10
Nov
2010

SPIEGELUNGEN IV – Kabbala und Palindrom…

Nunes

Am kommenden Samstag erklingt in Dresden, Dreikönigskirche, 19.30 Uhr, das 4. Konzert der Reihe SPIEGELUNGEN von Sinfonietta Dresden. Es wird in der Görlitzer Synagoge am Sonntag 19.00 Uhr wiederholt. Eine Vorschau auf zwei der 3 Werke. (Als drittes Stück erklingt eine Uraufführung von FK Kram.) Die erste Probe zu Haydn lässt mich sicher sein, dass ich mit meiner Diagnose nicht völlig falsch liege - das Werk hat eine unglaubliche Tiefe und ist entfernt davon, eine mathematische Spielerei zu sein.


Von Nuñes...

„Unter Kabbala versteht man gewöhnlich die Gesamtheit der mystischen Lehren innerhalb des Judentums, und schon aus diesem Grunde umfasst die Kabbala eine ungeheure, in älterer und neuerer Zeit entstandene Literatur.“ (Die Kabbala, Fourier Verlag Wiesbaden 1903/1991)

„Die Basis kabbalistischer Traditionen ist die Suche nach der Erfahrung einer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Nach kabbalistischer Ansicht hat Gott alles, was er im Universum geschaffen hat, auch am Menschen geschaffen. Hieraus ergibt sich das Weltbild der wechselseitigen Entsprechungen von Oben und Unten. In diesen Spekulationsformen wird der kabbalistische Grundgedanke von Mikro- und Makrokosmos deutlich. Die ganze „untere“ Welt wurde demnach nach dem Vorbild der „oberen“ gemacht und jeder Mensch an sich ist ein Universum im Kleinen.“

So klärt uns das bekannte Online-Portal Wikipedia über einige Grundzüge kabbalistischen Denkens auf und Sie mögen sich fragen, was das mit der Sinfonie Nr. 47 von Joseph Haydn zu tun hat. Nichts zunächst. Und dennoch vielleicht auch recht viel. Denn: „Der Mensch steht unter dem ganzheitlichen Einfluss universaler Kräfte, kann diese aber seinerseits beeinflussen. (Beispielhaft hierfür ist die kabbalistische Wortmagie, in welcher das Aussprechen von Worten eine unmittelbare Einflussnahme auf das damit Bezeichnete nach sich ziehen soll.)“

Und so ist das heutige Konzert eine Spiegelung ganz besonderer Art, bezieht sich der Titel „Chessed I“ des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nuñes doch ganz eindeutig auf Sinn und Geist kabbalistischen Gedankenguts und die „Sephiroth“.
„Sephiroth, Sephirot, Sefirot oder Sefiroth (heb. sg. סְפִירָה səfīrā Sefira, pl. סְפִירוֹת səfīrōt) ist die hebräische Bezeichnung der zehn göttlichen Emanationen im kabbalistischen Lebensbaum. Sie bilden in ihrer Gesamtheit symbolisch den himmlischen Menschen, den Adam Kadmon. Sephiroth ist der Plural des hebräischen Wortes Sephira, was Ziffer bedeutet. Die Kabbala sieht in diesem Begriff auch den mystischen Ursprung des griechischen Wortes Sphäre. Die Verwandtschaft der Begriffe geht vermutlich auf den gemeinsamen Ursprung des hebräischen und des griechischen Alphabets in der phönizischen Schrift zurück. Auch dem deutschen Begriff Ziffer ist die gleiche etymologische Herkunft über das Arabische noch anzumerken.“

Innerhalb des kabbalistischen Lebensbaumes nun verkörpert chesed die 4. Stufe und steht dabei für Gnade, Gunst, Treue, bisweilen auch bezeichnet als Gedulah (Größe, Langmut; sh. die untenstehende Übersicht). Über den Sinn der Sephiroth heißt es: „Das Modell Lebensbaum spiegelt die göttliche Schöpfung zugleich im Mikrokosmos und Makrokosmos. Sein Strukturprinzip ist die Abfolge der Ziffern von 1 bis 10 (10 = Malchuth, 1 = Kether). Die Sephiroth ergeben in ihrer Folge ein dynamisches Modell der Begegnung von Gegensatzpaaren, die auf der mittleren Achse einen Ausgleich erfahren.“

In der Tat ist die Zahl 4, sind „Gegensatzpaare“, die wechselseitigen Entsprechungen von ‚oben‘ und ‚unten‘ sowie ‚Mikro‘- und ‚Makrokosmos‘ prägende Elemente der Stücke von Nuñes wie auch von Haydn. Der portugiesische Zeitgenosse bindet 4 Orchestergruppen zu je 4 Stimmen zu einem Geflecht, das in kompliziertester Verknüpfung aufeinander reagiert. Jede Einzelstimme ist völlig autark – ein Stück Mikrokosmos im 16-stimmigen makrokosmischen Chor der Gesamtheit. 4 Violinen sind 4 Klarinetten gegenübergestellt, 2 Flöten und 2 Bratschen bilden einen Chor und ein Cello plus 3 Kontrabässe einen weiteren. So entstehen bereits durch die Klangfarben ganz unterschiedliche Schattierungen. Verschiedene Stufen der Entwicklung werden durchschritten, beginnend mit einem 3x erklingenden Teil 1, der stets neu mit Instrumenten zusammengesetzt ist. Danach folgen Teile großer Kontraste, bei denen sich Einzelstimmen zu kurzen Kadenzen aus dem Tutti lösen, bei denen die 4 Gruppen als Chöre gegeneinander geführt werden, Beschleunigung und Verlangsamung prägend sind und schließlich in eine Coda großer Ruhe führen.
Die abenteuerlichen Taktwechsel, verschlungenen rhythmischen Figuren sowie zahlreiche andere formale Indizien lassen auf ein besonderes Verhältnis des Komponisten zu Zahlen schließen. Es ist dem Interpreten wie dem Hörer nicht möglich, die tieferen Bauprinzipien dieser höchst komplizierten Verhältnisse zu entschlüsseln – und vielleicht ist das auch nicht der intendierte Sinn. Stattdessen sei als Anregung zu weiterem Nachdenken auf das Gedicht „Baum des Lebens“ verwiesen, das wir hier angefügt haben.

…zu Haydn

Von den Zahlen- oder Stimmenkombinationen des Portugiesen Nuñes fällt auch ein erhellendes Licht auf Haydns Experimente mit dem Palindrom. Die Sinfonie D-Dur Hob. I:47, eigentlich wohl die Nummer 54 in der komponierten Abfolge, gehört in die bisweilen als „Sturm-und-Drang-Phase“ bezeichnete Periode zwischen den späten 1760er Jahren und den beginnenden 70ern. Das Werk ist wohl im Frühjahr 1772 entstanden. Seinen Titel „Palindrom“ hat es offensichtlich von der Nachwelt erhalten, weil Haydn sich bei Menuett und Trio tatsächlich den Spaß erlaubt und beide Teile jeweils vorwärts und rückwärts spielen lässt (notiert im Autograph ist ein ‚Menuet al Roverso‘ und ein ‚Trio al Roverso‘; die Noten und Rhythmen ergeben rückwärts exakt die gleiche Abfolge wie vorwärts gespielt).

Der Gedanke des umgekehrt, oder gespiegelt Gespielten taucht jedoch noch an anderen Punkten der Sinfonie auf. Nach viermaligem Anlauf wird in Takt 10 ein zweieinhalbtaktiges Thema vorgetragen, das zumindest in der Tonfolge auch ein Annagramm (oder Palindrom) darstellt:

g h c e c h G h c e c h g

Und auch in der Form spiegelt sich die Idee wieder: Nach einem Zwischensatz mit Verarbeitung des marschartigen Hauptthemas (u.a. mit recht raffinierten kontrapunktischen Spielereien; Takt 13 – 35) erklingt als Seitensatz eine charakteristische Triolenfigur. Dieser Teil rückt in der Reprise (die wegen ihres Moll-Charakters ohnehin nicht sofort erkannt wird) um einen Platz nach vorn, erst danach erklingt der ursprüngliche Zwischensatz.

Im Adagio werden konsequent Ober- und Unterstimme getauscht. Schon die 5-taktige Gliederung des Themas ist ungewöhnlich; mehr noch aber der Spiegel der Stimmen: Wir hören de facto einen ABA-Teil, der wiederholte Part A indessen ist mit einem Stimmentausch versehen. Auch die Variationen behalten diese Verfahrensweise bei. Interessant ist der Bezug zum 1. Satz, der durch die Verwendung der oben erwähnten Triolenfigur entsteht – nunmehr eine Stufe in der Variationenfolge. Eine pointierte Coda mit einem 4-stimmigen Abschnitt des Themas rundet den Satz ab, der prägenden Charakter trägt: erstmals erprobt Haydn im langsamen Sinfoniesatz die Variation (worauf Ludwig Finscher in seiner Biografie verweist).

Über das Menuett und Trio al Roverso wurde schon gesprochen. Erwähnenswert ist vielleicht noch die Tatsache, dass eine betonte Zählzeit 1 (mit forte hervorgehoben) beim Rückwärtsspielen natürlich eine betonte Zählzeit 3 ergibt, wie überhaupt die Abfolge von forte- und piano-Takten einen besonders reizvollen Kontrast des Satzes prägt.
Der letzte Satz tendiert eher zur Sonatenform als zum Rondo. Zwar kehrt das Hauptthema rondoartig wieder, dennoch dominiert der Gedanke einer Durchführung, bei der insbesondere ein kantiger forte-Abschnitt im Zentrum steht.

Mikro- und Makrokosmos von Themen, Motiven, Stimmen, Linien und Formen durchdringen hier natürlich ganz anders als beim zeitgenössischen portugiesischen Meister.

Könnte der tiefere Sinn nicht dennoch in der Suche nach dem gleichen Kern zu finden sein?
Wie hieß es in der zweiten Strophe des im Anhang zitierten Gedichts:

Es gab kein Erstes und kein Letztes, Keinen Anfang und kein Ende,
Alles war gleichmäßig ausgewogenes unendliches Licht,
Harmonisch und sanft,
Vollkommen in Erscheinung und Art


Spiegelung, Palindrom, Sephiroth, Chesed, Schöpfung, Licht, Harmonie, … - lassen Sie sich zu erhellenderen Erkenntnissen, als Worte sie beschreiben können, durch die Musik führen.

Zur weiteren Vertiefung sei von der Seite www.kabbala-info.net besonders noch dieser Abschnitt empfohlen.
Schließlich ist die fantastische Seite zu Haydn zu empfehlen: Sie hat nur den Nachteil, dass die dort abzurufenden Interpretationen alle ein lediglich lustiges Stück musizieren. Das würde ich ganz anders sehen... Zu finden hier.

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