18
Sep
2011

Rhythmik 100 Hellerau

Hellerau1

Zur Eröffnung der 11. Rhythmikwerkstatt in Hellerau, die aus Anlass des 100. Jubiläums dieses besonderen Ortes und seiner Gründungsidee u.a. durch Emile Jaques-Dalcroze stattfand, konnte ich das Publikum aus aller Welt begrüßen. Zwei Uraufführungen von Dieter Schnebel und dem mittlerweile Dresdner Kompositionsprofessor Manos Tsangaris folgten am Donnerstag Nachmittag:

Sehr geehrte Frau Martine Jaques-Dalcroze,
verehrte, liebe Gäste,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

es liegt mir nichts ferner, als mit einem der gefürchteten Grußworte diese Veranstaltung zu beschweren – Grußworte, auf deren Ende die geneigte Zuhörerschaft in der Regel sehnlichst wartet.

Nein, als Dirigent war es mir ein Anliegen, bei dieser Gelegenheit nochmal grundsätzlich zu klären – Rhythmus: was ist das?
Viele von Ihnen kennen ja sicher die berühmte Orchesterprobe von Karl Valentin und Lisl Karlstadt; dort gibt es den Moment, wo der „Herr Kapellmeister“ einen Marsch auflegt und verlangt:

„Man muss halt einen gewissen Ding hineinbringen, einen… - na wie heißt er denn gleich…“
„Ich weiß nicht, wem Sie meinen?“
„Einen … einen Rhythmus!“
„Wie heißt der?“
„Rhythmus! Aber der fehlt Euch ja!“
„Der fehlt auch? Den kenn ich gar net. Sein Bruder‘n, glaub ich, kenn ich.“
„So ist’s recht, der kennt an Rhythmus sein Bruder’n. Ja wie schaut’n der denn aus?“
„Ja, so a kleiner langer mit a‘m dunkelweißen Bart.“
„Der Rhythmus!?“
„Nein – Reißberger heißt der, den wo ich mein‘. Jetzt fallt’s mir ein.“
„Nicht einmal die einfachsten musikalischen Ausdrücke wissen Sie!“

In diese Art von Verzweiflung müssen wir keinesfalls einstimmen, meinte ich! Es gibt ja das segensreiche Internet, was mich nochmals grundständig über den Rhythmus aufklären kann.

Das Ergebnis ist einigermaßen ernüchternd. Das weltumspannende, sonst ebenso allwissende wie geschwätzige, gleichwohl oft auch detailliert berichtende Wikipedia schweigt bei dem Wort Rhythmus zwar nicht vollständig, hält sich aber sehr vornehm zurück. Es berichtet uns zunächst nicht viel mehr als das Folgende:

"Rhythmus (von altgriech.: ῥυθμός rhythmós, mit latinisierender Endung -us, die indogerman.: Etymologie ist unklar) steht für:
Rhythmus (Musik), die durch die Folge unterschiedlicher Notenwerte entstehenden Akzentmuster über dem Grundpuls"

„Ah ja“, können wir da mit dem großen Loriot sagen, vor dem wir uns mit der Zeitschrift SPIEGEL vom Montag in der Hand verneigen – er war übrigens ein begnadeter Rhythmiker. Mal abgesehen vom ‚Timing‘ seiner Sketche: seine ganze Operninszenierung MARTHA, die ich mit ihm 8 Wochen lang im disziplinierten Rhythmus von 4 Stunden morgens und 3 Stunden abends erarbeiten und am Ende mit einem präzis schaukelnden Chor und gleichmäßig auf dem berühmten Sofa hüpfenden und Koloraturen trällernden Sängerinnen zur Premiere bringen durfte, war ein Fest des Rhythmischen. Das hätte sicher auch Emile Jaques-Dalcroze zu Tränen gerührt.

Zurück zur kleinen Recherche: wenn wir weiter unter dem Stichwort „Rhythmus (Musik)“ googeln, erhalten wir immerhin folgenden Text:

„Die Definition des Rhythmus als Dauernfolge stammt von Aristoxenos, der als erster eine Theorie des Rhythmus schrieb. Er beschränkte die Dauer nicht auf die Tondauer, sondern bezog auch die Sprachebene im Gesang und die Körperbewegung im Tanz mit ein, die in der Musik oft vereinigt sind.“

Aristoxenos also – das war immerhin zwischen 360 und 300 vor unserer Zeit und würde auch erklären, warum eine der umfänglichsten und besten rhythmischen Darstellungen in Igor Markevitchs Kommentar zur Eroica von Beethoven zu finden ist. Sie stellt minutiös alle griechischen Grundmuster von Anapäst und Antispast über Choriambus bis zu den einfachen und hinkenden Iamben und Trochäen zusammen – da kann Wikipedia nicht mithalten. Sorry.

„Im Anfang war der Rhythmus“ – das sagte auch mein verehrter Dirigierlehrer und damalige GMD der Dresdner Staatsoper Siegfried Kurz und sicher hatte er Recht. Die Konsequenz dieser Überzeugung bekamen gelegentlich Sängerinnen oder Sänger zu spüren, wenn sie in der Pause ins Zimmer des ‚Generals‘ zitiert oder – im Falle bspw. tschechischer Nationalität – gefragt wurden, ob denn hinter „Herrnsgrätschen“ (gemeint ist das kleine tschechische Grenzdorf Hřensko kurz hinter Bad Schandau) der Rhythmus aufhöre…
Nein – dort fängt er eigentlich erst an, möchten wir, an Smetana, Dvořák oder Janáček denkend, rufen und weiter süd-westlich nach Genf blicken, von wo vor 100 Jahren der Rhythmus nach Dresden kam – oder besser: die Rhythmik.

Hier schweigt das Online-Lexikon übrigens noch viel beharrlicher und lässt sich zunächst gar nicht in die Karten schauen:

"Das Wort Rhythmik besitzt aus musikwissenschaftlicher und musikpädagogischer Sicht zwei Bedeutungen:
• die musikwissenschaftliche Lehre vom Rhythmus, siehe Rhythmus (Musik)
• Kurzbezeichnung für Rhythmisch-musikalische Erziehung oder Rhythmische Erziehung"

Beim Stichwort „Rhythmische Erziehung“ werden wir allerdings fündig und bekommen eine genauere Beschreibung dessen, worum es den Gründern ging:

"Im 'Raum' wird der Sinn für die 'plastische Bewegung' entwickelt, durch die Regelung der Zeit erhebt sich der Sinn für den musikalischen 'Rhythmus'. Musik war für Jaques-Dalcroze deshalb unentbehrlich, weil sie einerseits eine wirklich genaue Einteilung der Zeit ermöglichen und andererseits unmittelbar in das menschliche Nervenzentrum eindringen kann, um Befehle ebenfalls unmittelbar durch und für den eigenen, sich bewegenden, Körper auszuführen."

Aufgetaucht aus dieser kleinen Tiefenbohrung in die Ideen von 1911 stellen wir erleichtert fest – nach 100 Jahren Rhythmus und Rhythmik in Dresden sind sogar die Bauarbeiten in Hellerau deutlich vorangekommen (waren sie eigentlich jemals abgeschlossen…?) Und statt mit Glucks Orpheus alte Töne anzuschlagen, haben sich Dieter Schnebel und Manos Tsangaris ganz neue Rhythmen, Töne, Bewegungen, auch Stille und überhaupt Ideen ausgedacht; Annette Jahns, Christian Kesten, Lennart Dohms und das im doppelten Wortsinne ausgezeichnete Ensemble El perro andaluz bilden dazu ganz sicher eine rhythmische Basis, bei der wir nicht nach „dem Rhythmus sei’n Bruder’n“ fragen müssen.

Wenn wir denn die Brüder und Schwestern noch bedenken, die der internationalen Dresdner Werkstatt zur Seite stehen und standen, so darf ich an dieser Stelle allen Mitstreitern, Veranstaltungspartnern, Sponsoren, allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern von „Rhythmik 100 Hellerau“ ganz herzlich danken! Danke, dass Sie aus der ganzen Welt hierhergekommen sind, aus Europa, Amerika und Asien … Dank an Dieter Jaenicke und sein Team hier im Haus, Dank an die vorbereitenden und mitwirkenden Mistreiter der Musikhochschule, stellvertretend und neben den bereits Genannten Wolfgang Lessing und Stefan Gies, mein Vorgänger im Amt des Rektors!

Ganz besonderer Dank aber geht an Christine Straumer, die auch in weniger inspirierter Zeit die Fahne der Rhythmik, der elementaren Musikpädagogik und musikalischen Früherziehung in Dresden hochgehalten und weitergetragen hat.

Herzlich willkommen Ihnen allen, willkommen im Dresdner „Vivarium“ – vielleicht finden Sie den „Rhythmus sei’n Bruder’n“ ja beim Kochen, beim Reisen oder im Zoo, bei „Sprechende Körper. Körper-Sprache“ oder am Sonntag bei „Ein Stern für jedes Kind“. Ganz sicher werden Sie einen gemeinsamen und Ihren eigenen Rhythmus finden! Auch und ganz gewiss nach 100 Jahren und zur 11. Rhythmikwerkstatt hier in Hellerau.

Lassen Sie sich überraschen!

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