Eröffnung des neuen Semesters der Dresdner Seniorenakademie
Zum Beginn des neuen Semesters der Dresdner Seniorenakademie für Wissenschaft und Kunst fand am Montag dieser Woche die Eröffnungsveranstaltung statt. Den Festvortrag hielt Prof. Dr. Müller-Steinhagen, Rektor der TU Dresden seit Herbst 2010 (Thema: Desertec - Strom aus der Wüste). Mir als neuer Rektor der HfM kam die ehrenvolle Aufgabe zu, die Veranstaltung zu eröffnen - ich tat es mit den folgenden Worten:
Meine Damen und Herren, unser Leben steht auf schwankendem Grund.
Zu kaum einer anderen Zeit seit 1945 ist uns das deutlicher geworden als am Beginn des 21. Jahrhunderts. Durch Menschenhand einstürzende Türme, die für eine Ewigkeit gebaut waren und dem Terrorwahnsinn nicht standhielten, vernichtende Kräfte der Erde und des Wassers, viel subtiler aber noch die Selbstverständlichkeiten einer Welt des Fortschritts, des Vertrauens auf die Sicherheit der Technik – es sei jene der Atomkraft, eines A 380 oder ICE – alles scheint auf dem schwankenden Grund vermeintlicher Gewissheiten gebaut, die in der letzten Zeit gehörig erschüttert wurden. Nicht wenige Wissenschaftler und Philosophen haben auf die Tatsache verwiesen, dass all diese ‚Unsicherheiten‘ seit der Formulierung von Murphys Gesetzt längst bekannt waren: alles, was schiefgehen kann, geht auch schief, man muss nur lange genug warten. Ein Leser des Spiegel formulierte scharfsinnig: „Majak, Sellafield, Harrisburg, Tschernobyl, Forsmark, Fukushima. Nach mathematischen Berechnungen von Atomexperten kann ein ernst zu nehmender Unfall höchstens alle 100 000 Jahre geschehen … Da sieht man mal, wie schnell die Zeit vergeht.“
Unser Leben steht auf schwankendem Grund. Wie können wir ihn fester machen?
Bei den Überlegungen zu diesen Begrüßungsworten zum neuen Semester der Dresdner Seniorenakademie musste ich immer wieder an einen sehr entfernten Verwandten denken, über dessen Geschichte im Familienkreise bisweilen erzählt wurde. In den verhängnisvollen 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es an nicht wenigen Orten auch in der sächsischen Region eine Spaltung innerhalb der evangelischen Kirche. Im sogenannten Kirchenkampf stellten sich die Vertreter der „Bekennenden Kirche“ gegen den Alleinvertretungsanspruch der „Deutschen Christen“. Ein junger, sehr beliebter Vikar in einem Ort im Erzgebirge hielt Gottesdienste daraufhin im Wald. Der aufrechte junge Mann war einer, der Zeit seines Lebens auf dem Weg war. Die Wirren der Jahre führten ihn danach ins Fränkische, später in die Schweiz, wo er wegen einer Erkrankung der Lunge lange Zeit in einem Hochgebirgsort seinen Dienst tat. Nach seiner Pensionierung schrieb er sich ein als Student der Universität Bern, um seinen theologischen Doktor zu machen. Es wird erzählt, dass in einem Studentenwohnheim ein gewisses Erstaunen registriert wurde, als zwischen den vielen Namensschildern auf den Türen eines zu sehen war mit der Aufschrift: „Willy B., Pfarrer i.R.“. Leider endet die Geschichte beinahe tragisch, denn in seinem Aufbruchsgeist schreckte der Pensionär und angehende Promovend vor nichts zurück, wollte trampen und erlitt einen schweren Unfall, bei dem er ein Bein verlor. Am Wegesrand laufend wurde er angefahren.
Beinahe hatte ich die Geschichte vergessen, als ich neulich in ganz anderem Zusammenhang erfuhr, dass es noch heute im erzgebirgischen Ort Leute geben soll, die stolz darauf sind, von ihm, und nicht vom Vertreter der Deutschen Christen konfirmiert worden zu sein. Eine im doppelten Wortsinn bewegende Geschichte.
Meine Damen und Herren – die Gedanken und Diskurse von Wissenschaft, Kunst und Musik, von Geschichte, Philosophie und Geistesleben bewegen uns, weil sie keine Halbwertszeiten haben. Die Töne, die in den Veranstaltungen des neuen Semesters erklingen, über die Sie Vorlesungen, Einführungen hören oder zu denen Sie Matineen besuchen können, sind ewig im Gedächtnis des Universums verankert. Und selbst, wenn die Stimme Edda Mosers, die in einer Raumkapsel inzwischen das Sonnensystem verlassen haben soll, von keiner außerirdischen Zivilisation je wahrgenommen werden sollte: die zugrunde liegenden Noten der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte können nicht mehr aus der Welt radiert werden. Es sind Schöpfungen, Gedanken, Strukturen und Gewissheiten auf festem Grund. Keine Sonate von Telemann, keine Fuge von Bach, keine der Opern Mozarts muss den Weg der zerfallenden Jodpartikel von der japanischen Küste gehen, die um den Erdball fliegen, auf dem Berg „Schauinsland“ bei Freiburg gemessen, um anschließend vielleicht beim morgendlichen Eiskratzen von einer deutschen Windschutzscheibe entfernt zu werden. Ebenso wenig bedürfen sie der Verdünnung durch den pazifischen Ozean. Und auch die mathematisch generierten Kompositionen des Griechen Iannis Xenakis oder die dem kabbalistisch-mystischen Gedankengut folgenden des Portugiesen Emmanuel Nuñes werden Drachme, Euro und europäische Staatsverschuldungen überstehen. Vielleicht bringt uns die merkwürdig anmutende Vorstellung, dass dereinst auch die Dresdner Waldschlösschenbrücke nebst ehemaligem Weltkulturerbe im Roten Riesen Sonne verglühen werden zur Erkenntnis, dass so manche Million und Milliarde zum Schutz unseres Welterbes des Geistes, mithin also in unseren Universitäten, Hochschulen, Theatern und Orchestern keinesfalls schlecht angelegt ist und viele davon eines bisher nur für sterbende Banken vorgesehenen ‚Rettungsschirms‘ dringend bedürfen?
Das neue Semester der Dresdner Seniorenakademie, die sich in ihrem 17. Jahrgang befindet (und damit allmählich mit den Planungen zu einem kleinen Jubiläum beginnen kann und sollte) bietet all diese wundervollen und großartigen Leistungen, mit denen sich die großen Wissenschaftler und Künstler unseres schwankend rotierenden Planeten in seinen festen Geistesgrund eingeschrieben haben, in unübersehbarer Fülle vor Ihnen aus.
Sie selbst sind gekommen und haben sich ihrerseits ‚eingeschrieben‘, um in den Veranstaltungen und Angeboten den Diskurs zu suchen, fortzusetzen und immer wieder neu zu entfachen – wahrscheinlich das beste Mittel, um den unsicheren Grund fester zu machen. Sie wollen auf dem Weg bleiben. Ich kann Ihnen zu Ihrer Entscheidung und Immatrikulation nur auf das Herzlichste gratulieren, wünsche Ihnen Erkenntnisse, Anregungen, aufregende Erfahrungen und – als Rektor einer Musikhochschule – natürlich auch künstlerisch inspirierende Erlebnisse. Der Boden, auf dem solches wächst, wird auch nach diesem Semester schwankend bleiben, die Gewissheiten instabil. Aber mit Ihrer Einschreibung immatrikulieren Sie sich in ein größeres, universelles Gedankengut. Ihre Ideen, Diskussionsbeiträge und Fragestellungen bleiben ebenso gespeichert und erhalten wie Töne, Wissen, Geschichte und Geschichten. Mit Fug und Recht dürfen Sie Ihr Türschild auswechseln und statt „in Ruhe“ hinfort schreiben: „in Bewegung“.
Herzlich willkommen zum neuen Semester und Alles Gute für Ihr Studium!
Meine Damen und Herren, unser Leben steht auf schwankendem Grund.
Zu kaum einer anderen Zeit seit 1945 ist uns das deutlicher geworden als am Beginn des 21. Jahrhunderts. Durch Menschenhand einstürzende Türme, die für eine Ewigkeit gebaut waren und dem Terrorwahnsinn nicht standhielten, vernichtende Kräfte der Erde und des Wassers, viel subtiler aber noch die Selbstverständlichkeiten einer Welt des Fortschritts, des Vertrauens auf die Sicherheit der Technik – es sei jene der Atomkraft, eines A 380 oder ICE – alles scheint auf dem schwankenden Grund vermeintlicher Gewissheiten gebaut, die in der letzten Zeit gehörig erschüttert wurden. Nicht wenige Wissenschaftler und Philosophen haben auf die Tatsache verwiesen, dass all diese ‚Unsicherheiten‘ seit der Formulierung von Murphys Gesetzt längst bekannt waren: alles, was schiefgehen kann, geht auch schief, man muss nur lange genug warten. Ein Leser des Spiegel formulierte scharfsinnig: „Majak, Sellafield, Harrisburg, Tschernobyl, Forsmark, Fukushima. Nach mathematischen Berechnungen von Atomexperten kann ein ernst zu nehmender Unfall höchstens alle 100 000 Jahre geschehen … Da sieht man mal, wie schnell die Zeit vergeht.“
Unser Leben steht auf schwankendem Grund. Wie können wir ihn fester machen?
Bei den Überlegungen zu diesen Begrüßungsworten zum neuen Semester der Dresdner Seniorenakademie musste ich immer wieder an einen sehr entfernten Verwandten denken, über dessen Geschichte im Familienkreise bisweilen erzählt wurde. In den verhängnisvollen 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es an nicht wenigen Orten auch in der sächsischen Region eine Spaltung innerhalb der evangelischen Kirche. Im sogenannten Kirchenkampf stellten sich die Vertreter der „Bekennenden Kirche“ gegen den Alleinvertretungsanspruch der „Deutschen Christen“. Ein junger, sehr beliebter Vikar in einem Ort im Erzgebirge hielt Gottesdienste daraufhin im Wald. Der aufrechte junge Mann war einer, der Zeit seines Lebens auf dem Weg war. Die Wirren der Jahre führten ihn danach ins Fränkische, später in die Schweiz, wo er wegen einer Erkrankung der Lunge lange Zeit in einem Hochgebirgsort seinen Dienst tat. Nach seiner Pensionierung schrieb er sich ein als Student der Universität Bern, um seinen theologischen Doktor zu machen. Es wird erzählt, dass in einem Studentenwohnheim ein gewisses Erstaunen registriert wurde, als zwischen den vielen Namensschildern auf den Türen eines zu sehen war mit der Aufschrift: „Willy B., Pfarrer i.R.“. Leider endet die Geschichte beinahe tragisch, denn in seinem Aufbruchsgeist schreckte der Pensionär und angehende Promovend vor nichts zurück, wollte trampen und erlitt einen schweren Unfall, bei dem er ein Bein verlor. Am Wegesrand laufend wurde er angefahren.
Beinahe hatte ich die Geschichte vergessen, als ich neulich in ganz anderem Zusammenhang erfuhr, dass es noch heute im erzgebirgischen Ort Leute geben soll, die stolz darauf sind, von ihm, und nicht vom Vertreter der Deutschen Christen konfirmiert worden zu sein. Eine im doppelten Wortsinn bewegende Geschichte.
Meine Damen und Herren – die Gedanken und Diskurse von Wissenschaft, Kunst und Musik, von Geschichte, Philosophie und Geistesleben bewegen uns, weil sie keine Halbwertszeiten haben. Die Töne, die in den Veranstaltungen des neuen Semesters erklingen, über die Sie Vorlesungen, Einführungen hören oder zu denen Sie Matineen besuchen können, sind ewig im Gedächtnis des Universums verankert. Und selbst, wenn die Stimme Edda Mosers, die in einer Raumkapsel inzwischen das Sonnensystem verlassen haben soll, von keiner außerirdischen Zivilisation je wahrgenommen werden sollte: die zugrunde liegenden Noten der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte können nicht mehr aus der Welt radiert werden. Es sind Schöpfungen, Gedanken, Strukturen und Gewissheiten auf festem Grund. Keine Sonate von Telemann, keine Fuge von Bach, keine der Opern Mozarts muss den Weg der zerfallenden Jodpartikel von der japanischen Küste gehen, die um den Erdball fliegen, auf dem Berg „Schauinsland“ bei Freiburg gemessen, um anschließend vielleicht beim morgendlichen Eiskratzen von einer deutschen Windschutzscheibe entfernt zu werden. Ebenso wenig bedürfen sie der Verdünnung durch den pazifischen Ozean. Und auch die mathematisch generierten Kompositionen des Griechen Iannis Xenakis oder die dem kabbalistisch-mystischen Gedankengut folgenden des Portugiesen Emmanuel Nuñes werden Drachme, Euro und europäische Staatsverschuldungen überstehen. Vielleicht bringt uns die merkwürdig anmutende Vorstellung, dass dereinst auch die Dresdner Waldschlösschenbrücke nebst ehemaligem Weltkulturerbe im Roten Riesen Sonne verglühen werden zur Erkenntnis, dass so manche Million und Milliarde zum Schutz unseres Welterbes des Geistes, mithin also in unseren Universitäten, Hochschulen, Theatern und Orchestern keinesfalls schlecht angelegt ist und viele davon eines bisher nur für sterbende Banken vorgesehenen ‚Rettungsschirms‘ dringend bedürfen?
Das neue Semester der Dresdner Seniorenakademie, die sich in ihrem 17. Jahrgang befindet (und damit allmählich mit den Planungen zu einem kleinen Jubiläum beginnen kann und sollte) bietet all diese wundervollen und großartigen Leistungen, mit denen sich die großen Wissenschaftler und Künstler unseres schwankend rotierenden Planeten in seinen festen Geistesgrund eingeschrieben haben, in unübersehbarer Fülle vor Ihnen aus.
Sie selbst sind gekommen und haben sich ihrerseits ‚eingeschrieben‘, um in den Veranstaltungen und Angeboten den Diskurs zu suchen, fortzusetzen und immer wieder neu zu entfachen – wahrscheinlich das beste Mittel, um den unsicheren Grund fester zu machen. Sie wollen auf dem Weg bleiben. Ich kann Ihnen zu Ihrer Entscheidung und Immatrikulation nur auf das Herzlichste gratulieren, wünsche Ihnen Erkenntnisse, Anregungen, aufregende Erfahrungen und – als Rektor einer Musikhochschule – natürlich auch künstlerisch inspirierende Erlebnisse. Der Boden, auf dem solches wächst, wird auch nach diesem Semester schwankend bleiben, die Gewissheiten instabil. Aber mit Ihrer Einschreibung immatrikulieren Sie sich in ein größeres, universelles Gedankengut. Ihre Ideen, Diskussionsbeiträge und Fragestellungen bleiben ebenso gespeichert und erhalten wie Töne, Wissen, Geschichte und Geschichten. Mit Fug und Recht dürfen Sie Ihr Türschild auswechseln und statt „in Ruhe“ hinfort schreiben: „in Bewegung“.
Herzlich willkommen zum neuen Semester und Alles Gute für Ihr Studium!
klemmdirigiert - 2011-04-15 00:06
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