Romanzen und Balladen – der Dresdner Schumann und seine Zeit
(ein Nachtrag zum gerade zu Ende gegangenen Elbhangfest in Dresden, das die Singakademie mit einem Konzert mit Romanzen und Balladen eröffnet hat; Motto des Festes: "Der Elbhang träumt")
Vorab: die Singakademie Dresden ist nicht der direkte Nachfolger des von Robert Schumann 1847 gegründeten "Verein(s) für Chorgesang" (später "Robert Schumannsche Singakademie"), auch steht sie nicht in direkter Linie zur "Dreyssigschen Singakademie". Dennoch führen naturgemäß viele Bezüge zu diesen ersten bürgerlichen Gesangvereinen in Dresden. Die 1884 erfolgte Gründung des Lehrergesangvereins (zunächst als Männerchor, unter Fritz Busch dann ab 1927 mit Frauenchor) weist indessen sowohl personelle als vor allem ideelle Verbindungen auf. Die von Schumann selbst beklagte Unterentwicklung des bürgerlichen Musiklebens in Dresden schlägt sich auch in der gegenüber anderen Städten späteren Gründung entsprechender Vereine nieder.
Vor diesem Hintergrund können die Dresdner Bemühungen Schumanns um die Belebung des Chorgesanges nicht hoch genug gewürdigt werden! Er geht bei den Anforderungen seiner Werke auch deutlich über das etwa von Zelter oder auch Mendelssohn geforderte Maß an Schwierigkeit hinaus. Keine der Motetten Mendelssohns oder der Kompositionen Zelters verlangen harmonisch oder strukturell das, was Schumann bspw. in den Chören op. 141 oder dem 8-stimmigen Finale der "Faust-Szenen" seinen Sängern 'zumutet'. Möglicherweise erklären sich Ungeduld oder Resignation des Chorleiters Schumann auch von dieser Seite her?
Die gewaltige Entfaltung des Chorlebens in Dresden in den letzten Jahrzehnten hat uns u.a. eine große Zahl von Kammerchorgründungen gebracht, in denen auf professioneller oder zumindest semiprofessioneller Basis gearbeitet wird (incl. der dafür nötigen Bezahlung). Es war das Bedürfnis der Singakademie und mir selbst, zu prüfen, inwieweit die äußerst anspruchsvolle Literatur tatsächlich von Laien bewältigt werden kann. Ich denke: Sie kann. Aber der Anspruch ist 2010 nicht niedriger als 1848 oder 49. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass von den 4 Chören op. 141 Schumann wahrscheinlich nur einen einzigen (den ersten) mit seinem eigenen Verein probierte (wie Thomas Synofzik in der gerade erschienenen Publikation der "Dresdner Hefte 102" auf S. 71 feststellt). Die doppelchörigen Gesänge sind darüber hinaus lt. Titelblatt "für größere Gesangsvereine" gedacht. Sie leben vom breit entfalteten Chorklang, den wiederzugeben wir uns bemüht haben. Sicher ist: Auch heute sind diese Werke für einen Laienchor Grenzerfahrungen und Herausforderungen ganz besonderer Art.
Schumann selbst und seine Frau Clara waren sich klar darüber, dass das Genre der Balladen und Chöre aus Roberts Feder Neuland sind. Über die Balladen op. 67 schreibt er an den Verleger, er habe "mit wahrer Passion eine Sammlung Balladen für Chor zu schreiben angefangen; etwas, was, wie ich glaube, noch nicht existiert". Hinsichtlich der Chöre op. 141 ist vom "bis jetzt unbebauten Terrain" die Rede. In seinem Buch "Schumann und seine Zeit" schreibt Arnfried Edler (S. 226):
"Seitdem insbesondere Herder im 18. Jahrundert die Volkspoesie als eine Hauptquelle der Literatur wiederentdeckt hatte, war die Ballade als Inbegriff des Ausdrucks des Volksgeistes ins allgemeine Bewusstsein eingegangen und in diesem Sinn auch in die Kunstdichtung übernommen worden. … Goethes Auffassung von der Ballade als einem 'lebendigen Urei' der Poetik (1821) ist für diese Einschätzung ebenso bedeutungsvoll wie die ein Jahr später erschienene Sammlung Balladen und Romanzen des polnischen Adam Mickiewicz. Von daher lag es nahe, die Ballade zu einer zentralen Gattung des bürgerlich-liberalen Gesangswesens werden zu lassen, nachdem sie in den Sologesängen Carl Loewes bereits Einzug in die bürgerliche Hausmusik gehalten hatte. Mit dem Chorverein, den er in Dresden leitete, begann Schumann deshalb mit der Erprobung dieses neuen Genres."
Und Peter Gülke ergänzt in seinem soeben erschienenen Band "Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik" (S. 184/185)
"Auch die Vokalkompositionen seit den späten vierziger Jahren signalisieren einen Neuanfang, zumindest Neuorientierung. Bei Chören spielt die Konstellation, in der gesungen wird, in besonderem Maße mit, bis hin zu Interessenlagen und Klima der Gemeinschaft, in der sich das Komponierte bewähren muss. Hier am ehesten ist Schumann vormärzlich …"
"Angesichts eigener kommunikativer Schwierigkeiten mag Schumann das Auf-du-und-du im Umgang, Singen und Arbeiten mit Chören als Therapie empfunden haben … Ohne die Aspekte der Gebräuchlichkeit zu vernachlässigen, exzelliert er, nicht anders als bei vielen Liedern, in melodischen, metrischen, harmonischen, deklamatorischen, polyphonen Subtilitäten und fordert den Singenden, …, ein Äußerstes ab. Wenn irgendwo Chorkomposition damals avantgardistisch war, dann hier."
Die Balladen und Romanzen op. 67 sind "kleine Mini-Dramen" (Th. Synofzik, Schumann-Handbuch, S. 470). Auffallend ist der einheitliche Ausgangspunkt: Wir vermeinen, schlichte Volksweisen zu hören – und werden ganz elegant auf's Glatteis geführt, denn jedem Stück gewinnt Schumann einen ganz besonderen Klang und Effekt ab. Im "König von Thule" läuft eine Tenorstimme mit dem Sopran parallel und erweitert den Satz zur Fünfstimmigkeit; große dynamische Bandbreite mit fortepiano-Effekten prägt "Schön-Rohtraut", ein wunderbar ironisch gefasster Satz; geradezu lakonisch kommt Goethes "Heidenröslein" daher – ein Gegenentwurf zu anderen Vertonungen, etwa von Moritz Hauptmann; ins Dramatische gesteigert wird Chamissos "Ungewitter"; in feiner klanglicher Abstufung singen die Altistinnen in "John Anderson" eine Sopranpassage direkt nach und zeigen, wie sensibel Schumann mit Klangfarben auch im Chor spielt und den dunkleren Alt dem helleren Sopran bewusst entgegensetzt.
Der Dichter Laube war ein jungdeutscher Publizist. Für den Dresdner Kapellhornisten J. R. Levy und seine Kollegen entstanden verschiedene Werke, die Jagdlieder im Mai 1849 – also in unmittelbarer Parallelität zu den revolutionären Ereignissen. Über den 7. Mai schreibt Philipp Eduard Devrient:
"Mir scheint es ungeheuer. Hier ist kein gewöhnlicher Aufstand; es ist eine der ersten Schlachten, welche ein Land gegen seine Fürsten schlägt. … diese Ausdauer im fünftägigen Kampfe, diese auf bestimmte Ideen gerichtete entschlossene Gegenwehr beweist den Anfang des neuen deutschen Freiheitskampfes."
(zit. nach E. Burger, Robert Schumann, Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, S. 262)
Die anfängliche Euphorie weicht im August entsetzlicher Trauer. Ein Dresdner Bürger schreibt über den 9. August:
"Die wogende Menschenmenge … bot ein Bild tiefer Niedergeschlagenheit und Trauer; ernst und schweigsam standen auch die militärischen Sieger – sie fühlten das Leid mit, das über Dresdnes Bevölkerung eingebrochen war und ehrten deren Schmerz. … die städtischen Düngerwagen, welche zum Fortschaffen der Leichen durch alle Straßen fuhren – die noch auf den Gassen liegenden, mit geronnenem Blute bedeckten, verstümmelten Körper – und dann das Schreien und Händeringen der Weiber, der Kinder, die ihre Väter suchten, ihre Ernährer! – Welch ein Anblick!"
In diesem Kontext wirken die Jagdlieder beinahe deplatziert – aber sie gehören ins Frühjahr, nicht in den Sommer, an dessen Ende die Aufführung des 3. Teiles der "Faust-Szenen" im Palais des Großen Gartens gehört – mithin die Hinwendung zur Poesie, mit der Schumann den Riss in der Welt heilen wollte. Die Jagdlieder sind übrigens nicht ohne einen gewissen Sarkasmus, etwa wenn vom "geschossnen Kameraden" gesungen wird, der das Opfer der Eile und des zu früh losgegangenen Schusses wurde… Erheiternd wirken die Repliken auf den "Franzosen", der seinen Wald "überlichtet" hat und "singende Vögel schießt, der Fant!"; während in "Engeland" "Fabriken klappern und stampfen, Maschinen hämmern und dampfen". Europäische Agrarpolitik anno 1849.
Aus dem März des gleichen Jahres stammen die "Romanzen für Frauenstimmen op. 91. Im Chor wurde offenkundig bisweilen getrennt probiert und gesungen. Tatsächlich passen die Texte auch besonders zur weiblichen Stimme. Vom Schicksal mehrerer Jungfrauen ist die Rede, von Hochzeitskränzlein, Röslein, von des Wassermanns Weib, vom verlassenen Mägdlein und einem Laden in des Meeres Mitten. Ganz und gar grausig – auch harmonisch nachvollzogen – erscheint "Der Bleicherin Nachtlied" mit dem fürchterlichen Refrain: "Bleich, bleich muss alles Ende sein." Düster und unisono vereinen sich dabei die Stimmen in D-Moll. Melodisch, harmonisch und satztechnisch sind auch diese Stücke von erlesener Schönheit.
Einen Kontrast bilden die 4 Männerchöre von Mendelssohn (1809 – 1847), Marschner (1795 – 1861; in den 20-er-Jahren Kapellmeister in Dresden), Reinicke (1824 – 1910) und Julius Otto (1804 – 1877). Sie alle standen mit Schumann in Verbindung, Mendelssohn ohnehin; Marschner war vor Schumann in Dresden tätig und wurde vom Letzteren hochgeschätzt, Reinicke war mit ihm freundschaftlich verbunden (besonders in Düsseldorf), Otto war Kreuzkantor von 1828 – 1875, zeitweise auch Leiter der Liedertafel, die Schumann kurzzeitig dirigierte. Die teils heiteren, teils deftigen Gesänge zeigen ein farbenfrohes Bild des Männerchorgesanges, der als Vorläufer des bürgerlichen Gesangvereins angesehen werden muss. Und wer in Dresden könnte sich eines Schmunzeln erwehren, wenn beim "Langen Magister" das treffliche Bild eines Lateinlehrers der Kreuzschule gezeichnet wird…
Nach diesem Ausflug in den Humor kehren wir mit den Gesängen 0p. 141 zurück zu Schumann und zu einer seiner subtilsten und vielleicht auch artifiziellsten Schöpfungen.
Doppelchörig beginnen die "Sterne, in des Himmelsferne" von Rückert, ehe Halbtonrückungen bei "schaun nicht Geisteraugen" erste harmonische Irritationen bringen. Eine zweite Strophe bestätigt zunächst die erste. Im dritten Anlauf wendet sich die Harmonie von G-Dur nach E-Dur und H-Dur, ehe die vierte Strophe das Tempo anzieht und einen Aufschwung bringt, der bei "Hoffend, glaubevoll!" wieder zurücksinkt in die Atmosphäre des Beginns. Schumanns "Florestan" scheint den "Eusebius" der Nummer 1 in Nummer 2 ("Ungewisses Licht") ablösen zu wollen. Kernig und mit punktierten Rhythmen, "lebhaft und sehr markiert" hebt die Musik an. Irrlichternd verkünden Soli einen Schimmer "von fern", der zwischen E-Moll und H-Dur chargierende Schluss balanciert wie der Text: "Ist es die Liebe? Ist es der Tod?" Nummer 3, "Zuversicht", ist mit besonderer Raffinesse strukturiert: "Nach oben musst du blicken" heißt der Text, die Außenstimmen aber streben auseinander, während die Mitte vorerst beim Ton D verweilt. Verschiedene Ausbruchsversuche werden über einen langen Orgelpunkt (Ton G) am Ende wieder hinab geführt – das Bleiben und wundervolle Verweilen der Liebe symbolisierend? Dem antwortet in Nummer 4 der Text Goethes. "Mit Kraft und Feuer" schreibt Schumann vor, wobei "Ruhe" und "Frieden" stets auch mit langen und tiefen Noten vertont werden. In geradezu impressionistischer Manier lässt Schumann Klänge des einen Chores in den des anderen hineinragen, sie überlagern sich und lösen einander ab, um immer wieder in den Quartschritt zu münden "Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!" Die harmonisch aufregendste Passage des gesamten Zyklus (und Abends…) ist die verwegene Chromatik bei "Mich verwirren will das Irren". Sie wird mit den Worten des 2. Soprans "Doch du weißt mich zu entwirren" wieder zurück nach C-Dur gebracht. Nach großem Aufschwung und vollem fortissimo endet das Stück in tiefer Ruhe und mit dem Wort "Amen". Hier spricht der Komponist der großen und bedeutenden "Faust-Szenen". Die Gesänge op.141 sind ein Pendant dazu im Bereich der A-cappella-Literatur und weisen weit voraus auf spätere Werke von Max Reger ("Vater unser"), Richard Strauss ("Deutsche Motette") oder Günter Raphael ("Im Anfang war das Wort"). Sie manifestieren Schumanns Leistung, als Komponist – gerade auch von Chormusik –Avantgarde verkörpert zu haben.
Die Tatsache, dass diese Werke in Dresden entstanden sind, sollte uns Verpflichtung sein.
Im Großen Garten bisweilen noch auf denselben Wegen und unter denselben Bäumen laufen zu dürfen wie Clara und Robert Schumann indessen erfüllt mich mit tiefer Ehrfurcht, dem Gefühl innigster Rührung und Verbundenheit. Es lässt mich träumen, wenn auch zwei Meilen vom Elbhang entfernt…
22.6.2010
Ekkehard Klemm
Literaturhinweise:
Schumann Handbuch, hrsg. von U. Taddey, Bärenreiter/Metzler, Stuttgart, 2006
Ernst Burger: Robert Schumann – Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, Schott, Mainz, 1999
Peter Gülke: Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2010
Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit, Laaber, Regensburg, 1982/2002
Dresdner Hefte, 28. Jahrgang, Heft 102: Robert Schumann in Dresden, Sandstein Verlag, Dresden, 2010
Vorab: die Singakademie Dresden ist nicht der direkte Nachfolger des von Robert Schumann 1847 gegründeten "Verein(s) für Chorgesang" (später "Robert Schumannsche Singakademie"), auch steht sie nicht in direkter Linie zur "Dreyssigschen Singakademie". Dennoch führen naturgemäß viele Bezüge zu diesen ersten bürgerlichen Gesangvereinen in Dresden. Die 1884 erfolgte Gründung des Lehrergesangvereins (zunächst als Männerchor, unter Fritz Busch dann ab 1927 mit Frauenchor) weist indessen sowohl personelle als vor allem ideelle Verbindungen auf. Die von Schumann selbst beklagte Unterentwicklung des bürgerlichen Musiklebens in Dresden schlägt sich auch in der gegenüber anderen Städten späteren Gründung entsprechender Vereine nieder.
Vor diesem Hintergrund können die Dresdner Bemühungen Schumanns um die Belebung des Chorgesanges nicht hoch genug gewürdigt werden! Er geht bei den Anforderungen seiner Werke auch deutlich über das etwa von Zelter oder auch Mendelssohn geforderte Maß an Schwierigkeit hinaus. Keine der Motetten Mendelssohns oder der Kompositionen Zelters verlangen harmonisch oder strukturell das, was Schumann bspw. in den Chören op. 141 oder dem 8-stimmigen Finale der "Faust-Szenen" seinen Sängern 'zumutet'. Möglicherweise erklären sich Ungeduld oder Resignation des Chorleiters Schumann auch von dieser Seite her?
Die gewaltige Entfaltung des Chorlebens in Dresden in den letzten Jahrzehnten hat uns u.a. eine große Zahl von Kammerchorgründungen gebracht, in denen auf professioneller oder zumindest semiprofessioneller Basis gearbeitet wird (incl. der dafür nötigen Bezahlung). Es war das Bedürfnis der Singakademie und mir selbst, zu prüfen, inwieweit die äußerst anspruchsvolle Literatur tatsächlich von Laien bewältigt werden kann. Ich denke: Sie kann. Aber der Anspruch ist 2010 nicht niedriger als 1848 oder 49. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass von den 4 Chören op. 141 Schumann wahrscheinlich nur einen einzigen (den ersten) mit seinem eigenen Verein probierte (wie Thomas Synofzik in der gerade erschienenen Publikation der "Dresdner Hefte 102" auf S. 71 feststellt). Die doppelchörigen Gesänge sind darüber hinaus lt. Titelblatt "für größere Gesangsvereine" gedacht. Sie leben vom breit entfalteten Chorklang, den wiederzugeben wir uns bemüht haben. Sicher ist: Auch heute sind diese Werke für einen Laienchor Grenzerfahrungen und Herausforderungen ganz besonderer Art.
Schumann selbst und seine Frau Clara waren sich klar darüber, dass das Genre der Balladen und Chöre aus Roberts Feder Neuland sind. Über die Balladen op. 67 schreibt er an den Verleger, er habe "mit wahrer Passion eine Sammlung Balladen für Chor zu schreiben angefangen; etwas, was, wie ich glaube, noch nicht existiert". Hinsichtlich der Chöre op. 141 ist vom "bis jetzt unbebauten Terrain" die Rede. In seinem Buch "Schumann und seine Zeit" schreibt Arnfried Edler (S. 226):
"Seitdem insbesondere Herder im 18. Jahrundert die Volkspoesie als eine Hauptquelle der Literatur wiederentdeckt hatte, war die Ballade als Inbegriff des Ausdrucks des Volksgeistes ins allgemeine Bewusstsein eingegangen und in diesem Sinn auch in die Kunstdichtung übernommen worden. … Goethes Auffassung von der Ballade als einem 'lebendigen Urei' der Poetik (1821) ist für diese Einschätzung ebenso bedeutungsvoll wie die ein Jahr später erschienene Sammlung Balladen und Romanzen des polnischen Adam Mickiewicz. Von daher lag es nahe, die Ballade zu einer zentralen Gattung des bürgerlich-liberalen Gesangswesens werden zu lassen, nachdem sie in den Sologesängen Carl Loewes bereits Einzug in die bürgerliche Hausmusik gehalten hatte. Mit dem Chorverein, den er in Dresden leitete, begann Schumann deshalb mit der Erprobung dieses neuen Genres."
Und Peter Gülke ergänzt in seinem soeben erschienenen Band "Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik" (S. 184/185)
"Auch die Vokalkompositionen seit den späten vierziger Jahren signalisieren einen Neuanfang, zumindest Neuorientierung. Bei Chören spielt die Konstellation, in der gesungen wird, in besonderem Maße mit, bis hin zu Interessenlagen und Klima der Gemeinschaft, in der sich das Komponierte bewähren muss. Hier am ehesten ist Schumann vormärzlich …"
"Angesichts eigener kommunikativer Schwierigkeiten mag Schumann das Auf-du-und-du im Umgang, Singen und Arbeiten mit Chören als Therapie empfunden haben … Ohne die Aspekte der Gebräuchlichkeit zu vernachlässigen, exzelliert er, nicht anders als bei vielen Liedern, in melodischen, metrischen, harmonischen, deklamatorischen, polyphonen Subtilitäten und fordert den Singenden, …, ein Äußerstes ab. Wenn irgendwo Chorkomposition damals avantgardistisch war, dann hier."
Die Balladen und Romanzen op. 67 sind "kleine Mini-Dramen" (Th. Synofzik, Schumann-Handbuch, S. 470). Auffallend ist der einheitliche Ausgangspunkt: Wir vermeinen, schlichte Volksweisen zu hören – und werden ganz elegant auf's Glatteis geführt, denn jedem Stück gewinnt Schumann einen ganz besonderen Klang und Effekt ab. Im "König von Thule" läuft eine Tenorstimme mit dem Sopran parallel und erweitert den Satz zur Fünfstimmigkeit; große dynamische Bandbreite mit fortepiano-Effekten prägt "Schön-Rohtraut", ein wunderbar ironisch gefasster Satz; geradezu lakonisch kommt Goethes "Heidenröslein" daher – ein Gegenentwurf zu anderen Vertonungen, etwa von Moritz Hauptmann; ins Dramatische gesteigert wird Chamissos "Ungewitter"; in feiner klanglicher Abstufung singen die Altistinnen in "John Anderson" eine Sopranpassage direkt nach und zeigen, wie sensibel Schumann mit Klangfarben auch im Chor spielt und den dunkleren Alt dem helleren Sopran bewusst entgegensetzt.
Der Dichter Laube war ein jungdeutscher Publizist. Für den Dresdner Kapellhornisten J. R. Levy und seine Kollegen entstanden verschiedene Werke, die Jagdlieder im Mai 1849 – also in unmittelbarer Parallelität zu den revolutionären Ereignissen. Über den 7. Mai schreibt Philipp Eduard Devrient:
"Mir scheint es ungeheuer. Hier ist kein gewöhnlicher Aufstand; es ist eine der ersten Schlachten, welche ein Land gegen seine Fürsten schlägt. … diese Ausdauer im fünftägigen Kampfe, diese auf bestimmte Ideen gerichtete entschlossene Gegenwehr beweist den Anfang des neuen deutschen Freiheitskampfes."
(zit. nach E. Burger, Robert Schumann, Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, S. 262)
Die anfängliche Euphorie weicht im August entsetzlicher Trauer. Ein Dresdner Bürger schreibt über den 9. August:
"Die wogende Menschenmenge … bot ein Bild tiefer Niedergeschlagenheit und Trauer; ernst und schweigsam standen auch die militärischen Sieger – sie fühlten das Leid mit, das über Dresdnes Bevölkerung eingebrochen war und ehrten deren Schmerz. … die städtischen Düngerwagen, welche zum Fortschaffen der Leichen durch alle Straßen fuhren – die noch auf den Gassen liegenden, mit geronnenem Blute bedeckten, verstümmelten Körper – und dann das Schreien und Händeringen der Weiber, der Kinder, die ihre Väter suchten, ihre Ernährer! – Welch ein Anblick!"
In diesem Kontext wirken die Jagdlieder beinahe deplatziert – aber sie gehören ins Frühjahr, nicht in den Sommer, an dessen Ende die Aufführung des 3. Teiles der "Faust-Szenen" im Palais des Großen Gartens gehört – mithin die Hinwendung zur Poesie, mit der Schumann den Riss in der Welt heilen wollte. Die Jagdlieder sind übrigens nicht ohne einen gewissen Sarkasmus, etwa wenn vom "geschossnen Kameraden" gesungen wird, der das Opfer der Eile und des zu früh losgegangenen Schusses wurde… Erheiternd wirken die Repliken auf den "Franzosen", der seinen Wald "überlichtet" hat und "singende Vögel schießt, der Fant!"; während in "Engeland" "Fabriken klappern und stampfen, Maschinen hämmern und dampfen". Europäische Agrarpolitik anno 1849.
Aus dem März des gleichen Jahres stammen die "Romanzen für Frauenstimmen op. 91. Im Chor wurde offenkundig bisweilen getrennt probiert und gesungen. Tatsächlich passen die Texte auch besonders zur weiblichen Stimme. Vom Schicksal mehrerer Jungfrauen ist die Rede, von Hochzeitskränzlein, Röslein, von des Wassermanns Weib, vom verlassenen Mägdlein und einem Laden in des Meeres Mitten. Ganz und gar grausig – auch harmonisch nachvollzogen – erscheint "Der Bleicherin Nachtlied" mit dem fürchterlichen Refrain: "Bleich, bleich muss alles Ende sein." Düster und unisono vereinen sich dabei die Stimmen in D-Moll. Melodisch, harmonisch und satztechnisch sind auch diese Stücke von erlesener Schönheit.
Einen Kontrast bilden die 4 Männerchöre von Mendelssohn (1809 – 1847), Marschner (1795 – 1861; in den 20-er-Jahren Kapellmeister in Dresden), Reinicke (1824 – 1910) und Julius Otto (1804 – 1877). Sie alle standen mit Schumann in Verbindung, Mendelssohn ohnehin; Marschner war vor Schumann in Dresden tätig und wurde vom Letzteren hochgeschätzt, Reinicke war mit ihm freundschaftlich verbunden (besonders in Düsseldorf), Otto war Kreuzkantor von 1828 – 1875, zeitweise auch Leiter der Liedertafel, die Schumann kurzzeitig dirigierte. Die teils heiteren, teils deftigen Gesänge zeigen ein farbenfrohes Bild des Männerchorgesanges, der als Vorläufer des bürgerlichen Gesangvereins angesehen werden muss. Und wer in Dresden könnte sich eines Schmunzeln erwehren, wenn beim "Langen Magister" das treffliche Bild eines Lateinlehrers der Kreuzschule gezeichnet wird…
Nach diesem Ausflug in den Humor kehren wir mit den Gesängen 0p. 141 zurück zu Schumann und zu einer seiner subtilsten und vielleicht auch artifiziellsten Schöpfungen.
Doppelchörig beginnen die "Sterne, in des Himmelsferne" von Rückert, ehe Halbtonrückungen bei "schaun nicht Geisteraugen" erste harmonische Irritationen bringen. Eine zweite Strophe bestätigt zunächst die erste. Im dritten Anlauf wendet sich die Harmonie von G-Dur nach E-Dur und H-Dur, ehe die vierte Strophe das Tempo anzieht und einen Aufschwung bringt, der bei "Hoffend, glaubevoll!" wieder zurücksinkt in die Atmosphäre des Beginns. Schumanns "Florestan" scheint den "Eusebius" der Nummer 1 in Nummer 2 ("Ungewisses Licht") ablösen zu wollen. Kernig und mit punktierten Rhythmen, "lebhaft und sehr markiert" hebt die Musik an. Irrlichternd verkünden Soli einen Schimmer "von fern", der zwischen E-Moll und H-Dur chargierende Schluss balanciert wie der Text: "Ist es die Liebe? Ist es der Tod?" Nummer 3, "Zuversicht", ist mit besonderer Raffinesse strukturiert: "Nach oben musst du blicken" heißt der Text, die Außenstimmen aber streben auseinander, während die Mitte vorerst beim Ton D verweilt. Verschiedene Ausbruchsversuche werden über einen langen Orgelpunkt (Ton G) am Ende wieder hinab geführt – das Bleiben und wundervolle Verweilen der Liebe symbolisierend? Dem antwortet in Nummer 4 der Text Goethes. "Mit Kraft und Feuer" schreibt Schumann vor, wobei "Ruhe" und "Frieden" stets auch mit langen und tiefen Noten vertont werden. In geradezu impressionistischer Manier lässt Schumann Klänge des einen Chores in den des anderen hineinragen, sie überlagern sich und lösen einander ab, um immer wieder in den Quartschritt zu münden "Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!" Die harmonisch aufregendste Passage des gesamten Zyklus (und Abends…) ist die verwegene Chromatik bei "Mich verwirren will das Irren". Sie wird mit den Worten des 2. Soprans "Doch du weißt mich zu entwirren" wieder zurück nach C-Dur gebracht. Nach großem Aufschwung und vollem fortissimo endet das Stück in tiefer Ruhe und mit dem Wort "Amen". Hier spricht der Komponist der großen und bedeutenden "Faust-Szenen". Die Gesänge op.141 sind ein Pendant dazu im Bereich der A-cappella-Literatur und weisen weit voraus auf spätere Werke von Max Reger ("Vater unser"), Richard Strauss ("Deutsche Motette") oder Günter Raphael ("Im Anfang war das Wort"). Sie manifestieren Schumanns Leistung, als Komponist – gerade auch von Chormusik –Avantgarde verkörpert zu haben.
Die Tatsache, dass diese Werke in Dresden entstanden sind, sollte uns Verpflichtung sein.
Im Großen Garten bisweilen noch auf denselben Wegen und unter denselben Bäumen laufen zu dürfen wie Clara und Robert Schumann indessen erfüllt mich mit tiefer Ehrfurcht, dem Gefühl innigster Rührung und Verbundenheit. Es lässt mich träumen, wenn auch zwei Meilen vom Elbhang entfernt…
22.6.2010
Ekkehard Klemm
Literaturhinweise:
Schumann Handbuch, hrsg. von U. Taddey, Bärenreiter/Metzler, Stuttgart, 2006
Ernst Burger: Robert Schumann – Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, Schott, Mainz, 1999
Peter Gülke: Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2010
Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit, Laaber, Regensburg, 1982/2002
Dresdner Hefte, 28. Jahrgang, Heft 102: Robert Schumann in Dresden, Sandstein Verlag, Dresden, 2010
klemmdirigiert - 2010-06-28 23:47
1 Kommentar - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
WolfgangGL - 2010-07-05 22:04
Ich kann es Ihnen nachfühlen, wenn Sie schreiben: " ... und unter denselben Bäumen laufen zu dürfen ..."!
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