3
Dez
2010

Ehrenpromotion für Helmut Lachenmann

Lachenmann

Nach der Investitur am 27.10., der Uraufführung eines Orchesterwerkes von Friedrich Schenker (am 31.10.), der CD-Produktion dieses Stückes zusammen mit Schumanns 2. Sinfonie, einem phantastischen Konzert mit dem Hochschulsinfonieorchester in der Kölner Philharmonie brachten die knapp 100 Tage meines Rektorats heute einen echten Höhepunkt: Die Verleihung der Ehrendoktorwürde unseres Hauses an den Komponisten Helmut Lachenmann. Ich hatte die Ehre der Übergabe - und Begrüßung:

Verehrter, lieber Helmut Lachenmann,
sehr geehrter Gerhart Baum, (er hielt die Laudatio)
meine sehr geehrten Damen und Herren,

was haben Georg Büchners „Woyzeck“ und Paul Gerhardts berühmtes Lied „Ich steh an deiner Krippen hier“ gemeinsam? Sie reden beide von Abgründen. „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, so dichtet Büchner, während Gerhardt im Schatten des 30-jährigen Krieges die Worte findet: „O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!“.

Und was hat das nun mit Helmut Lachenmann zu tun? Er ist es, der solcherlei Dinge aufdeckt, in Beziehung setzt und daraus neue künstlerische Kreativität entwickelt.

Abgründe tun sich auf. Während in der Frauenkirche an einem vorweihnachtlichen Samstag häppchenweise gleich zwei Konzerte fürs ZDF produziert werden – eines zur Weihnacht, das andere zum Karfreitag, bei dem der Stern schnell abgehängt und Anna Netrebko eingeflogen wird - , während die Kruzianer im Advent Triumphe mit der Matthäus-Passion in Asien feiern, während solcherart, wie Lachenmann es formuliert, „die Gesellschaft (sich) Musik als warme Bettdecke über den Kopf gezogen hat“ und der vom Theoretiker diagnostizierte ästhetische Apparat gnadenlos zuschlägt, ehren wir am heutigen Tage vor allem den Komponisten, der mit bahnbrechenden Aufsätzen die Musikwelt analysiert und mit wundervoll unbequemer und gerade deshalb schöner Musik die Konzertsäle und Opernhäuser zunächst verstört, später revolutioniert, mittlerweile erobert hat.

Im „ästhetischen Apparat“ spiegele sich beides, schreibt er 1976, „das gesellschaftliche Bewusstsein mit seinen Wertvorstellungen und Tabus – und mit seinen Widersprüchen.“ Er verkörpere „das Bedürfnis des Menschen nach Schönheit und zugleich seine Flucht vor der Wirklichkeit.“ Ein Komponist, dem es ernstlich darum gehe, sich auszudrücken, werde vom ästhetischen Apparat zugleich fasziniert und mit Misstrauen erfüllt. Verweigerung des Gewohnten findet Lachenmann von Bach über Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann bis hin zu Wagner, Mahler, Webern und seiner eigenen Tanzsuite mit Deutschlandlied.
Und Hören heiße: „in sich neue Antennen, neue Sensorien, neue Sensibilitäten, heißt also auch, seine eigene Veränderbarkeit entdecken.“ Der Schlüsselbegriff solchen Hörens sei: „Struktur“.

Seit 1997 – und damit sehr spät, um Vergebung – befasse ich mich regelmäßig und immer wieder mit Texten und Musik Lachenmanns. Damals saß ich in der 3. Vorstellung des „Mädchens mit dem Schwefelhölzchen“ im Hamburger Opernhaus, das samt Stadt mittlerweile auch ein ziemliches Opfer des ästhetischen Apparates geworden ist… Wenige Plätze neben mir saß der Komponist. Ich entsinne mich der Ruhe seines Zuhörens: Hier saß kein nervöser Künstler am Rande des Nervenzusammenbruchs, sondern ein Schöpfer, der sich seiner Mittel, seines Tuns sicher war. Ein faszinierendes geistiges Leuchten ging von ihm aus, Klarheit, visionäre Klänge und Tiefe entdeckte ich in der Musik. Seither ziert das Buch „Musik als existenzielle Erfahrung“ meinen Bücherschrank und ist mir – mit Verlaub – musikliterarischer Kompass geworden in den vielen Kämpfen mit dem – na, Sie wissen schon. Der Komponist wird den Begriff mittlerweile nicht mehr hören können.

Und vielleicht machen wir uns auf schreckliche Weise strafbar, wenn wir durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde Helmut Lachenmann nun selbst zum Rädchen ins Getriebe jenes Apparates setzen. Wichtig wird sein, dass wir nicht verlernen, uns mit dem Funktionieren dieses Getriebes zu befassen, es nicht leichtfertig bedienen und uns zum Schmiermittel degradieren.
Sie, verehrter Herr Lachenmann, Sie müssen da jetzt durch. Wir halten Sie für eine Weile in unseren Mauern fest, danken Ihnen unendlich, dass Sie aus Anlass Ihres Geburtstages uns mit einem ganzen Festival auszeichnen und damit in der Tat eine große Ehre erweisen.

Im Namen der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden darf ich unserer großen Freude Ausdruck verleihen, dass Sie aus dem Stuttgarter Sackbahnhof hier nach Dresden gekommen sind, wo wir beides haben: in der Tiefe den Kopf-, in der Höhe den Durchgangsbahnhof. Sie sehen: Wir mühen uns, mit der großen Tradition im Keller nicht an die Wand zu fahren, sondern in der Höhe den Kopf frei zu bekommen. „Ich möchte beim Komponieren immer dorthin geraten, wo ich noch nicht war. Sonst habe ich ein Gefühl wie ungeputzte Zähne.“ – haben Sie einmal formuliert. Lassen Sie uns für die nächsten Tage teilhaben am Benutzen Ihrer Bürste und Zahncreme.

Oder, etwas ernsthafter und mit einem Satz eines neuen Buches von Alexander Kluge, der heute – wir staunen – in der Sächsischen Zeitung zitiert wird (sicher, weil Gerhard Richter die Fotos dazu lieferte…): „Ähnlich vielseitig wie unser Verhältnis zur Kälte ist unsere Beziehung zur Hoffnung. Für Menschen kann es, solange sie leben, keinen Nullpunkt der Hoffnung geben. In der Nähe ihres Kältetodes wird die Hoffnung feurig.“ Lassen Sie uns teilhaben an dieser feurigen Hoffnung, die Ihre Musik, Ihre Texte auszeichnet.
Vorerst neben den besten Glückwünschen ein lautes und ganz existenzielles: DANKE!

Herzlich willkommen in unserer Hochschule!
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