Amadeus Webersinke zum Gedenken
Am gestrigen 16.12.2015 fand ein Gedenken an den 10. Todestag von Amadeus Webersinke statt. Ich war gebeten worden, eine 'Laudatio' zu halten. Die Initiatoren und verschiedene Unterstützer/innen sind am Ende aufgeführt. Ihnen allen ein besonderer Dank!
"Kindchen, lassen se mal ihr Gefūhl beiseite"
Eine Würdigung für Amadeus Webersinke – aus Anlass seines 10. Todestages
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
man kommt nicht umhin, bei einer erbetenen Laudatio auf den Organisten, Pianisten und Pädagogen Amadeus Webersinke einen Moment über das Thema Geistigkeit und Musik zu reflektieren. Über jenen Balanceakt, der sich über die Jahrhunderte hinzieht und die Musik zwischen den Welten des Geistes und der Sinne sieht. Wobei, das sei hinzugefügt, mit 'Geistigkeit' keinesfalls vorderhand religiös intendierte Spiritualität gemeint ist. Mag sein, dass dies nicht immer sauber und völlig voneinander zu trennen ist, aber die bspw. von Gottfried Wilhelm Leibniz gegebene Definition "Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi" ("Musik ist eine verborgene Rechenkunst des seines Zählens unbewussten Geistes") entbehrt ja zunächst jeder himmlischen Einflussnahme auf die Tonkunst, es sei denn, wir setzen an jene Leerstelle der Verborgenheit und des Unbewussten gleich den lieben Gott.
Die andere Seite der Medaille folgt wenig später. Für Sulzer ist Musik "eine Folge von Tönen, die aus leidenschaftlicher Empfindung entstehen..." während Heinrich Christoph Kochs Satz: "Musik ist die Kunst, durch Töne Empfindungen auszudrücken" als Kernaussage des 18. Jahrhunderts gilt und den Kontext zur Musik bildet, die Amadeus Webersinke besonders mochte, spielte und lehrte. Mit Herders Wort, Musik sei eine "Offenbarung des Unsichtbaren" und Schellings Satz, sie sei „nichts anderes als der vernommene Rhythmus und die Harmonie des sichtbaren Universums selbst", befinden wir uns in einer Art 'Wartestellung', einem 'musikästhetischen Purgatorium' der Unentschiedenheit, das nach beiden Seiten ausschlagen könnte. Im 20. Jahrhundert misst Arnold Schönberg der Kunst in ihrer höchsten Stufe ausschließlich die "Wiedergabe der inneren Natur" zu. Und dann folgt der große Strawinsky mit der kühnen Sentenz: "Denn ich bin der Ansicht, dass die Musik ihrem Wesen nach unfähig ist, irgendetwas ‚auszudrücken‘, was es auch sein möge: Ein Gefühl, eine Haltung, einen psychologischen Zustand, ein Naturphänomen oder was sonst. Der ‚Ausdruck‘ ist nie eine immanente Eigenschaft der Musik gewesen, und auf keine Weise ist ihre Daseinsberechtigung vom ‚Ausdruck‘ abhängig. (…) Das Phänomen der Musik ist zu dem einzigen Zweck gegeben, eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen und hierbei vor allem eine Ordnung zu setzen zwischen dem Menschen und der Zeit."
"Kindchen, lassen se mal ihr Gefūhl beiseite" – so hat es etwas geradliniger und wenig konform mit modernen Vorstellungen vom Wirken eines Pädagogen Amadeus Webersinke formuliert. Denn das "Meister – Schüler – Verhältnis" wird mittlerweile als autoritär und veraltet empfunden, wie erst kürzlich in einem umfangreichen Essay eines Kollegen in der Neuen Musikzeitung zu lesen war. Das Gefühl, ja der vielbeschworene Spaß, den alle bei der Musik haben sollen, sie sind in aller Munde und doch oft so meilenweit entfernt von dem, was wir versuchen zu tun. Und kaum einer fühlt sich selbst als Meister! Amadues Webersinke war in diesem Sinne eher ein 'Anti-Meister', stets darauf bedacht, den Werken der wirklichen Meister zu dienen. Respekt, partnerschaftliches Interagieren, nicht diktatorische, sondern durch Kompetenz errungene natürliche Autorität prägt den Meister, der diese oft ganz anders errungen hat als mit lapidarer Freude an Musik, die hier nicht in Frage gestellt sei!
"Kindchen, lassen se mal ihr Gefūhl beiseite": Die so Angesprochene sagt übrigens heute – ich zitiere ihre al-fresco-Erinnerungen:
"unerbittliches Üben der Takte 5-11 (1. Satz op.110 Beethoven); linke Hand – [mit der inneren Vorstellung:] Streichquartett – eine ganze Stunde lang vor versammelter Mannschaft während des Internationalen Musikseminars in Weimar; Zerreißprobe, von der ich heute noch zehre... natürlich im guten Sinne… Kurz danach: 'Ihr müsst die Töne rauspflücken – das ist wie auf einer Wiese mit vielen schönen Blumen' – damit hatte sich die fatale Sache mit dem An-Schlag erledigt; pflücken also, nicht schlagen... Schlüsselerlebnis bis heute und immer weiter gepflegt... "
Amadeus Webersinke wurde am 1. November 1920 im böhmischen Broumov geboren, sein Vater wirkte dort als Studienrat. Am 15. Mai jährte sich sein Todestag zum 10. Mal, er starb 2005 in Dresden, wobei diesem endgültigen Abschied ein Unfall vorausging, der sich ausgerechnet im Zusammenhang mit einer Reise in die böhmische Heimat ereignete. Sein Abitur legte er 1938 ab und er studierte danach von 1938 – 1940 bei Karl Straube, Johann Nepomuk David und Otto Weinreich in Leipzig am Institut für Kirchenmusik. Auch Carl Adolf Martienssen, der bekannte Leipziger, später Berliner Klavierpädagoge und Herausgeber u.a. der Beethoven-Sonaten hat wohl einen großen Einfluss auf den jungen Mann gehabt.
Im Jahr 1940 legte Webersinke die Prüfung als Kirchenmusiker ab und leistete unmittelbar danach Kriegsdienst. 1946 kehrte er als Dozent an das Konservatorium nach Leipzig zurück und war seit 1953 Professor für Klavier an der Leipziger Musikhochschule. Bis dahin wirkte er überwiegend als Organist, danach fast ausschließlich als Pianist. Konzertreisen führten ihn durch ganz Europa, Südamerika, Ägypten, regelmäßig bereiste er Japan für Konzerte und Kurse. Im Jahr 1966 übernahm er eine Professur an der Dresdner Musikhochschule und war hier Leiter der Abteilung Klavier, seit 1972 auch der Meisterklasse für Kammermusik.
Offiziell abrufbare Biografien enden an dieser Stelle und enthalten über diesen bedeutenden Künstler und Pädagogen keine weiteren Angaben außer der Aufzählung einiger Preise, zu denen der Bach-Preis des Jahres 1950 zählt, den er zusammen mit Karl Richter erhielt sowie der Robert-Schumann-Preis der Stadt Zwickau 1974.
Die Pflege der Bach'schen Orgel- und Klavierwerke, auch auf dem Clavichord, lagen ihm besonders am Herzen. Hier setzte er sich auch ständig wieder kritisch mit seinen eigenen Auffassungen und denen anderer auseinander. Freunde berichten, sein Spiel sei klar, aber auch sehr energisch und kraftvoll gewesen. Besonders nachdem er die hochenergetischen Bachaufnahmen von Pablo Casals kennengelernt hatte, unterzog er seine Auffassung einer grundsätzlichen Revision und verwarf alles, was nur virtuose Leichtigkeit in den Vordergrund stellte. Sein Spiel sei seither noch stärker von einer besonderen Qualität eines Affetuoso geprägt gewesen. Auch der Kontakt zu Tatjana Nikolajewa ist durch Erzählungen darüber nachgewiesen. Schüler berichten, sein Spiel sei in der späteren Zeit 'romantischer' geworden – möglicherweise eine Reaktion auf solche Anregungen? Sein letzter Auftritt hier in Dresden war eine von einer großen Fangemeinde besuchte Aufführung des Wohltemperierten Klaviers Teil I, Teil II war bereits in Planung.
Aber Webersinke engagierte sich ebenso für die zeitgenössische Musik, für ungewöhnliches Repertoire und natürlich für die Kammermusik. Er war bspw. Solist der Uraufführung des Klavierkonzerts von Siegfried Köhler, nahm das Klavierkonzert von Max Reger mit Günther Herbig und der Dresdner Philharmonie auf, spielte mit Kurt Masur und dem Gewandhausorchester die Klavierfassung des Beethovenschen Violinkonzertes ein, ebenfalls mit dem Gewandhausorchester unter Franz Konwitschny die Klavierkonzerte von Beethoven und er hinterließ wundervolle Aufnahmen kammermusikalischer Werke mit dem Quartett von Gerhard Bosse, mit Manfred Scherzer, Peter Damm, Jurnjakob Timm und vielen anderen. Insbesondere von Bach und Beethoven, aber auch von Schubert gibt es eine größere Zahl solistischer Einspielungen.
Übereinstimmend berichten seine Schülerinnen und Schüler von seinem Ansatz der Geistigkeit des Musizierens. Es sei ihm um die Übertragung des Geistes über die Finger auf die Tasten gegangen – ohne Schmus und Gefühligkeit. Als Lehrer sei er eine absolute Persönlichkeit, Autorität und Instanz gewesen – im Übrigen sehr streng: Wer nicht geübt hatte, konnte damit rechnen, zum Putzen seins stadtbekannten Fahrrads ins Freie geschickt zu werden. Zurückgeblieben sei in der Erinnerung eine unglaubliche Ehrfurcht vor seiner Herangehensweise, eine Faszination hinsichtlich seiner Bachinterpretation, dieses – ich zitiere eine Aussage – "zwingende unmittelbare vom Kopf in die Finger" und ebenso die Möglichkeit, nach überwundener Angst Freund sein zu dürfen mit "unglaublichem Gewinn, auch emotional in Gesprächen, beim Genießen, Essen...etc". Er setzte sich gegenüber den Hochschulleitungen zu DDR-Zeiten auch für Leute mit "schwarzer Akte" und ohne Parteizugehörigkeit ein, wenn er vom Künstlerischen überzeugt war.
Fast wehmütig wird von der einzigartigen Fähigkeit berichtet, Musik lesen zu können! Mitten im Getöse der Hammerklaviersonate habe Webersinke das Zitat des Bach-Chorals "Gib dich zufrieden und sei stille" entdeckt. Diese Genauigkeit des Studiums habe er weitergegeben – oft auch mit sehr unkonventionellen Methoden. Junge Studenten wurden angewiesen, zur Einstimmung auf den Musikerberuf Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts" zu lesen, während andere wöchentlich über den Stand der Dinge in Hesses "Glasperlenspiel" berichten mussten. Auf diese Weise gab der selbst außerordentlich und vielseitig Gebildete seinen weiten Horizont an die Studierenden weiter. Bulgakows "Der Meister und Margarita" war eine Buchempfehlung Webersinkes gegen Ende der DDR-Zeit.
Auch eine Wandlungsfähigkeit als Pädagoge war offenbar prägend. Die ursprüngliche Strenge sei später einer größeren Warmherzigkeit und Güte gewichen. Manchmal seien die Studierenden gleichermaßen Profiteure wie auch Opfer seiner eigenen Entwicklungen gewesen; wenn ihn gerade eine neue Erkenntnis beschäftigte, wurde sie auf die Schüler übertragen; man habe mit der Zeit gelernt, das, was einem selbst nutzte von dem zu scheiden, was weniger dienlich war.
Groß war seine Ausstrahlung auf die gesamte Pianistenschar der Hochschule und auch auf die Schülerinnen und Schüler der damaligen Spezialschule für Musik. In lebendiger Erinnerung ist etlichen eine gemeinsame Wanderung mit Internatsschülern von Kreischa nach Reinhardsgrimma, wo er den Schülern in der Kirche die historische Silbermann-Orgel mit vielfältigen Klangbeispielen nahebrachte. Das muss zwischen 1968 und 1970 gewesen sein.
Olaf Torsten Spies, spiritus rector des heutigen Abends, schwärmt vom großen Glück, mit Prof. Webersinke während seiner letzten Lebensjahre gemeinsam mehrere Reisen nach Italien unternommen zu haben, "wo wir Konzerte in Klöstern und Kirchen gaben (Orgel und Violine), mit viel Liebe beschenkt wurden und auch den weltlichen Freuden nicht entsagten, meist reich mit Olivenöl, Wein, Käse und prosciutto entlohnt höchst vergnügt und aufgeräumt nach Dresden zurückkehrten. Ich habe ihn dabei von einer ganz anderen Seite kennenlernen dürfen, wobei das meinem hohen Respekt für ihn nie einen Abbruch tat."
"Kindchen, Essen ist Ausdruck höchster Lebensfreude", soll auch einer der originalen Sprüche gewesen sein – wahrscheinlich wurde die auf der einen Seite verfolgte Geistigkeit durch diese zweite Seite seines Wesens aufgefangen. Das deckt sich übrigens mit der Erzählung meines eigenen Vaters, der als Dipl.-Ing. im Chemnitzer Werzeugmaschinenbau und begeisterter musikalischer Laie Webersinke auf einer Dienstreise in Kiew erlebte, ansprach und daraufhin einen genussvollen Abend mit ihm verleben durfte.
Viele Kolleginnen und Kollegen schätzten das Wirken Webersinkes ganz außerordentlich. Stellvertretend sei der Nachruf von Musikern der Dresdner Staatskapelle aus dem Jahr 2005 zitiert:
"Seine eigenen Worte drücken dieses Erleben am deutlichsten aus: Wenn man im Konzert nicht wenigstens einmal das Gefühl bekommt, welches man als Kind bei den ersten Stunden gemeinsamen Musizierens erlebte, dann ist es ein verlorenes Konzert. Nicht zuletzt dank seiner Maxime Wenn man am Vormittag drei Stunden geübt hat, ist man ein besserer Mensch, und der täglichen Yoga Übungen war es ihm gegeben, bis zum Schluss seine Instrumente, die Orgel und das Klavier, in ganz besonderer Weise zum Erklingen bringen zu können, von menschlicher Größe erfüllte Gespräche zu führen und die vielen Stationen seines bewegten Musikerlebens zu Fuß zu erforschen. Die Staatskapelle Dresden verdankt Amadeus Webersinke erfüllte und bewegende Konzerte, Klavierquintette von Brahms, Elgar und Dvořak bei den Kammerabenden oder, wie zuletzt beim Großen Kammermusikfest, das Forellenquintett von Franz Schubert – alle die es miterlebten, werden es als eine besondere Begegnung in ihren Herzen tragen."
So kehren wir am Ende zurück zur besonderen Geistigkeit, die sein Wirken durchzog. In Thomas Manns Doktor Faustus gibt es die originellen Vorträge des Wendell Kretzschmar. Der Erzähler des Romans reflektiert in einer der zentralen Passagen:
"Man sage wohl, die Musik 'wende sich an das Ohr'; aber das tue sie nur bedingtermaßen, nur insofern nämlich, als das Gehör, wie die übrigen Sinne, stellvertretendes Mittel- und Aufnahmeorgan für das Geistige sei. Vielleicht, sagte Kretzschmar, sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemütes, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden." … Und weiter: "Es gebe … ein Instrument, … durch das die Musik zwar hörbar, aber auf eine halb unsinnliche, fast abstrakte und darum ihrer geistigen Natur eigentümlich gemäße Weise hörbar werde, und das sei das Klavier."
Von diesem Jenseits der Sinne aus grüßt uns am heutigen Abend Amadeus Webersinke und wir sind denen dankbar, die uns durch ihr Spiel und die wundervolle Initiative dieser Ehrung und dieses Gedenkens eine Ahnung davon geben werden, was es mit diesem Geistig-Reinen, mit dieser abstrakten, der geistigen Natur der Musik gemäße Weise auf sich haben könnte, ohne die der Spaß nicht zu haben ist…
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Der Autor dankt Prof. Heidrun Richter, Prof. Pia Kaiser, Prof. Winfried Apel (als ehemalige Schülerinnen und Schüler von Prof. Webersinke), Prof. Marlies Jacob (Direktorin am Sächsischen Landesgymnasium für Musik) sowie Olaf Torsten Spies und Martin Jungnickel (Sächsische Staatskapelle Dresden) für wichtige Anregungen, Hinweise und Unterstützung
Besonderer Dank geht an die Musiker Andreas Boyde (London), Matthias Wollong, Olaf Torsten Spies, Martin Jungnickel (alle Sächsische Staatskapelle Dresden), Urs Stiehler (ehemals Münchner Philharmoniker) sowie Winfried Apel (HfM Dresden), die die Initiative dieses Gedenkens durch ihren Auftritt ermöglicht haben.
Nachweise:
https://de.wikipedia.org/wiki/Musik - abgerufen am 12.12.2015
Heinrich Christoph Koch, Musikalisches Lexikon, S. 992; Faksimile Reprint, Kassel 2001
Arnold Schönberg: Harmonielehre. Wien: 2. Auflage 1922. S. 13
Igor Strawinsky: Chroniques de ma vie. Paris: Denoël&Steele 1935. Deutsche Übersetzung Mainz 1957. S. 59
https://de.wikipedia.org/wiki/Amadeus_Webersinke - abgerufen am 12.12.2015
Olaf Torsten Spies, Nachruf auf Prof. Webersinke 2005, Privatarchiv
Thomas Mann, Doktor Faustus, Berlin und Weimar 1965, S. 85/86
klemmdirigiert - 2015-12-17 14:03
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