Veröffentlichung neuer und ausführlicher biografischer Dokumente über Johann Walter verweisen, die Matthias Herrmann, Ludger Remy und Christa Maria Richter besorgt haben. In den Beschreibungen der Fassnachtfreuden und einer kurfürstlichen Doppelhochzeit anno 1554 heißt es:
"Montags vmb newen vhr fur mittag hat man die breuth vnnd breuthgam mit grossem gepreng auß denn furstlichenn zymmern in die schloß kirchenn gelaitet, doselbst ist abermals die cantorey mit denn instrumentistenn vorordent gewesenn, welche eine lieblich vnd kunstliche messe gesungenn vnnd denn gesang mit denn instrumenten prechtigk erhobenn…"
Die Kantorei wird im gleichen Dokument als "weytberuhmbt" bezeichnet, ihr Leiter war Johann Walter und das Spektakel fand also hier exakt an dieser Stelle statt, wo wir seit wenigen Monaten wieder das Schlingrippengewölbe bewundern und in dieser einmaligen Atmosphäre erstmals unter Schutz und Schirm des Ahnherrn die nach ihm benannte Plakette verleihen können. Die Jury hat entschieden, sie Hans Christoph Rademann zuzuerkennen und damit eine Wahl getroffen, die nicht nur hinsichtlich des Namenspatrons von tiefer Bedeutung ist, sondern auch den zweiten großen Namen, der hier musiziert und die Musik des 17. Jahrhunderts zur Blüte geführt hat, mitdenkt und einschließt: Ich spreche, wie unschwer zu erkennen ist, von Heinrich Schütz, dessen Gesamtwerk Hans Christoph Rademann sich angenommen hat und mit dem von ihm gegründeten Dresdner Kammerchor z. Zt. aufnimmt. Etliche maßstabsetzende CDs sind bereits erschienen und wir dürfen gespannt auf die Fortsetzung warten. Es wird damit ein Projekt hoffentlich endlich einmal zu Ende gebracht, das ähnlich schon unter Rudolf Mauersberger und Martin Flämig begonnen wurde – damals mit der Edition Eterna, jener legendären und international "weytberuhmbtenn" Schallplattenfirma der DDR, eines jener wenigen Relikte, denen es wirklich nachzutrauern lohnt, weil kundige Fachleute trotz aller Ideologie durchzusetzen wussten, dass Gesamtaufnahmen von Bach mit den beiden Leipziger und Dresdner Knabenchören, dass komplette Editionen aller Werke Mozarts, Beethovens, Bruckners oder Mahlers, ja sogar des gesamten Klavierwerks von Schönberg (mit keinem Geringeren als Pollini) auf Interesse und Abnehmer stoßen könnten. Vieles wurde nicht zu Ende geführt, gleich gar sind die aufführungspraktischen Erkenntnisse und Möglichkeiten heute auf einem unvergleichlich anderen Standard. Damals half der engagierte Hans Grüß im Rücken des kranken Mauersberger seiner Capella fidicinia, die sich das Terrain der historischen Instrumente gerade erst erarbeitet hatte, heute gehören Zinken und Barockposaunen, Gamben und historische Stimmung zum Natürlichsten in der Auseinandersetzung mit der Musik einer Zeit, deren Zentrum diese Kapelle war und die wiederzuerwecken eins der vornehmsten Ziele ist, denen sich Hans- Christoph Rademann verschrieben hat. Die alten Aufnahmen aus den späten 60-er und 70-er Jahren sind verdienstvoll zu nennen, ihr Zustandekommen jedoch war mit unendlichen Schwierigkeiten und teilweise auch falschen Voraussetzungen verbunden. Die nun von HCR mit dem Verlag Carus gemeinsam begonnene Arbeit knüpft erstmals an eine Art des Musizierens an, die uns ein Bild dieser Musik vermittelt, wie es in diesem Raum wirklich erklungen sein könnte, dies betrifft vor allem die Besetzungsstärke der Chöre, bei der sich das Klangbild erheblich unterscheidet. Das betrifft aber auch die Herangehensweise an die Frage der Tempi, der Artikulation und vieler anderer musikalischer Details.
Wo HCR am ehesten an die Kreuzkantoren anknüpft, das ist die Frage der geistlichen und geistigen Durchdringung der Stücke. Auch hier wird es andere Ergebnisse geben – die Art und Weise des Herangehens jedoch ist vergleichbar zu nennen und das hat viel mit Herkunft und Ausbildung zu tun.
Diese Beobachtung führt in die Zeit zurück, in der ich Hans Christoph kennenlernte und deshalb wahrscheinlich mit einigem Recht sagen kann, dass ich hier im Saale neben seiner Familie einer derjenigen mich nennen darf, der ihn am längsten kennt. Unserer ersten Begegnung vorausgegangen war die Prägung im elterlichen Haus in Schwarzenberg, wenngleich Hans-Christoph ebenso waschechter Dresdner wie Erzgebirger genannt werden kann: Die Entbindung fand durch einen Zufall im Dresdner Diakonissenkrankenhaus statt.
Singen und Musizieren – in seinem Fall zunächst Violine – prägten die Zeit der Kindheit und bereits dort soll es dazu gekommen sein, dass das väterliche Dirigat auch im Sohn ähnliche Ambitionen freigesetzt hat. Kein Wunder also, dass die Idee, in den Kreuzchor zu gehen, nicht dem Willen der Eltern entsprang, sondern dem kindlichen Hirn und Herzen nach einer 'Singefreizeit' mit Erich Schmidt, dem Leiter der Meißner Kantorei. Zwei Löbtauer Pastorenkinder schwärmten dem Knaben offenbar vor und Hans Christoph setzte seinen Willen durch. Die väterliche Gelassenheit des erzgebirgischen Kirchenmusikdirektors diesem Entschluss gegenüber scheint ebenso nachvollziehbar wie die mütterlichen Tränen, die wohl alle Kruzianermamas abwischen und unterdrücken mussten, erst recht, wenn im Requiem von Brahms diese besondere Beziehung auf eine Weise thematisiert – und übrigens mit einem mutmaßlichen motivischen Bezug zu Schütz versehen wird, das es eine Art hat und die Warnung erlaubt sein darf, dass trotz genügend Entfernung zum Wasser auch die Kreuzkirche vor gelegentlicher Überflutung nicht geschützt ist…
Meine eigene Mitgliedschaft im Kreuzchor reichte von 1968 bis 77, 1975 kam Hans Christoph hinzu. Als Chorpräfekt hatte ich die herrliche Aufgabe, mit den jeweils neu hinzugekommenen Viert- und Fünftklässlern zu proben, während Martin Flämig und sein trefflicher Assistent Ulrich Schicha nebenan die Gesamtproben bestritten. In Erinnerung ist mir ein schlanker, sehr sensibler Knabe, der durch keinerlei Unbotmäßigkeiten oder Extravaganzen auffiel und sich damit durchaus von anderen berühmten Kruzianern unterschied, denen der Fussball und die Renitenz einem 7 Jahre älteren Chorpräfekten gegenüber näher lagen als die Einstudierung eines zweiten Soprans der h-Moll-Messe. Der Jahrgang Rademann war ein sehr kreativer Jahrgang und bei allen erwähnten Konflikten war es eine Freude, diese Generation kennenzulernen. Einige von ihnen – und ich weiß nicht mehr, ob Hans Christoph dazu zählte – wachten sogar mitten im Winter, um die vom Leipziger "Ring" des Joachim Herz nächtens heimkehrenden Abiturienten Ekkehard Klemm und Martin Schüler (heute Intendant in Cottbus), das Internatsfenster zum heimlichen Einstieg offenzuhalten, unsere Zimmer befanden sich in der 2. Etage und die Nachtwächterin Ziller musste überlistet werden…
Das verbindet. Und es gibt weitere Parallelen unserer Entwicklung. Beide kamen wir in Kontakt mit dem Leiter des damaligen Beethovenchores, der heutigen Singakademie, Christian Hauschild, der uns förderte und unterstützte, beide arbeiteten wir dort als Assistenten. Innerhalb unseres Studiums gingen – vom zeitlichen Abstand abgesehen – die Wege mählich auseinander, meiner führte ins Orchesterdirigieren, Hans Christoph studierte zunächst Chordirigieren bei Hans Dieter Pflüger und erst später Orchesterdirigieren bei Siegfried Kurz. Die gemeinsame Klavierlehrerin Heidrun Richter rollt heute versonnen mit den Augen, wenn sie sich unser und unserer pianistischen Begabungen erinnert – sie hat uns dennoch auf einen Weg gebracht, der auch in diesem Detail der Ausbildung als einigermaßen erfolgreich bezeichnet werden kann. Einer eher hingeworfenen Bemerkung Rudolf Neuhaus', der einen tollen Blick hatte für wirkliche Begabungen und Talente, verdankt HCR Ermutigung und Selbstvertrauen.
In die Zeit des Studiums fällt 1985 das erste für die weitere künstlerische Biografie ganz wichtige Ereignis: Die Gründung des Dresdner Kammerchores. Mit dieser damals studentischen Truppe schuf sich HCR über die Jahre sein eigenes Instrument, das heute entweder mit ihm selbst oder als Partner bedeutendster Dirigenten und Orchester von Chailly oder Gardiner bis zu Norrington und Thielemann in aller Welt gefragt ist und damit ein Stück klingende sächsische Musikgeschichte in exzellentester Qualität nach draußen trägt. Nicht zuletzt ein Stück klingender Geschichte auch der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, der außer dem Dirigenten die meisten der Sängerinnen und Sänger entstammen und nicht nur in der Art ihrer Kunstausübung, sondern auch in der Art ihres Kunst- und Interpretationsverständnisses am Wettiner Platz oder vormals der Blochmannstraße geprägt worden sind. Nicht nur den Hauptfachlehrerinnen und –lehrern muss also an dieser Stelle ein Dank abgestattet werden, sondern auch all jenen, die wissenschaftlich und organisatorisch dieses Ensemble und seine Sängerinnen und Sänger unterstützt haben. Der Erfolg sollte uns allen, der Musikhochschule, der Landeshauptstadt Dresden und dem Freistaat Sachsen Verpflichtung sein, dieses wertvolle und gewachsene Instrument beständig zu pflegen und Sorge dafür zu tragen, dass es auch künftig als "weytberuhmbt" von Dresden aus unterwegs sein kann.
Nach seinem Studium übernahm HCR bald die Leitung der Singakademie Dresden von seinem Vorgänger Christian Hauschild, der nach Finnland zu Cantores minores ging. Eine Zeit des Umbruchs begann – und für den Chor auch eine Zeit der Neuorientierung und eines Aufbruchs. Die Aufnahme mit Max Bruchs Oratorium Die Glocke ist ein schöner Beweis für die damalige Leistungsfähigkeit und noch heute schwärmen die Chormitglieder von den Aufführungen der zehn Jahre, machten ihn zu ihrem Ehrenmitglied und beobachten heute mit Stolz den Weg über Hamburg, Berlin nach Stuttgart, einige meinen, ihn vorgezeichnet gesehen zu haben.
Sie berufen sich dabei auf einige Eigenschaften, die hier vor weiteren biografischen Details Erwähnung finden müssen. Neben der bereits benannten Sensibilität, die ich heute noch viel stärker wahrnehme als 1975 ist es ein Grundverständnis seiner künstlerischen Arbeit, das mir erstmals entgegentrat, als HC kurz vor der Premiere der Hochschulproduktion Titus von Mozart stand. Bei einem Probenbesuch traf ich auf einen in meiner Wahrnehmung – als relativ sturmerprobter Theaterkapellmeister – überaus nervösen Maestro, der mir gestand: "Ekkehard, ich kann damit auch scheitern!" Natürlich, dachte ich, HC packt immer gleich die ganz große Keule aus – ein misslungener Titus und die gesamte Karriere steht in Frage! Doch Vorsicht: Genau das tägliche Eingeständnis dieser Möglichkeit, die Sensibilität und Energie, das Kämpfen um die letzte Nuance, das sich aus solchem Verständnis unseres Berufes speist, ist einer der Lebensnerven dieses Künstlers und gleichermaßen das Geheimnis seines Erfolgs wie seiner Authentizität. Denn die Befürchtung des Scheiterns ist keinesfalls Attitüde oder gar Koketterie, nein, es ist die feste Überzeugung, dass Gelingen und Misslingen in der Kunst sehr nah beieinanderliegen, und vielleicht ist das Ergebnis gerade deshalb am Ende von so bestechender Qualität, Ernsthaftigkeit, Tiefe und emotionaler Überzeugungskraft – auch und gerade im Falle der erwähnten Hochschulinszenierung übrigens.
Eine zweite Grundeigenschaft und –befindlichkeit ist die der Neugierde. Zwar wird HCR momentan sehr oft noch als Spezialist alter Musik wahrgenommen und seine in der Fachwelt hochgelobten und mit bedeutenden internationalen Schallplattenpreisen gewürdigten Aufnahmen von Schütz, Hasse, Zelenka, Heinichen und anderen geben allen Grund zu dieser Einschätzung. Dennoch ist er hinsichtlich seines Repertoires anders 'sozialisiert' als die großen Vorbilder bspw. Herreweghe und Harnoncourt, mit denen er auch zusammenarbeitete, von denen er lernte, bei ihnen hospitierte und ihre Arbeitsweise verinnerlichte. Schaut man auf seine Zeit beim Chor des NDR in Hamburg – von 1999 bis 2004 – so finden sich neben dem bedeutenden Repertoire von Monteverdi über Bach bis hin zu Schumann, Mendelssohn, Brahms, Bruckner und Reger vor allem auch zeitgenössische Werke von Ligeti, Kagel, Schnittke, Dallapiccola, Gottwald, Schnittke, Kurtag und Pintscher. Damit vor allem gab er dem vorher cheflosen Rundfunkchor elbabwärts ein neues und prägnantes Gesicht.
Die Linie setzt sich in Berlin beim RIAS-Kammerchor seit 2007 nahtlos fort, wo HCR einerseits bedeutende Akzente in der alten Musik setzt und Preise gewinnt für seine Aufnahmen von Werken der Bach-Familie, andererseits aber sich ganz konsequent der Moderne zuwendet: Ernst Křenek, Karl Amadeus Hartmann, Hanns Eisler, Arnold Schönberg, György Ligeti, Torsten Rasch und ganz besonders Wolfgang Rihm. Zur CD mit Chorwerken Rihms schreibt das Fono-Forum: "Eine Wonne! Die Methode des RIAS Kammerchores unter seinem Dirigenten Hans-Christoph Rademann, alle Struktur in Wohlklang, Intellektualität in Schönsinn zu übersetzen, greift bei einem Komponisten wie Rihm keinen Millimeter zu kurz. Diese CD begeistert, eben weil sie so herrlich klingt. Ein rundherum gelungenes Geburtstagsgeschenk."
Aber es wäre viel zu kurz gegriffen, den zu Ehrenden auf seine eigenen Ensembles und seine festen Engagements zu reduzieren. Die große Ausstrahlung dieses sächsischen Musikers gewinnt gerade durch seine mittlerweile enorm gewachsene Gasttätigkeit an Bedeutung. Sie führte ihn zu den Ensembles des Bayerischen-, des Mitteldeutschen- und des Südwest-Rundfunks, des Rundfunkchors Berlin, des Collegium Vocale Gent, zur NDR Radiophilharmonie Hannover, Rotterdamer Philharmonie, zum Concerto Köln, Freiburger Barockorchester, der Akademie für Alte Musik Berlin, mit der ihn eine ständige Zusammenarbeit verbindet, in die großen Musikzentren Europas, Asiens und Amerikas und nach Israel.
Es müssen hier nicht alle Preise und Auszeichnungen aufgezählt werden, die überall nachzulesen und abrufbar sind. Nein, viel wichtiger scheint mir, noch etwas sehr Typisches hinzuzufügen. Es ist der Öffentlichkeit – und hier muss nun wirklich mindestens von der deutschen Öffentlichkeit gesprochen werden – durchaus nicht entgangen, dass der Wechsel von Helmuth Rilling zu HCR an der Spitze der Stuttgarter Bachakademie nicht geräusch- und konfliktlos vonstattenging. Wie auch, wenn eine Legende den Stab ab- und weitergibt und eine völlig neue und andere Generation mit eigenem Profil, mittlerweile sehr großer eigener Erfahrung und allergrößter Reputation neue Akzente setzt. Der Respekt vor dem großen Rilling prägt HCR jedoch ebenso wie der Wille, seinen eigenen Weg zu gehen. Die oben benannte Gefahr eines Scheiterns ist vielleicht nirgends so groß gewesen wie bei jenem Konzert des Stabwechsels in Stuttgart, wo zunächst Helmuth Rilling dirigierte und nach einigen Reden bedeutender Politiker, u.a. des Bundespräsidenten, HCR. Lieber Freund, das war auch so ein Moment der weichen Knie und ich meinte, die Deinen spüren zu können – wen ließe diese Situation ungerührt. Aber das Wunder geschah und Stuttgart nahm den neuen Chef jubelnd in Empfang, nachdem er sich eindrucksvoll vorgestellt hatte. Denn natürlich muss die Bachakademie weiter- und neu gedacht werden, was inzwischen mit zahlreichen neuen Initiativen und Ideen auch tatsächlich geschieht. Da finden verstärkt Begegnungen und Musikvermittlungsangebote mit einem jungen Publikum statt, es gibt interkulturelle und interreligiöse Akzente und der Nachwuchs steht einmal mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Während Helmuth Rilling nunmehr ein kommentiertes Mitsingekonzert beim von HCR gegründeten Musikfest Erzgebirge dirigiert – mit Mendelssohns Paulus – was für eine schöne Brücke und Geste beiderseits!
Dem Schwerpunkt der Pädagogik soll ein letzter Gedanke gewidmet sein, denn natürlich ist diese Tätigkeit und Ambition von HCR eine ganz besondere und steht seit seiner Berufung im Jahr 2000 als Professor für Chordirigieren an die Dresdner Musikhochschule nach wie vor viel mehr im Mittelpunkt, als das von außen gerade wahrnehmbar ist. Bereits jetzt gibt es jede Menge Rademann-Schüler, die wichtige Positionen errungen haben: Martin Lehmann leitet den Windsbacher Knabenchor, Andreas Pabst die Singakademie Chemnitz, Vinzenc Weissenburger den Kinderchor an der Staatsoper Berlin, Jörg Genslein den TASK. Christiane Büttig war zunächst Assistentin der Dresdner Singakademie und ist nun Chefin des Universitätschores, Peter Kubisch leitet den A-cappella- Chor Freiberg, Jan Altmann war Chordirektor in Görlitz und Innsbruck, Cornelius Volke ist es in Hof, Manuel Pujol hat kürzlich den ersten deutschen Chordirigentenpreis des Dirigentenforums des Deutschen Musikrates gewonnen und ist als Chordirektor und Kapellmeister in Görlitz engagiert; Olaf Katzer arbeitet an der HfM Dresden und feiert Erfolge mit seinem Ensemble Auditiv Vokal, das demnächst nach New York aufbricht, Jörn Hinnerk Andresen ging über Zwickau, Koblenz nach München und wird demnächst neuer Chordirektor an der Semperoper. Andere wie Tobias Mäthger sind als Sänger und dirigentisch in der freien Szene vielfältig aktiv und unterwegs.
Das erwähnte Dirigentenforum des Deutschen Musikrates ist in der Sparte Chor ganz maßgeblich von HCR geprägt, der gemeinsam mit Jörg Peter Weigle diese zweite Linie in die bereits bestehende Förderung der Orchesterdirigenten eingezogen hat. Mit dem RIAS-Kammerchor und auch in Stuttgart finden mannigfach Seminare für junge Dirigentinnen und Dirigenten statt.
Doch nicht nur das Dirigieren liegt HCR am Herzen. Ganz im Sinne Johann Walters und Heinrich Schützens sucht er ebenso nach Wegen, neue Musik zu fördern und zu befördern. Hierzu wurde eigens eine Chorwerkstatt in Hellerau ins Leben gerufen, die mittlerweile zum dritten Male stattfand und seit 2009 u.a. Werke von Helmut Lachenmann, Clytus Gottwald, Hans Joachim Hespos, Charlotte Seither, Alexander Keuk, Bernd Franke sowie internationalen Gästen vorstellte. Einbezogen waren Chöre aus der Ukraine, aus Taiwan und als Novität im Jahr 2014 auch ein Schulchor aus Dresden – der des Vitzthum-Gymnasiums, der sich in einem Ausscheid dafür qualifiziert hatte und die Chance erhielt, mit den Profis gemeinsam neue Musik zu erarbeiten. Schöner als mit solchen Initiativen, auch mit dem vehementen Einsatz für seine erzgebirgische Heimat, kann der Bogen zum Ausgangspunkt der Biografie HCRs kaum gespannt werden und es ist dies ein weiterer Beleg für seine Offenheit und Neugierde. Er weiß um die Notwendigkeit, die Musik als einen lebendigen Organismus zu betrachten, der weitergedacht und weitergetragen werden muss und setzt alles dafür ein, diese Überzeugung mit Konsequenz, mit Energie und Inspiration in die Tat zu setzen. Er gewinnt daraus eine spirituelle Kraft, die in den Worten Johann Walters über den "doppelten Endzweck aller Musik" mitschwingt, wenn er 1538 schreibt:
"Zwo Ursach hab ich itzt genannt, Warum die Music Gott gesandt./ Hieraus wird ieder merken wohl, wie man die Music brauchen soll:/
Aufs erst zu Gottes Lob und Ehr, Danach dem Leib zu Nutz und Lehr."
Die Fülle der erwähnten Initiativen, Schwerpunkte und Erfolge, die beschriebene Sensibilität, Neugierde, Aufgeschlossenheit und Vielfalt, nicht zuletzt aber die Tiefe und Qualität der Interpretationen lässt mich an dieser Stelle nun den weichen Knien nachgeben und eine Empfehlung des Dokuments von 1554 aufgreifen:
"Vnnd nach entpfangenem segenn ist man auß der kirchenn in herrlicher zucht widerumb zu tisch gesessenn, Do ist kösparlicher speyse vnd getranck gebothenn, auch vnter der maltzeit von der gedempfftenn musica vnnd instrumentistenn viell lustig kurtzweyll vnnd fröligkaith gemacht wordenn…"
Das sollten wir 470 Jahre nach Johann Walter auch tun – nicht, ohne vorher die Plakette seines Namens Hans Christoph Rademann überreicht und von Herzen gratuliert zu haben. Es ist eine phantastische, vor dem Hintergrund alles Gesagten und vieles Weggelassenen außerordentlich sinnige und würdige Wahl. Sie fällt auf einen der führenden sächsischen Musiker, dessen noch nicht einmal fünfzigjährige Stimme in der internationalen Musikwelt sich eindrucksvoll Gehör verschafft hat und davon erzählt, welch wichtige Impulse auch im fünften Jahrhundert nach seinem Entstehen noch immer und gerade wieder von diesem Ort, in dem wir uns befinden, und der Musik, die mit ihm originär verbunden ist, ausgehen, und wie sie in unsere Zeit hinein weitergedacht werden können. Die seit Johann Walter und Heinrich Schütz gültige Pyramide der Breite der musikalischen Bildung und Ausbildung und der Balance zwischen diesem Humus der sächsischen Musizierenden auf allen Ebenen und ihrer weltberühmten Spitze – sie wird von kaum einem anderen besser verkörpert und mit Leben gefüllt als von Hans Christoph Rademann.
Herzlichen Glückwunsch beiden – dem Spender wie dem Empfänger!
klemmdirigiert - 2014-09-28 22:48
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