29
Dez
2007

Kritik zu Voigtländers "MenschenZeit" aus dem ND om 21.12.07

Wagnis – ein fruchtbarer OrtLothar Voigtländers Oratorium »Menschenzeit« in Dresden
Von Stefan Amzoll

»Vorsicht hat noch nie einen Sieg errungen, Ungestüm schon oft!«
(Arnold Schönberg)

Neue Musik, umschifft sie die Bedrängungen des Lebens und frönt den Moden, ist meist tödlich langweilig. Das ist ein Jammer. In ihr steckt so viel. Hunderte formale, klangliche, technische Entdeckungen seit Schönberg schreien danach, zeitgemäß mobilisiert zu werden. Wo sind die Geister, die das Potential wie Lava hinausspeien?

Lothar Voigtländer, Jg. 1943, schuf ein Oratorium, das wahrlich brennendes Material hochwirft: »Menschenzeit« auf Texte von Eugéne Guillevic für vier Solisten, Chor und Orchester. Es kam am Dienstag in der Dresdner Lucaskirche zur Uraufführung, einem Raum mit hervorragender Akustik. Ein Stück, gehörig entfernt von der alten Oratoriumsmusik und doch irgendwie darin gebettet, ein 45-Minuten-Werk, das Gedanken entwickelt, das formal klug disponiert ist, das durchgängig Spannung hat. Ein Wurf, der den Sängern und Musikern Maximales abverlangt. »Unser Gesang weiß mehr als wir von der Erde, vom Tod...« – Worte des Dichter-Philosophen Eugène Guillevic, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr nicht nur in Frankreich begangen wurde. Lothar Voigtländer bewundert dessen Verse und Wahrheiten nicht nur, er komponiert sie auf bewundernswerte Weise. Sie spiegeln sich in vokalinstrumentalen und elektroakustischen Stücken, die Gesangsparts einbeziehen, und in einem Kammeroratorium mit dem Titel »Le temps en causa«, das 1990 entstand und in Paris und Liverpool erklang.

Was charakterisiert nun die neue Komposition? Zunächst: Sie beweist ungeheuren Mut. Guillevics Dichtung erzählt keine Geschichte. Sie besingt symbolhaft die Zeit, die dem Einzelnen bleibt. Was in ihr sich widersprüchlich vollzieht: Schönheiten, Schrecknisse. Zeit läuft unerbittlich, bleibt stehen, dreht zurück, ruft, brüllt. Zeit, die singt und schweigt. Die Uhren ticken in »Menschenzeit« anders. »Die Zeit, die einen Vogel hinsiechen lässt im Sand und zum Schweigen bringt reines Wasser.«
Mixturen fallen ins Gewicht, Collagen, Montagen. Was immer passiert, es ist mehrschichtig angelegt. Linearität hat zu schweigen. Stimmen zweier Chöre, eine Gruppe Chorsolisten und ein großer gemischter Chor, verwoben mit orchestralen und instrumentalen solistischen Parts, auch mit freien improvisatorischen Teilen. Posaunensoli – so verrückt wie die von Jericho – lassen »Mauern aus Stein und Erde« erzittern. Jede Gesangsstimme, vom Sopran bis zum Bass, darf, selten unbegleitet, die Expressiva ihrer Anmut, ihrer Traurigkeit, ihres Zorns widerspruchsvoll aussingen. Instrumente und Instrumentengruppen treten aus ihrer Begleitrolle heraus. Markante Choreinwürfe zerklüften die komponierte Landschaft. Polyphonie ist deren Hauptmerkmal. Nichts geht glatt durch. Die Aufmerksamkeit des Ohres ist gefragt, seitens der Aufführenden wie der Hörer. Textmaterial kommt stellenweise französisch und deutsch (Nachdichtung Paul Wiens).

»Menschenzeit« vertraut Eugène Guillevics humanen poetischen Spiegelungen, attackiert sie aber auch, das heißt, die Musik löst sich vom Text und bringt vollkommen neue Gedanken. Wie bei Bach fahren Chöre und Instrumente im Forte Fortissimo drein, sie fordern ihr Recht, sie wollen handeln, schreien, schlagen: »Steine und zuschlagen, zuschlagen, die Steine zur Hand«, ruft das Vokalensemble zusammen mit dem Sopran. Die Kraft des vollen Klangkörpers kündigt schon die Eröffnung an: »Die Zeit – nicht die Zeit«. Der Bogen spannt sich im Finale. Es lässt alle Schwellenängste hinter sich und begehrt auf wider diese Zeit: »LES HOMMES – PAS LES HOMMES!« kommt scheinbar in einer Molltonart. Aber nichts ist mit moll. Es genügt nicht zu raunen, zu trauern, zu seufzen. Der Schrei muss raus wie die Kugel aus dem Gewehrlauf. Ganz zuletzt brodelt es nur noch wie die glühende Lava. Ein einzigartiger Tumult.

Wahnwitz einer Philharmonie, wie ihn vielleicht nur Bernd Alois Zimmermann und Friedrich Schenker komponieren konnten. Vorsicht hat noch nie einen Sieg erringen können. Das Wagnis ist der fruchtbare Ort. Lothar Voigtländers »Menschenzeit« ist ein Meisterwerk. Hohe Anerkennung allen Ausübenden. Den jungen Musikern der Sinfonietta Dresden. Den hochmotivierten Chören der Singakademie Dresden. Dem Solistenquartett, das anspruchsvollste Aufgaben zu bewältigen hatte. Dem Dirigenten Ekkehard Klemm, dem eine starke Gesamtaufführung zu danken ist. Sie erhielt viel Beifall.

007

...nun muß ich wohl den Klingelton meines Handys ändern...

007 ("Gold finger" röhrt mir mein Nokia noch immer entgegen) war ein gutes Jahr. Nicht nur, weil 2 und 7 9 ergibt und durch 3 teilbar ist, jene göttliche Zahl der Vollkommenheit, wie die Schriftstellerin J. Zeh recht überzeugend be- bzw. nachweist, nein ich meine das jetzt ganz persönlich und gemessen an meinen künstlerischen Herausforderungen, die ich mir schöner nicht hätte denken können. Die Höhepunkte waren zunächst die Werke der Zeitgenossen: die UA von Voigtländers "MenchenZeit" erst kürzlich (eine der Kritiken hier); die INTOLLERANZA von Nono in München, Schnebels MAJAKOWSKIS TOD ebenda und seine Schubert-Phantasie im Konzert des Dresdner Hochschulsinfonieorchesters; außerdem die UA von Herchets Jakobus-Kantate im Kammerabend der Sächsischen Staatskapelle und im vierten Jahr nacheinander Terterians DAS BEBEN (letzteres wieder in München); nicht zu vergessen die UA eines Werkes des Hamburger Komponisten W. A. Schultz ("Archaische Landschaft mit heilender Trauer") mit den Dresdner Kapellsolisten, die UAen zweier Werke von Studenten (Nina Shenk und Jae Hyun Park).

Im sinfonischen Bereich waren die Höhepunkte die 4. Bruckner sowie die 4. Brahms und Bergs Violinkonzert - sämtlichst mit dem Hochschulsinfonieorchester. In der Oper ferner mit Wehmut der Abschied vom Münchner IDOMENEO und ein FIGARO in Bad Hersfeld, wo es neue Aufgaben gibt in den nächsten Jahren.

Und dann die chorsinfonischen Großprojekte: Missa solemnis von Beethoven sowie die Auseinandersetzung mit Mendelssohn und seiner Schwester Fanny Hensel. Die Erträge sind hier, hier und hier zu lesen gewesen.

Einige meiner Studenten stehen gut in Lohn und Brot, eine Schülerin ist ins Dirigentenforum des deutschen Musikrates aufgenommen worden, die ersten von Anfang an unterrichteten werden nun bald absolvieren...

Doch: 2+7=9:3=3, das war schon ganz ordentlich. Wie rechnen wir uns 2+8 schön?

Alles Gute!

PS: wobei eben erst am Ende abgerechnet wird - die Lage in Pakistan und so manch andere Dinge auch im eigenen Land (wobei mir die inländischen Kriminellen nach wie vor stärker auffallen als Herrn Koch die ausländischen - unfaßbar, dieses Geschwätz angesichts andauernder Überfälle von Nazis, Hooligans, die für ein Fünftligaspiel 1200 Polizisten brauchen und toter bzw. schwerverletzter Farbiger, die sich in keine deutsche Disko mehr trauen!) geben selbst 2007 noch ein recht dramatisches Finale. Wir merkeln uns die (für mich trotz allem oft zweifelhaften) Erfolge der Kanzlerin und hoffen, daß die Liga von der Leyen, Zypries, Münterfering dankbaren Angedenkens, Steinmeier nicht zerkocht wird vom Alltagsgeschäft oder in weiteren Bushbränden dahingeht... .

Broders Prophezeihungen auf SPIEGEL-online sind sehr düster, man mag von ihm halten, was man will. Er trifft in vielem den Nagel auf den Kopf.
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Weblog des Dirigenten Ekkehard Klemm, Dresden

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