21
Jun
2008

Stefan Mickisch über Opernregie

mickisch1

Der geniale Pianist und Musikwissenschaftler Stefan Mickisch hat sich in einem Focus-Interview zu aktuellen Fragen des Musiktheaters geäußert:

FOCUS: Kann man sagen, dass Wagner in speziellem Maße durch Regie und Ausstattung verhunzbar ist?

Mickisch: Ja, weil er Transzendenz hat, unerhörte Qualität, große Tiefe, Schönheit und Geschmack. Eine wirkliche Wagner-Regie, die die Höhe dieser Werke erreicht, steht noch aus. Zunächst einmal sollten sich nur Dramaturgen und Regisseure mit Opern befassen, die Dur von Moll unterscheiden können, das wäre schon mal die Eingangsprüfung.


Statements wie diesem kann man sicher vielfach beipflichten. Dennoch bleibt beim Lesen des Textes ein fader Beigeschmack. Erstens: warum wird immer vom "Regietheater" gesprochen?! Gott im Himmel - was ist Regietheater? Gab es zu Wagners Zeit keine Regie? Kann man umstandslos Neuenfels, Schlingensief und Katharina Wagner (die kritisiert wird, aber sicher zu denen gehört, die Dur und Moll unterscheiden können und auch die Story von den 12 Apostel=12 Meistersinger, der Taufe in Ges-dur usw. ganz gewiß kennt... - zumindest aus Mickischs Mund selbst) in einen Topf werfen? Kann man umstandslos die verschiedenen Regiearbeiten selbst eines Einzelnen in einen Topf werfen? Jeder hat doch Gelungenes und Mißlungenes vorzuweisen! Neuenfels zumal. (Gehörte nicht seine Stuttgarter ENTFÜHRUNG zu den allseits gerühmten ganz großen Würfen der neueren Operngeschichte?)

Und Konwitschny... : Er ist einer der wenigen Kundigen, die auch persönlich sehr nett sind und offen für Diskussionen. Er kennt den Unterschied von Dur und Moll. Schade, dass er trotz vieler genialer Einfälle und Aspekte die Schlüsse der Wagnerschen Opern geistig-inhaltlich verfehlt. Auf die kommt es aber maßgeblich an. Es ist, wie wenn einer ganz toll die Beethovensche „Waldstein-Sonate“ spielt und dann die letzte Seite vollkommen in den Sand setzt. Hut ab - das kann man nur so formulieren, wenn man selbst nicht inszeniert. Scheint mir.

Und wer trägt die Schuld? Richtig - die 68-er.

FOCUS: Was meinen Sie, woraus der derzeit modische Inszenierungsstil resultiert?

Mickisch: Aus der 68er-Bewegung – deren wenige positive Aspekte anzuerkennen sind -, verbunden mit Unkenntnis der Materie, Abwesenheit von Geschmack, Bildung und ethischer Tiefe sowie der Sucht nach „Neuem“ um jeden Preis, meist um den von Qualität und Seriosität. Neuheit ist aber kein Eigenwert. Nur das Kriterium der Qualität bestimmt, was wertvoll ist. Bach ist immer „neu“, weil er gut ist, Regietheater ist nicht deswegen gut, weil es „neu“ ist.


Auch bei diesem Satz stimmt sicher vieles. Aber der "Altvater" des Regietheaters - sorry - Felsenstein war nun gewiß kein 68-er, ebensowenig Frau Berghaus, Joachim Herz oder Harry Kupfer. Und fast allen ambitioniert arbeitenden Regisseuren, denen ich begegnet bin, ging es keinesfalls um das Neue um jeden Preis, sondern darum, ein Meisterwerk im Heute neu lebendig werden zu lassen.

..."wenige positive Aspekte" der 68er-Bewegung - mich schaudert bei solchen Pauschalurteilen. Sie mögen als Meinung zu respektieren sein - als Urteil eines Künstlers unserer Tage machen sie mich frieren. Die gesamte Musik unserer Tage von Boulez über Ligeti, Nono, Lachenmann oder Schnebel ist ursächlich mit der Bewegung vor und nach 68 verbunden: Wagner selbst hat seinerzeit auf den Barrikaden gestanden und sympathisierte mit den revolutionären Strömungen seiner Zeit! Der Geist des Neuen - durchaus auch das Neue um jeden Preis ist doch Wagners ureigenster Ansatz!! Warum den Theaterleuten das jetzt vorwerfen? Aber auf die 68-er läßt sich ja z.Zt. so bequem eindreschen. Nein - diese Diskussion hat Schlagseite.
Mag Mickischs Diagnose und Analyse des Meistersinger-Schlusses vielleicht Wagners Intention entsprechen und vielleicht sogar richtig sein - inzeniert kann (kann!) das ebenso langweilig wirken, wie eine zeitgenössische Sicht auf die Dinge möglicherweise Spannung erzeugt und einen erregenden Theaterabend kreiert.

Aber Mickischs Einführungen sind eine Klasse für sich! Ihn am Klavier zu erleben, ist wundervoll. Vielleicht übernimmt er ja mal eine Regiearbeit...

mickisch-sternenhimmel

Mehr unter Mickischs Website, wo man auch seine CDs bestellen kann.
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