29
Mai
2010

Eurovision...

Kulturchronist hat ja schon einen Tipp abgegeben...

Mal abgesehen davon, dass ich Genoveva für interessanter als Lena halte - h-Moll ist einfach zu tief für das Mädel. Und vom Absingen einer Quinte wird frau nicht den Contest gewinnen...

PS 00:30 Uhr: Respekt und Gratulation - ein Sieg der Natürlichkeit, der Jugend und des Minimalismus?! Ich habe mich wirklich gefreut! Und meine das ehrlich. (Muss aber zurück zu Genoveva...)

24
Mai
2010

Schumann - GENOVEVA

Genoveva-18371

Es ist ein merkwürdig melancholischer Zug, der die Figur der Genoveva umweht. Was Wunder, bei diesem Geschick. Wobei Schumann als besonders empfindsamer Mensch das Drama noch gut ausgehen lässt, anders als die Dichter Tieck und Hebbel, die seine Vorlagen bilden. Wie der Graf im FIGARO von Mozart bittet Siegfried um Vergebung - nur dass er sein Weib nicht hintergangen hat, sondern zum Tode verurteilt. Nur angesichts eines Kreuzes konnten die Haudegen (was für ein teffender Begriff in dem Fall) Caspar und Balthasar das Urteil nicht vollstrecken und bekamen kalte Füße... Versöhnung, Finale.

Sicher, etwas merkwürdig scheint uns das heute schon. Warum aber jedes viel schlechtere Libretto italienischer Opern oder auch Wagners Seltsamkeiten zu exorbitanten Aufführungszahlen führen, wogegen Schumanns einzige Oper nahezu unbemerkt existiert, bleibt rätselhaft. In Dresden wurde sie komponiert und erklang hier wahrscheinlich ein einziges Mal, nämlich 1882 unter Schuch. Sie ist - ähnlich dem IDOMENEO von Mozart - ein Meisterwerk für Kenner und Liebhaber. Keine Äußerlichkeiten, alles geht in die Tiefe, nach innen. Motivische Bezüge ohne Ende, phantastische Einfälle und wundervolle Lyrismen, prachtvolle Finali - eine Ouvertüre, wie sie für den gleichzeitig den LOHENGRIN schreibenden Wagner völlig undenkbar wäre. Wagner schreibt effektvoller fürs Theater. So weit, so gut. Schumann hingegen schreibt wahrhaftiger.

Am 30. Mai werden das Hochschulsinfonieorchester der Dresdner Musikhochschule, die Solisten Jana Reiner, Falk Hoffmann, Hyunduk Na und Johannes Wollrab in den Hauptrollen sowie die Singakademie Dresden unter meiner Leitung das Stück in der Semperoper konzertant aufführen, Beginn 11 Uhr. Es ist ein Wagnis, mit jungen Leuten, überwiegend Studenten, das Stück zu erarbeiten. Aber es ist eine wundervolle Pflicht und Aufgabe einer Hochschule, Meisterwerke dem Vergessen zu entreißen!

Komponistenlinks

Eine Überarbeitung der Linkliste war überfällig.

Die Begegnung mit Friedrich Schenker (sh. letzter Eintrag) ließ mich die Begegnungen mit zeitgenössischen Kompositionen und ihren SchöpferInnen Revue passieren. Es ist mittlerweile eine ertstaunlich lange Liste geworden - und dabei habe ich bestimmt noch etliche vergessen, sie mögen bitte verzeihen und sich ins Gedächtnis rufen. Viele der Genannten konnte ich sogar persönlich kennenlernen bzw. hatte die Ehre, ihre Musik ihnen selbst vorzuspielen - jedesmal eine Erfahrung der besonderen Art.

Brandenburger Symphoniker

Schenker

Die BRANDENBURGER SYMPHONIKER gilt es zu bewundern: wo andere zu Pfingsten leichte Kost servieren, gibt es hier "Pfingst-Klang-Welten", eine Art lange Nacht der Musik, mit Uraufführungen, Chormusik, Streichquartett usw. usf. In diesem Zusammenhang wurde mir die Ehre zuteil, Friedrich Schenkers "Orchestermusik" aus der Taufe zu heben, ein großes Werk für volles Orchester, schwer, anspruchsvoll, archaisch, farbig... Eine wundervolle Erfahrung - insbesondere auch die Zusammenarbeit mit den engagierten Symphonikern der Havelstadt mit ihrem romanisch-gotischen DOM.

13
Apr
2010

Christian Hauschild +

Hauschild

Mit diesem freundlichen Lächeln haben ihn die meisten, die ihn gut kannten, in Erinnerung. In der letzten Nacht ist Chrsitian Hauschild nach längerer Krankheit verstorben.

Wir verlieren in ihm einen langjährigen Künstlerischen Leiter der Singakademie, der den Chor in schwieriger Zeit geformt und geprägt hat. An dieser Aufbauarbeit, bei der seine Musiklehrer-Tätigkeit an der Kreuzschule, sein Wirken als Stimmbildner des Kreuzchores und als Leiter des Hochschulchores stets Hand in Hand gingen, muss jeder von uns Nachfolgern sich messen lassen. Wir profitieren noch heute davon. Sowohl Hans Christoph Rademann als auch ich selbst - wir sind beide ganz entscheidend von Chrsitian Hauschild gefördert worden: aus der Schule holte er mich direkt als Assistent zum damaligen Beethovenchor. Noch während meiner Schulzeit dirigierte er Morgenstern-Vertonungen aus meiner Feder. Unvergessen sind die großen chorsinfonischen Aufführungen unter seiner Leitung, unvergessen auch die Uraufführungen bedeutender abendfüllender Oratorien von Rainer Kunad ("Stimmen der Völker") und Wilfried Krätzschmar ("...grüß ich dich tausendmal").

Im letzten Jahr durften wir noch gemeinsam seinen runden Geburtstag feiern, schon damals war sein schlechter Gesundheitszustand zu beobachten und erfüllte uns mit Sorge. Nun ist die Laufbahn dieses bedeutenden Chorleiters, der in Dresden, Helsinki und darüber hinaus tiefe Spuren hinterlassen hat, zu Ende gegangen. Mit dem chorus 116 hatte er sich als 'Pensionär' in Dresden nochmals ein Instrument geschaffen, das sein emotionales Musizieren einer breiten Öffentlichkeit vorstellte und gefeiert wurde.

Wir trauern mit allen Angehörigen, mit den Sängerinnen und Sängern, die ihm in letzter Zeit besonders nahestanden und behalten ihn in unseren Herzen und im Gedächtnis.

Die Trauerfeier soll in der Kirche zu Dohna am kommenden Freitag 14 Uhr stattfinden.

Wir gedenken eines treuen Freundes.

9
Apr
2010

5 Konzerte - 10 Dirigenten, 5 PianistInnen, 3 Geigerinnen...

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Das, worauf sich die neue elbland philharmonie da eingelassen hat, ist einzigartig und kann nicht genug gerühmt werden: Das Orchester hat einen ganzen Zyklus von Konzerten (mit einem Programm) in 5 verschiedenen Städten für Studenten zur Verfügung gestellt! Keine internationalen Stars, sondern Studentinnen und Studenten der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, die in zwei Ouvertüren (Albert Dietrich und Johannes Brahms) sowie zwei Solokonzerten (Schumann Klavierkonzert und Mendelssohn Violinkonzert) am Pult stehen bzw. als Soli auftreten dürfen.

Die Konzerte finden in Riesa (11.4.), in Pirna (15.4.), Meißen (16.4.), Großenhain (17.4.) und Zittau (18.4.) statt. Ich selbst dirigiere jeweils ein Drittel des Programmes, den Rest übernehmen die Studenten! Ein gewagtes Projekt, dessen Wert für die jungen Leute riesig ist - und ich bin überzeugt, auch das Publikum wird an den Konzerten viel Freude haben!

Mehr auch unter www.hfmdd.de

25
Feb
2010

alles falsch...

Fällt eigentlich niemandem auf, was für ein hässlicher Biodiskurs das Ganze ist? Der wahre Rassismus tobt sich augenscheinlich heute zwischen Jung und Alt aus, zwischen vitalen Welpen und kulturkonservativem Friedhofsgemüse. Wenn man so weitermacht, hat man bald den schönsten publizistischen Bürgerkrieg.

Und welcher Partei rechnen Sie sich zu?

Mir ging es nicht um Frau Hegemann. Mir ging es um den Irrsinn einer kriterienlosen Literaturdebatte.


(Durs Grünbein im Interview der FAZ zu seiner Verteiigung H. Hegemanns)

Irgendwie köstlich: Grünbein verteidigt Helene Hegemann mit den Worten G. Benns und der Kommentator Wittstock von der WELT fliegt draufrein, weil er den Benn nicht kennt...

Kriterienlos und alles falsch könnte eine Überschrift dieser Tage sein: bei den Elen fährt eine Bischöfin unter Alkohol Auto, tritt zurück und keiner fragt, warum sie denn um Himmels Willen SO ins Auto gestiegen ist. Da lauern doch Katastrophen dahinter?! Aber ob und warum ein Mensch sich einen antrinkt, ist ohnehin nicht so wichtig. Vielleicht hat sie ja gerade eine ganz furchtbare Nachricht verarbeiten müssen oder sich über sich selbst oder ganz andere Leute furchtbar geärgert und im Stillen ihr bischöfliches Amt verflucht? (Achtung: Todsünde Hochmut!)

Derweil lavieren die Olen um ihre Sexskandale in Internaten und Schulen... (Muß der Karikaturist der Dresdner Neuesten Nachrichten nun um sein Leben bangen, wenn er einen Priester mit Schild malt: "Kindergottesdienst nur in Begleitung der Eltern" und drunter schreibt: "Die Kirche reagiert"?)

Wirklich alles falsch z.Zt. Das Abendland scheint unterzugehen. Maazel folgt Thielamnn in München nach - auch falsch, raunen die ersten Kommentare. Keine Sicherheit, nirgends. (Achtung: 66% Plagiat von Christa Wolf).

30
Jan
2010

alles richtig...

Über www.perlentaucher.de erfahren wir von einer Kritik Joachim Kaisers über den Pianisten Maurizio Pollini - Freund Abbados und Luigi Nonos und als solcher mir schon immer sympathisch... (bei der DDR-Plattenfirma Eterna nahm Pollini seinerzeit das gesamte Klavierwerk von Arnold Schönberg auf - noch heute ein Meilenstein!). Zitat:

"Er erschleicht nie Interessantheit, indem er mystifiziert. Er verzichtet darauf, effekthaschend loszulegen, aufzubauschen, wo gar nichts Besonderes passiert. Oder mit Überlangsamkeit zu entwaffnen. Stattdessen macht er alles 'richtig'. Dieses Adjektiv dürfte auf manche Pollini-Bewunderer karg wirken, armselig. Indessen reicht es an das Höchste, was im Interpretations-Bezirk möglich ist. Denn was, beispielsweise, haben uns jene alten Dirigenten, die einst noch Gustav Mahlers legendäre Opernaufführungen in Wien erlebten, über Mahlers unvergleichliches Dirigieren zu sagen gewusst? Eben dies: es sei bei Mahler alles so wunderbar 'richtig' gewesen..."

"Das Hochste, was im Interpretations-Bezirk möglich ist" - danke, lieber Joachim Kaiser. Wir bemühen uns weiter, alles richtig zu machen... (aber recht hat er natürlich!).

12
Dez
2009

"Adventsstern 2009"

Diese beiden sympathischen Herren waren in den letzten Monaten und Jahren Assistenten der Dresdner Singakademie. Am Dienstag verabschieden sie sich und dirigieren Mendelssohn und Martinu im vorweihnachtlichen Konzert der Singakademie:

Pujol Manuel Pujol Kirschner-21 Paul Johannes Kirschner


Ich selbst werde Haydns Harmoniemesse leiten. Eine kurze Vorschau in Zitaten der beiden Musikwissenschaftler Jürgen Hartmann und Wolfgang Stähr, die uns dankenswerterweise phantastische Aufsätze zur Einführung geschrieben haben:

Jürgen Hartmann zu Mendelssohn und Martinu:

Felix Mendelssohn Bartholdy nahm sich im Gegensatz zu dem von ihm bewunderten Johann Sebastian Bach, der die Stationen aus dem Leben Jesu Christi gemäß der Tradition auf verschiedene Kantaten und Oratorien verteilt hatte, eine biografische Gesamtschau vor. Er vollendete das Projekt nicht, und auch Franz Liszt, der fünfzehn Jahre später ein eigenes Christus-Oratorium begann, tat dies nicht in Form einer komponierten Biografie, sondern als Verbindung einzelner Stationen mit überhöhenden religiösem Textmaterial, gerade so, als habe Bach das Weihnachtsoratorium, einige Kantaten und eine der Passionen zusammengefasst. Großes hatte allem Anschein nach auch Felix Mendelssohn Bartholdy im Sinn, indem er Geburt, Leben und Tod Jesu in einem großen Oratorium zusammenfassen wollte. Dies hätte mit „Paulus“ (1836) und „Elias“ (1846) einen inhaltlichen Zusammenhang ergeben, indem alt- und neutestamentliche Themen durch die Christusgeschichte verknüpft werden. Wie bei diesen beiden Oratorien beschäftigte sich Mendelssohn intensiv mit Ideen und Entwürfen, von denen ihn die meisten nicht zufrieden stellten. Im Falle des „Christus“ ist nicht unanfechtbar bewiesen, aber doch wahrscheinlich, dass die überlieferten Fragmente – ein Terzett, Rezitative, Chöre und ein Choral – zu einem Oratorienplan gehören, für den sich in zeitgenössischer Korrespondenz der Titel „Erde, Himmel und Hölle“ (oder auch „Erde, Hölle und Himmel“) findet. „Christus“ kommt als Werktitel erst durch Mendelssohns Bruder Paul bzw. Ignaz Moscheles ins Spiel, der die Äußerung Paul Mendelssohn am 7. November 1847 wiedergibt, einige Tage nach dem Tod des Komponisten ....

Die „Christus“-Fragmente wurden bereits einige Jahre nach Mendelssohns Tod aufgeführt, wobei Ort und Zeitpunkt der eigentlichen „Uraufführung“ unklar sind. 1852 fand in Birmingham, am Ort von Mendelssohns „Elias“-Triumph, eine Aufführung statt, weitere folgten in Wien und Leipzig in den folgenden Jahren. Die Rezensenten urteilten sehr unterschiedlich; in einigen Kritiken finden sich bereits die „Module“ zu den später antisemitisch beeinflusstes Allgemeingut werdenden Einwänden, Mendelssohn sei oberflächlich, habe gar angesichts seiner jüdischen Herkunft das „Christus“-Thema nicht kompetent gestalten können. Tatsächlich hat sich Mendelssohn bemüht, zahlreiche antijüdische Formulierungen in den Bibeltexten zu mildern oder nicht in den Gesangstext aufzunehmen. Raphael von Hoensbroech fasst diese Teilproblematik so zusammen: „Die offensichtlich philosemitische Haltung gegen Ende seines Lebens ist sicherlich mehr als eine bloße Gegenwehr zum längst gesellschaftsfähig gewordenen Antisemitismus seiner Zeit. In dem Sinne einer historischen Abhängigkeit des Christentums vom Judentum konnte er ganz Christ sein, ohne das Jüdische in ihm leugnen zu müssen. Dadurch kam Mendelssohn schließlich dem Bestreben seines Großvaters Moses nahe, die Religionen nicht als gegensätzlich und unvereinbar zu betrachten, sondern auch ihre geschichtliche Beziehung zu würdigen und sie nebeneinander zu akzeptieren.“

Der tschechische Komponist Bohuslav Martinu hat seine „Marienspiele“, in denen die hier aufgeführte „Geburt des Herrn“ der dritte von vier Teilen ist, in Frankreich geschrieben, wo er lange Jahre lebte. Der neben Smetana, Dvorák und Janácek vierte große tschechische Komponist ist in diesem Quartett der am wenigsten Bekannte und am meisten Unterschätzte. Seine Musik, die durchaus französische Einflüsse aufweist, trotz der langen Abwesenheit von seinem Heimatland aber auch dezidiert tschechisch ist, wird heute nach und nach als meisterhaft anerkannt, ohne dass sie von nachhaltigem Einfluss auf die Zeitgenossen gewesen wäre. Sein früher Biograf Harry Halbreich schreibt 1968, keine zehn Jahre nach dem Tod des Komponisten: „Es gehört zum Paradox seiner Kunst, dass sie dem Laien leicht zugänglich ist, dem Fachmann dagegen immer wieder neues Kopfzerbrechen bereitet. Er bedient sich des tonalen Vokabulars, das vertraute Vorstellungen heraufbeschwört, geht aber in der Entwicklung seiner Formgesetze aus dem organischen Wachstum eines jeden Werkes, unmittelbar an Debussy anschließend, durchaus eigene Wege“.


Wolfgang Stähr zu Haydns Messe:

Haydns letzte Messe verrät weder die Verfallserscheinungen eines greisen, schonungsbedürftigen Meisters noch die abgeklärte Milde des weltentrückten Alters. Eher schon könnte von dem Werk eines „zornigen alten Mannes“ die Rede sein. Der Name „Harmoniemesse“ jedenfalls, der nicht von Haydn stammt und sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzte, müsste unweigerlich in die Irre führen, wenn er falsche Erwartungen an Eintracht, Konfliktlosigkeit und ungetrübten Wohllaut weckte. Gerade das Gegenteil ist der Fall in dieser Messe, deren „Harmonie“ als historisches Synonym für ein Bläserensemble aus doppelt besetzten Oboen, Klarinetten, Hörnern und Fagotten zu verstehen ist, wie sie auch Haydn vorsah für seine Partitur – ergänzt allerdings um eine Flöte und zwei Trompeten (sowie Pauken, Streicher und Orgel). Nicht die alles verzeihende Weisheit der späten Jahre spricht aus dieser Musik, vielmehr ein unruhiger, fragender, rebellischer Geist, wenn im Kyrie nach 16 Takten einer sinfonischen Adagio-Introduktion plötzlich der Chor einsetzt oder einfällt, verstörend dissonant und „forte assai“, ein Schockeffekt sondergleichen: ein Aufschrei, Passion und Protest gegen eine aus den Fugen geratene Zeit. Oder wenn Haydn im Credo den Auferstehungsjubel jäh verstummen lässt: „Et exspecto resurrectionem ... mortuorum“, und keineswegs die ins ewige Leben gerufenen, sondern die in ewiger Ruhe entschlafenen Toten unter dem Grabmal einer zweifachen Fermate ins Bewusstsein rückt. Offenbar dachte der in England als „Shakespeare der Musik“ gefeierte Komponist bei diesen verschwiegenen Takten weniger an das katholische Bekenntnis als an den anderen, den ersten Shakespeare, an „The Tempest“ und die Worte des Prospero: „Wir sind aus solchem Stoff, wie Träume sind, und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.“

Dieses erstaunliche Spätwerk ist musikalisch geprägt von leidenschaftlichem Einspruch, von subjektivem Kommentar und tönender Widerrede: von dem auskomponierten Missverhältnis zwischen Wort und Ton. Gänzlich eigenwillig, eigensinnig sogar, komponierte Haydn das Benedictus nicht als Pastorale, als Bildnis des guten Hirten oder als feierlichen Einzug in Jerusalem: „Molto Allegro“, gehetzt und atemlos erklingt dieser Satz, einer Flucht ähnlicher als einer Ankunft. Im Agnus Dei schließlich beschwört die Friedensbitte des „Dona nobis pacem“ paradoxerweise eine erschreckend martialische Musik herauf, mit Pauken und Trompeten, als wollte Haydn, der nie ein Requiem geschrieben hatte, zuletzt noch den Horror des Jüngsten Tages entfesseln, „Dies irae, dies illa“. Es herrschte Krieg in Europa...

4
Nov
2009

Spiegelungen II

Haydn1

Für ein Konzert mit Sinfonietta Dresden am kommenden Samstag, 7.11.09, 19.30 Uhr in der Dreikönigskirche in Dresden, in dem ferner eine UA von Andreas Kersting und ein Stück der estnischen Komponistin Helena Tulve erklingen, entstand soeben der nachfolgende kleine Einführungstext zu Haydns Sinfonie Nr. 85 in B-Dur, genannt "La Reine":

"Dir, liebe Schwester, schreibe ich zum letzten Mal. Ich wurde soeben verurteilt, nicht zu einem schmachvollen Tod, der nur für Verbrecher gilt, sondern dazu, Deinen Bruder wiederzufinden. Unschuldig wie er, hoffe ich ihm in seinen letzten Augenblicken zu gleichen. Ich bin ruhig, wie man es ist, wenn das Gewissen dem Menschen keine Vorwürfe macht. Ich bedaure tief, meine armen Kinder zu verlassen. Du weißt, ich habe nur für sie gelebt und für Dich, meine gute zärtliche Schwester. Du, die Du aus Freundschaft alles geopfert hast, um bei uns zu bleiben – in welcher Lage lasse ich Dich zurück! Durch das Plädoyer des Prozesses habe ich erfahren, dass meine Tochter von Dir getrennt worden ist. Ach, die arme Kleine! Ich wage es nicht, ihr zu schreiben, sie würde meinen Brief nicht erhalten – weiß ich doch nicht einmal, ob dieser hier Dich erreichen wird. Empfange für sie beide hierdurch meinen Segen. Ich hoffe, dass sie später einmal, wenn sie größer sind, sich mit Dir vereinigen und ganz Deine zärtliche Sorgfalt genießen können. Mögen sie beide an das denken, was ich sie unablässig gelehrt habe: dass die Grundsätze und die genaue Befolgung der eigenen Pflichten das wichtigste Fundament des Lebens sind, dass die Freundschaft und das Vertrauen, das sie einander entgegenbringen werden, sie glücklich machen wird."

Es gibt kaum einen größer denkbaren Gegensatz als den zwischen der freundlichen Sinfonie Nr. 85 in B-Dur von Joseph Haydn – von seinen Zeitgenossen "La Reine" genannt, weil die Königin Marie Antoinette das Werk außerordentlich mochte – und dem grausigen Schicksal der aus Österreich stammenden Maria Antonia Josepha Johanna Erzherzogin von Österreich sowie Prinzessin von Ungarn, Böhmen, der Toskana aus dem Haus Habsburg-Lothringen, später Dauphine und danach Königin von Frankreich und Navarra., guillotiniert am 16. Oktober 1793, also kaum acht Jahre nach Entstehung der Sinfonie und nur neun Monate nach der Hinrichtung ihres Mannes, Ludwig XVI. .

"Wie viel Tröstung hat uns unsere Freundschaft in unseren Leiden verschafft! Und das Glück genießt man doppelt, wenn man es mit einem Freunde teilen kann. Wo aber kann man einen zärtlicheren, innigeren Freund finden als in der eigenen Familie? Möge mein Sohn niemals die letzten Worte seines Vaters vergessen, die ich ihm mit Vorbedacht wiederhole: Möge er niemals danach trachten, unseren Tod zu rächen! Ich liebe ihn..."

Der Auftrag zu den sechs Pariser Sinfonien kam von Claude-François-Marie Rigoley, Comte d'Ogny. Der Comte war Mitbegründer des "Concert de la Loge Olympique", neben dem "Concert spirituel" die wichtigste Konzerteinrichtung in Paris. Dahinter verbirgt sich als Träger eine sehr angesehene und wohlhabende Freimaurerloge, die 1779 gegründete Loge "de la Parfaite Estime & Société Olympique". Ein mindestens zu zwei Dritteln aus Berufsmusikern bestehendes Orchester bestand aus 3 Flöten, je zwei Oboen, Klarinetten, Fagotten, 4 Hörnern, 2 Trompeten und Pauken sowie 14 ersten und zweiten Violinen, 7 Bratschen, 10 Celli und 4 Kontrabässen. Denkbar, dass, wer heute eine Haydn-Sinfonie mit 65 Musikern besetzt, der Opulenz und des Romantisierens bezichtigt würde.

Bereits ab 1764 gab es gedruckte Musik von Haydn in Paris – Sinfonien und Quartette. Nach der Aufführung seines "Stabat mater" wuchs der Erfolg Haydns in Paris. Das Repertoire der Konzerte griff zunehmend auf seine Stücke zurück. 1781 betrug der Anteil seiner Sinfonien 17%, 1782 bereits 39%, im Jahr der wahrscheinlich ersten öffentlichen Aufführungen des Zyklus der Pariser Sinfonien machten Haydns Stücke gar 90%, 1789 84% und 1790 immerhin noch 80% aller aufgeführten Werke aus – ein sensationeller Erfolg. Es gilt als relativ gesichert, dass die Sinfonie in B-Dur wahrscheinlich 1985 beendet war. Die weiteren Stücke in C-Dur, g-Moll, Es-Dur, D-Dur und A-Dur datieren von 1785 und 1786, was im Gegensatz zu Nr. 85 durch Autographe belegt werden kann. Der Verleger Imbault, der die Werke 1788 herausbrachte, war selbst Konzertmeister der 2. Violinen, man spielte in blauen Gehröcken und trug Degen.

"Ich muss zu Dir von einer Sache sprechen, die meinem Herzen sehr wehe tut. Ich weiß, wie dieses Kind Dir Qual bereitet haben muss, verzeihe ihm, liebe Schwester, denk an seine große Jugend und wie leicht es ist, ein Kind das sagen zu lassen, was man will, und sogar das, was es selber nicht versteht. Ich hoffe, ein Tag wird kommen, da es um so besser den Wert Deiner Liebe und Zärtlichkeit begreifen wird, die Du beiden entgegenbringst."

Die sechs Pariser Sinfonien können als erster sinfonischer Zyklus der Musikgeschichte betrachtet werden. Die zwölf Londoner Sinfonien folgten in Haydns eigenem Schaffen; möglich, dass Mozart mit seinen drei späten Werken KV 543 (Es-Dur), KV 550 (g-Moll) und KV (C-Dur, "Jupiter-Sinfonie") den zyklischen Gedanken kurze Zeit später aufgriff, die Tonarten entsprechen jenen der Nummern 84, 83 und 82 des älteren Kollegen. Insbesondere aber zwischen der Nr. 85 in B-Dur und KV 543 gibt es verblüffende Parallelen, die vor allem den ersten Satz betreffen: beide Werke beginnen mit einer Einleitung im Stil der französischen Ouvertüre (mit geschärften Punktierungen und im Adagio alla-breve), beide Sinfoniesätze münden in ein Allegro im Dreivierteltakt, das von einem lyrischen Hauptthema – im piano beginnend – getragen wird. Die Zweiunddreißigstel-Ketten des Adagio kehren im Tutti als Sechzenhntel-Tonleitern wieder – auch dies eine Parallele zwischen Haydn und Mozart. Das, was bei Haydn angelegt ist, wird von Mozart groß ausgebaut: seine Einleitung ist bedeutend länger und mündet in bis auf's Äußerste gespannte Dissonanzen, auch der erste Themenkomplex ist größer ausgebaut. Dennoch ist das gedankliche Gerüst deutlich zu spüren und dasselbe geblieben. Was für die Königin "Grundsätze" und "Befolgung der eigenen Pflichten", sind für die Komponisten die inzwischen fest etablierten Hierarchien des Sonatensatzes …

"Ich muss Dir noch meine letzten Gedanken anvertrauen. Ich hätte sie vom Beginn des Prozesses an niederschreiben mögen, aber abgesehen davon, dass man mir nicht gestattete zu schreiben, verlief er so schnell, dass ich in der Tat keine Zeit dazu gehabt hätte. Ich sterbe im apostolischen, römisch-katholischen Glauben, der Religion meiner Väter, in der ich erzogen wurde und zu der ich mich immer bekannt habe. Da ich keinerlei geistliche Tröstung zu erwarten habe, da ich nicht weiß, ob es hier noch Priester dieser Religion gibt, und da auch der Ort, an dem ich mich befinde, sie allzu großen Gefahren aussetzen würde, wenn sie zu mir kämen, bitte ich Gott von Herzen um Vergebung für alle meine Sünden, die ich begangen habe, seit ich lebe. Ich hoffe, dass er in seiner Güte meine letzten Gebete erhören wird so wie alle jene, die ich seit langem an ihn richte, damit meine Seele seines Erbarmens und seiner Güte teilhaftig werde."

… Grundsätze und Pflichten, die wenig später keinen Heller oder Louis d'or mehr wert sind. Zumindest in der Politik. Die Gerüste des Sonatensatzes brechen etwas später zusammen als jene des absolutistischen Staates (der im Übrigen zunächst von einer grausamen Diktatur auf's Schafott geführt wird). Davon ist bei Haydn wirklich gar nichts zu spüren. Am wenigsten in "La Reine" und gleich gar nicht im zweiten Satz, der als sehr intim bezeichnet werden kann. Das darin zitierte französische Lied "La gentille et jeune Lisette" wird als Romance übertitelt und zum Variationssatz ausgebaut. Insbesondere Flöte und Fagott sind mit Auszierungen betraut. Harsche forte-Kontraste und ein Mittelteil im seltenen es-Moll werfen indessen einen deutlichen Schatten auf das ansonsten eher freche Chanson. Vermeinen wir einen melancholischen Unterton zu erspüren oder deuten wir vor dem tragischen Schicksal der Königin diese Nuance nachträglich ins Stück?

"Ich bitte alle, die ich kenne, und im besonderen Dich, liebe Schwester, um Verzeihung für jedes Leid, das ich ihnen unwissentlich etwa zugefügt habe. Ich verzeihe all meinen Feinden alles Böse, das ich durch sie erlitten habe. Ich sage hiermit den Tanten und all meinen Brüdern und Schwestern Lebewohl. Ich hatte Freunde. Der Gedanke, dass ich von ihnen für immer getrennt bin, und das Bewusstsein ihres Schmerzes gehören zu den größten Leiden, die ich sterbend mit mir nehme. Mögen sie wenigstens wissen, dass ich bis zu meinem letzten Augenblick an sie gedacht habe."

Deftig und durch den typisch lombardischen Vorschlag und Rhythmus durchaus französisch anmutend hebt das Menuett an. In seiner Mitte erklingt ein Trio, das eher von Haydns Heimat Österreich erzählt: Fagott und Violinen beziehen sich deutlich auf alpenländische Folklore, die im zweiten Teil einmal richtig 'hängenbleibt' und erst nach einer Fermate wieder Takt und Ton findet.
Das Rondo ist der einzige Satz, der nach der Eröffnung ohne Wiederholungen abläuft. Geradezu stürmisch jagt das Presto dahin. Die Musikwissenschaft kann sich nicht entscheiden, ob sie darin noch ein Rondo oder bereits ein Rondo in Sonatenform erblicken darf – wir kümmern uns nicht um derlei Schubladen und bestaunen die Fülle der Verarbeitung des Hauptmotivs und seines Kontrapunktes. Vor der letzten Reprise bleibt – wie im Trio des Menuetts – auch hier die Musik hängen und weist an dieser Stelle sogar auf Beethoven voraus, der sich in seiner Eroica sicher ebenso auf Mozarts KV 543 bezieht wie auf Haydns "La Reine", ein Titel, unter dem der Verleger Imbault das Werk bereits bei seiner Veröffentlichung apostrophierte.

"Leb wohl, gute zärtliche Schwester! Möge dieser Brief Dich erreichen! Vergiss mich nicht! Ich umarme Dich von ganzem Herzen sowie die armen lieben Kinder! Mein Gott, wie herzzerreißend ist es doch, sie für immer zu verlassen! Leb wohl, leb wohl! Ich werde mich nun nur noch mit meinen geistlichen Pflichten befassen. Da ich nicht frei in meinen Entschlüssen bin, wird man mir vielleicht einen Priester zuführen. Aber ich erkläre hiermit, dass ich ihm kein einziges Wort sagen und ihn wie einen völlig Fremden behandeln werde."

Nein – wir werden "La Reine" nicht vergessen, wie auch Marie Antoinette sie nicht vergessen konnte: in ihre Todeszelle ließ sie sich ein Spinett kommen, um darauf den zweiten Satz spielen zu können.


Literaturnachweis:
Ludwig Finscher, "Haydn und seine Zeit", Laaber-Verlag Regensburg, 2000
Joseph Haydn, Kritische Ausgabe sämtlicher Symphonien, Vorwort von H. C. R. Landon, UE, Wien, 1963
Wikipedia, "Marie Antoinette", darin zitiert der Abschiedsbrief an die Schwägerin Madame Élisabeth
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