11
Okt
2010

Rede zur Anhörung im Sächsischen Landtag zum Thema Musikschulen bzw. Kürzungen der Landesmittel von 5 Mill. auf 3,5 Mill. €

Eine Bemerkung vielleicht vorab: das Thema Musikschulen ist zu sensibel, um damit parteipolitisch Punkte zu sammeln und erst recht ist es völlig falsch für finanztaktische Finessen – ich gehe davon aus, dass Ansinnen in diese Richtung als Hintergrund für diese Anhörung ausgeschlossen sind.

Lassen Sie mich zunächst den von der Landesregierung am 6. August 2009 veröffentlichten KULTUR-KOMPASS – Wegweiser für die Kulturentwicklung in Sachsen – zitieren, wo es heißt: „Der Staat hat die Aufgabe, durch die Herstellung angemessener Rahmenbedingungen – den freien Diskurs und finanzielle Mittel – eine Permanenz der kulturellen Entwicklung zu ermöglichen und das Kulturleben im Lande zu befördern.“ Bei den danach folgenden Thesen zur Kulturpolitik fallen besonders Nr. 2 und 3 ins Auge, wonach Kultur in Sachsen nach der Verfassung Staatsziel ist, als harter Standortfaktor und als Kernkompetenz dieses Bundesland begriffen wird. Der Zugang zur Kultur soll allen möglich sein, das gelte insbesondere auch für die Breitenkultur in ihrer Balance zur Hochkultur. Die Meinung, dass Regionen ohne angemessene kulturelle Infrastruktur gesellschaftlich und politisch zu veröden drohen, ist wissenschaftlich unterlegt und kann nur unterstützt werden.

Auf Seite 29 (von 47) heißt es im KOMPASS: Sachsen ist ein Musikland par excellence. Dass die Tradition zweier berühmter Knabenchöre mit einer „mehr als 400-jährige Geschichte“ zwar mathematisch exakt, dennoch etwas verzerrt wiedergegeben sind, wollen wir nachsehen – 700 – 800 Jahre sind „mehr als 400“…

Etwas erstaunt stellt der Rektor einer Musikhochschule übrigens fest, dass die Musik bei der Erwähnung der Kunsthochschulen fehlt und beide Musikhochschulen unerwähnt bleiben, notabene mit die ältesten und nicht unbedeutendsten in Deutschland.
Im Abschnitt über die Musikschulen wird der „unverzichtbare Auftrag der ästhetischen Bildung und Erziehung vor allem für Kinder und Jugendliche sowohl in der Breiten- wie Spitzenförderung“ ausdrücklich hervorgehoben. Die Arbeit der Musikschulen soll gestärkt und das JeKi-Projekt nach der Pilotphase verstetigt werden.

Soweit der KULTUR-KOMPASS. Um Vergebung, meine Damen und Herren: es scheint ein Magnet aus falscher Richtung diesen Kompass ausgerichtet zu haben, denn statt von Förderung und Stärkung ist seit längerem von Kürzungen und dadurch Schwächung die Rede. Der Magnet aus der falschen Richtung heißt Finanzkrise, Effizienz und kommerzielle Effektivität. Es dürfte allen hier Versammelten klar sein, dass keine Finanzkrise verschwindet, wenn Kultur und Musik verschwinden, dass keine Ausbildung effizienter wird, wenn alle „Neustrukturierungen“ lediglich unter dem Blickwinkel von möglichen Einsparungen getätigt werden und der Gedanke, ob und wie sich etwas rechnet die Frage diktiert, ob und wie ich ein Kind musikalisch ausbilden lasse. Als Vater von 4 Kindern, von denen mittlerweile 2 die Musikerlaufbahn anstreben, möchte ich Ihnen sagen: wirtschaftlich rechnet es sich keinesfalls. Ein ordentliches Horn kostet 5000 €, eine Harfe ab 23 000 €, geschätzte 10-12 Jahre Musikunterricht etwas intensiverer Art belaufen sich pro Kind inkl. Fahrten zu Wettbewerben, zu Musikschulen im ländlichen Raum, zu Kursen, Jugendorchesterprojekten usw. auf gute 15 – 20000 €, da kommt man selbst als Prof. einer Kunsthochschule ins Schwitzen – wir haben für die musikalische Ausbildung unserer Kinder bisher gut 80 – 100 000 € ausgegeben.

Unschätzbar dagegen ist der ideelle Gewinn. Und dabei spreche ich nicht von der mittlerweile erwiesenen Tatsache, dass bestimmte Synapsen in unseren Hirnen besser verkabelt werden, wenn wir musizieren. Nein – von der Seele der Sache ist die Rede.
Diese Seele fängt erst an zu schwingen und dreht den Kompass wieder in die richtige Richtung, wenn wir nach dem Ziel, der Idee fragen. Es kann nicht das Ziel sein, dass Musikschullehrerinnen und – lehrer freiberuflich über Land rasen und an 3-4 verschiedenen (!) Schulen zu niedrigsten Lohnbedingungen, denen jeder Handwerker spottet, unter Stress Musikunterricht geben. Die Idee, Musikunterricht durch Einrichtung von Gruppenunterrichten billiger zu machen, ist eine ganz besonders perfide Variante der merkantilen Sichtweise. Wenn Sie Achterbahn fahren, verehrte Damen und Herren, wollen sie auch drinnen sitzen, um das Kribbeln zu spüren. Musikunterricht ist wie Achterbahn fahren: es gibt Höhen, Tiefen, Überschläge, es gibt Erschauern, Lampenfieber und unbändige Lust und Freude. Aber drinnen sitzen müssen Sie selbst. Vom Zuschauen und –hören ist kein Instrument zu lernen.

Alle Musikschulen – und ich habe in Vorbereitung dieser Anhörung mit mehreren Kontakt gehabt – klagen über folgende Einschnitte:

- der Einzelunterricht ist signifikant reduziert worden, dagegen schnellt der Gruppenunterricht nach oben
- die fest angestellten Lehrerinnen und Lehrer sind fast durchweg reduziert worden, um Kosten zu sparen und billigere
Honorarkräfte einzusetzen
- jede Erhöhung der Gebühren bedeutet weniger Unterricht, insbesondere weniger Einzelunterricht; der Ensembleunterricht wird
dadurch gefährdet

In BY und BW beträgt der Anteil fest angestellter Musiklehrer/innen an den Musikschulen etwa 80%, in Sachsen ca. 50%, in einigen Fällen sogar noch weit darunter. Gemeinsam mit den oben skizzierten Problemen summiert sich die Lage zu einer Situation, die in den letzten Jahren unter dem Diktat finanzieller Probleme die musikalische Ausbildung bereits erheblich verschlechtert hat. Um ein konkretes Bsp. herauszugreifen: in Meißen/Radebeul gab es 1992 5% Gruppenunterricht, 15% EU 30 min., 80% EU 45 min. . Im Jahr 2009 heißen die Zahlen 35% GU, 53% EU 30 min., 12% EU 45 min. Diese Zahlen und diese Gesamtsituation kommen direkt bei den Musikhochschulen an. Die Bewerberzahl aus Sachsen für Orchesterinstrumente ist signifikant gesunken – ein Befund, der dem Bild vom Musikland Sachsen konträr entgegensteht.

Die Musikschulen geben an, dass für freie Mitarbeiter ca. 20 000 € pro Jahr eingeplant werden müssen, für fest Angestellte (mit Sozialleistungen und Arbeitgeberanteilen und durch die Tarifbindung natürlich etwas teurer) 30 000 € p.a. Die Musikschullehrer/innen liegen damit am absolut unteren Ende der Einkommensskala von Absolventen einer Hochschulausbildung. Zum Vergleich: der Absolvent einer Meisterausbildung in einem Betrieb für elektronische Anlagen verdient in BY z.Zt. über 2500 € brutto – und das ist nur das Einstiegsgehalt.

Unattraktiv ist insgesamt das Berufsbild der Musikerin und des Musikers geworden. Jeder weiß, wie instabil auf diesem Gebiet feste Stellen geworden sind. Ob an Musikschulen oder in regionalen Orchestern – überall wird über Auflösungen, Umstrukturierungen, Haustarife auf aberwitzig niedrigem Niveau und Fusionen diskutiert. In Dresden verzichtet gar ein ganzes Theater auf einen Teil seines Lohnes, nur, damit endlich ein neues Haus gebaut wird… All diese Maßnahmen bedeuten Einschnitte, Einsparungen, Abbau. Die Aufrechterhaltung einer „konstanten Förderung“ gilt bereits als großer Erfolg. Solange wir hier nicht umsteuern, werden wir attraktiven Musikernachwuchs in nennenswertem Umfang nicht bekommen. Von den Unermüdlichen halten auch nur jene durch, deren Eltern genügend Geld auf dem Konto haben. Hochtalentierte Kinder aus finanziell schwach gestellten Familien finden unter diesen Bedingungen nicht den Weg zur Musik. Der Beruf des Musizierenden, gleichviel ob singend oder spielend, ist in Verruf gekommen: Keinem deutschen oder sächsischen Elternhaus ist übelzunehmen, wenn es seinen Kindern abrät, sich in diesem Beruf zu profilieren.

Dagegen steht die wachsende Zahl von Musikschülerinnen und –schülern. Es gibt in Sachsen trotz allem den ungebrochenen Willen, Musik als Lebensaufgabe zu betrachten und anzunehmen. Die Preise bei den einschlägigen Wettbewerben von „Jugend musiziert“, die Profilierung großer Jugendorchester und – chöre sprechen für eine eindeutige Sprache. Eine Senkung der Landes-Fördermittel würde gerade bei den Ensembles ganz herbe Einschnitte bedeuten bis dahin, dass die entsprechenden Angebote nicht aufrechterhalten werden können. Vom Enthusiasmus des Musizierens und Förderns musikalischer Ausbildung in China, Korea, Nord- und besonders auch Südamerika scheinen wir momentan allerdings weit entfernt. Dort spielen die Jungs von der Straße Mahler-Sinfonien und 80 Mill. chinesische Kinder (die Zahl ist schon veraltet) lernen z.B. das Instrument Klavier – so viel, wie Deutschland Einwohner hat. Es entstehen Sinfonieorchester und Opernhäuser in Entwicklungsländern, während das Land, wohin diese Länder beim Thema Musik blicken – Deutschland – seine Musikkultur weiter mit sinkenden Fördermitteln in Frage stellt.

Die Hochschulen haben versucht, auf die Situation zu reagieren, indem wir die Angebote gerade im Bereich IGP ganz verstärkt ausgebaut haben. Die Möglichkeiten allerdings werden zu wenig in Anspruch genommen. 15 Studienanfänger im Schnitt (an der Dresdner Hochschule) sind erheblich zu wenig und hängen mit der erwähnten Unattraktivität des Berufsstandes zusammen.

Sie haben mich gebeten, als sogenannter „Experte“ hier zu den Fragen Stellung zu nehmen. Als solcher kann ich nur raten: der Stellenwert der Musikschulen in unserem Land sollte hoch sein und im Zentrum des verfassungsrechtlichen Bildungsauftrages. Er sollte finanziell stabil und personell hochqualifiziert untersetzt werden. Die stetige Absenkung des Einzelunterrichtes halte ich persönlich für eine Katastrophe, den von „Fachgremien empfohlenen Mindestanteil von 30% hauptamtlichem Personal“ (wie im Antrag zur Anhörung vermerkt) für wesentlich zu niedrig.

Lassen Sie uns den Kompass bitte neu ausrichten und falsche Magneten umpolen. Eine Achterbahn der Finanzen würde der sensibel auszusteuernden des Musikunterrichts unnötige Konkurrenz hinzufügen und eine Säule des Freistaates ins Wanken bringen: jene der Kultur und in Sonderheit der Musik, die zum attraktivsten Markenartikel zählt, den der Freistaat zu bieten hat.

6
Okt
2010

Grußwort zum Symposion "populär vs. elitär"

Verehrte Damen und Herren,

ich heiße Sie hier in der HfM Carl Maria von Weber Dresden ganz herzlich willkommen!

„Populär versus elitär“ haben Sie Ihr Thema überschrieben und ich darf Sie etwas provozieren: Ist dieser Titel nun populär oder elitär?
Elitär ist vor allem das „versus“, das dem populus das Verstehen des Anliegens bereits erheblich erschweren könnte…

In seinem wundervollen Band „Musik als existenzielle Erfahrung“ schreibt Helmut Lachenmann im Aufsatz
„Die gefährdete Kommunikation“ (von 1973):

„Das Bedürfnis des Komponisten, verstanden zu werden, ist nicht geringer als das des Hörers, zu verstehen. Die Beziehung zwischen beiden aber ist gestört, genauer: Sie ist entstellt durch Missverständnisse, durch Kontakte der Ratlosigkeit, welche sich an Zufälligem, Äußerlichem, dekorativ Oberflächlichem orientieren. Dass sie zur Norm geworden sind, dass sie es der sogenannten musikalischen Avantgarde ermöglichen, unter dem Aspekt des exotisch-dekorativen, experimentell-abenteuerlichen, antibürgerlich-provokativen Reizes in unserem Kulturleben eine gewisse Rolle zu spielen, rechtfertigt die Missverständnisse nicht und macht sie als vertuschte erst gefährlich.“

In Zeiten, in denen in Lachenmanns Heimat elitäre Bürgerproteste populär sind (oder sind hier populäre Anliegen wie das Funktionieren eines Bahnhofs zu elitär geworden?) oder in unserer Dresdner Umgebung unpopuläre Brücken nicht geschlagen oder gebaut, sondern eingeschwommen werden (wie elitär!) – in diesen Zeiten kämpfen Pöpel und Elite ganz offensichtlich an wechselnden Fronten und sind oft hier und später da zu finden.

So haben Sie eines auf alle Fälle richtig gemacht: Sie haben für das Thema die richtige Stadt gewählt! Eine Stadt, in der im Frühjahr Rebecca Saunders fast populärer war als Lena und die elitäre Oper noch immer mit einer populären Brauerei verwechselt wird. Eine Stadt, in der Richard Wagner zur Elite der Aufständischen gehörte und recht unpopulär fliehen musste, in der gleichzeitig Robert Schumann für die damals populären bürgerlichen Gesangsvereine sehr elitäre Musik schrieb – die achtstimmigen Gesänge op. 141 z.B. – und bald darauf als Unverstandener ebenso die Stadt verließ. Von den Gesängen hatte er einen probiert und das Studium danach wegen der Schwierigkeit offenbar abgebrochen. Nach siebenjährigem Ringen mit einem Gesangsverein heutiger Zeit habe ich kürzlich diese Gesänge erst in einer Kirche, dann in einem Biergarten, zuletzt in einem Einkaufszentrum aufgeführt – die Elite von einst dürfte damit etwas populärer geworden sein.

Möge es Ihrer Tagung und dem wichtigen Anliegen ebenso gehen – und vielleicht können Sie nach den 2 Tagen wie das Heft 5 von 'brand eins' dieses Jahres jubeln: Dieses Thema macht sexy – Schwerpunkt „Der Sieg des Irrationalen“.

brandeins

Mittendrin ein Aufsatz, bei dessen Motto ich jetzt mal die Physik durch Musik ersetze: „Die Liebe zum Sowohl-als-auch“ – Es ist vernünftig, alles für möglich zu halten. Es ist vernünftig, nur der Musik zu vertrauen. Aber was ist dann unvernünftig? Beides zu tun.“
In diesem Sinne kann ich Sie nur ermuntern: Streichen Sie das „versus“ und verhelfen Sie uns zum Glauben an den Sinn und die Existenz von Parallelwelten!

29
Sep
2010

Entschuldigung...

Als kleine Entschuldigung hier ein Link, der meine signifikante Abwesenheit möge erklären helfen...

http://www.dresdeneins.tv/nachrichten/Musikhochschule_Programm_20102011-417.html

17
Jul
2010

Siegfried Kurz zum 80.

Siegfried-Kurz

(leider kein sehr scharfes Bild, aber immerhin ein recht aktuelles)

CD-Tipps: Romantische Hornkonzerte mit Peter Damm; Vorklassische Hornkonzerte mit Peter Damm; Levins Mühle von Udo Zimmermann; Verdi, RIGOLETTO; Donizetti, DON PASQUALE; Kurz, Trompetenkonzert (u.a.); Tschaikowski, 5. Sinfonie mit der Dresdner Staatskapelle; Harfenkonzerte mit Jutta Zoff; Opernszenen mit Reiner Goldberg;
Rosenkavalier mit der Dresdner Staatsoper aus dem "La Fenice"

"O Wort, du Wort, das mir fehlt!"


Der berühmte Satz am Ende von Schönbergs unvollendeter Oper MOSES UND ARON könnte treffender nicht das Dilemma eines Dirigenten, Komponisten und Dirigierlehrers umreißen, mithin eines Menschen, der durch Hände und Töne stumm ausdrückt und gestaltet.

Zum ersten Mal nahm ich diesen Text am Ende eines Abends wahr, der zu den nachdrücklichsten Erfolgen des Jubilars gehörte. Wer immer die Aufführung im Großen Haus erlebt hat, wird sich an die entwaffnend einfache Lösung Harry Kupfers für den brennenden Dornbusch ebenso erinnern wie an die phänomenale Leistung von Reiner Goldberg, Werner Haseleu, von Staatsopernchor, Staatskapelle und eben: Siegfried Kurz am Pult. Ein Meilenstein der Dresdner Operngeschichte; ich selbst erlebte die Produktion als Schüler – nicht ahnend, dass der Mann im Graben wenig später mein Lehrer sein würde.

Es fehlen die Worte, die Leistungen des Dirigenten Kurz zu würdigen: er war als GMD in Dresden und Berlin über Jahrzehnte ein Garant hervorragender Aufführungen, beherrschte traumwandlerisch das große Repertoire, das er außer den genannten Städten auch u.a. in Leipzig (TRISTAN und ROSENKAVALIER), in Paris (RHEINGOLD), Buenos Aires (ROSENKAVALIER), Bonn (WOZZECK, PARSIFAL, DER FEURIGE ENGEL), Genf (WOZZECK), in Japan, den USA und anderswo dirigierte.

Ich darf mich glücklich schätzen, ungezählte Abende mit Kurz am Pult erlebt zu haben. Viele davon sind in lebhafter Erinnerung. Während einer ZAUBERFLÖTE in Dresden führte er mir vor, dass man das 'Sprecherrecitativ' durchaus mit nur einer Hand (samt Stab) dirigieren kann, die alles Nötige zu zeigen imstande ist. Die Linke wanderte demonstrativ auf den Rücken. Das Orchester mag sich gewundert haben, was mit dem Dirigenten passiert sei – allein der Schüler in den oberen Etagen des Opernhauses ahnte, wem die Lehrvorführung galt… Unvergessen sind die Perfektion der Ensembles in FALSTAFF, die Sicherheit der Begleitung in RIGOLETTO oder TOSCA (in Dresden und Berlin), die Choreografie der linken Hand für die Einsätze der 5 Soli im Judenquintett der SALOME. Das Stück übernahm Kurz innerhalb eines Tages für einen erkrankten Dirigenten in der Berliner Staatsoper, nachdem er es über ein Jahrzehnt nicht dirigiert hatte. Das Dirigat war der Grundstein für die Tätigkeit in der Lindenoper. Nachdrücklich im Gedächtnis bleiben auch der Dresdner TANNHÄUSER (mit den fulminanten Tenören Goldberg oder König), die Berliner MEISTERSINGER mit einer an Präzision nicht zu übertreffenden 'Prügelfuge' sowie Vorstellungen des ROSENKAVALIER, dessen Walzer kaum farbiger, pointierter, im Tempo flexibler denkbar sind. Ein Gastspiel der alten Dresdner Produktion im "La Fenice" existiert sogar als Live-Mitschnitt auf CD und gibt Kunde von der Qualität der damaligen Dresdner Ensemblekunst. Eins darf nicht vergessen werden: Unter Kurz musizierte das Orchester leise! Sehr energisch schnellte die Linke nach vorn und verlangte sofortiges Dämpfen der Lautstärke. Strauss' ELEKTRA war ein kammermusikalisch durchhörbares Stück und in der Inszenierung der Berghaus in Dresden bei Kurz am leisesten.

Ich erlebte FREISCHÜTZ, FIDELIO, ENTFÜHRUNG, ONEGIN, RUSALKA, IL TRITTICO, LOHENGRIN unter Leitung des Jubilars. Hinzu kamen viele Konzerte, u.a. Bruckners 2., Dvořaks 8. Sinfonie, Stravinskis "Petrushka". Hier war ich in einer Hauptprobe. Bei einem 5/8-Takt, der ständig zwischen 2+3 und 3+2 wechselt, passte sich Kurz der Struktur an und dirigierte wechselnd: Das Ergebnis war unsicher, verunsichert war auch der Schüler. Im Konzert wurde durchgehend 2+3 dirigiert – die Stelle war perfekt zusammen, der Schüler aufgeklärt.

Selten erlebte ich den Dirigenten aufgeregt oder nervös. Angespannt wohl öfter, 'auf dem Sprung' ohnehin immer. Wirkliches Lampenfieber vermute ich noch heute vor der Aufführung am 13.2.1983 in Leipzig: Für die Gedenkvorstellung zum hundertsten Todestag von Richard Wagner hatten Gewandhaus und Opernhaus TRISTAN angesetzt und Siegfried Kurz eingeladen. Meines Wissens dirigierte er das Stück erstmals und hatte nur wenige Proben vorher. Kurz kämpfte etwas mit dem Orchester, das sein pünktliches Spielen 'auf den Schlag' nicht gewohnt war – die Linke zeigte mehrmals auf die Stockspitze, bald wurden die Mahnungen erhört. Mir ist ein grandioser Erfolg in Erinnerung.

Neben den schon erwähnten Opern Bergs und Schönbergs war Siegfried Kurz mit dem LUKULLUS, dem LANZELOT von Paul Dessau, der ANTIGONE von Orff oder mit LEVINS MÜHLE von Udo Zimmermann auch stets ein Anwalt des Ungewohnten und Modernen.

Das sollte nicht verschwiegen werden: oft genug ein unbequemer Anwalt! Musikerinnen und Musiker fürchteten seinen in gediegenem Sächsisch vorgetragenen Zorn ebenso, wie Sängerinnen und Sänger schon in der Pause damit rechnen mussten, ins Zimmer des GMD gebeten zu werden... Die so Kritisierten rühmen heute fast alle und ausnahmslos die Gründlichkeit, die Genauigkeit und den Furor, der hinter allem Ärger stand. Es ging Siegfried Kurz stets um die Sache.
Sauberes Handwerk prägte sein Dirigieren, detaillierteste Partiturkenntnis sein Arbeiten, lebendiges Musizieren seinen Stil. Und noch heute erinnern sich viele der wundervollen Führung durch die Hand des in den Proben so ungnädigen Dirigenten.

1979 wurde ich sein erster Hauptfachschüler im Dirigieren. Die erste Stunde verging mit den einleitenden 8 Takten der Freischütz-Ouvertüre – und auch danach nahm das Arbeitstempo keineswegs deutlich zu. Der Unterricht fand in der Regel montags 8 Uhr in der Hochschule statt, 10 Uhr hatte Kurz Probe im Großen Haus. Ein Schüler spielte, manchmal ein zweiter, einer dirigierte. Unterricht in der Oper gab es manchmal donnerstags 13 Uhr im Zimmer des GMD – dann ohne Handschlag zur Begrüßung: "Wenn ich hier jedem die Hand gäbe, müsste ich 300 mal am Tag die Hand geben!" war die nüchterne Begründung für die verständliche Maßnahme. Beim Handschlag am Montagmorgen dagegen war zu überprüfen, wie erfolgreich das Wochenende in den Bergen der Sächsischen Schweiz verlaufen war: Es kam vor, dass ein Sturz zu Problemen beim Händeschütteln führte – die Leidenschaft des Kletterns war ein wichtiger Ausgleich für den bodenständigen Dirigenten.

Tempo und Rhythmus sowie die Sauberkeit des Dirigats waren Hauptthemen beim wöchentlichen Treffen, das auch in Sachen Klarheit der Kritik keine Fragen offen ließ. An die Direktheit musste man sich gewöhnen – sie überstanden zu haben ist wahrscheinlich der größte Gewinn. 14 Jahre nach dem letzten Unterricht wohnte Kurz einer von mir dirigierten Probe in der Semperoper bei, wo ich kurzfristig einen Aufführungsabend der Staatskapelle übernommen hatte – plötzlich sah ich den Maestro im Parkett sitzen. Statt einer irgendwie gearteten Begrüßung mahnte er aus 20 Metern Entfernung überdeutlich an, ich solle die Eins gefälligst ordentlich nach unten schlagen. Weitere 10 Jahre später, also 24 nach dem Studium traute ich den Ohren nicht: "Das mit dem Stock machen Sie ja jetzt schon ganz gut." – im gleichen Atemzug kam Kritik zu den Tempi in Strauss' "Till Eulenspiegel". Sie war ebenso berechtigt wie konstruktiv und hilfreich. Es kam vor, dass nach der Semesterpause der Unterricht begann mit einem "Vor allem ist es ja so…", worauf eine Auseinandersetzung mit dem Thema der letzten Stunde folgte, die 10 Wochen zurücklag. Kein Austausch über den Urlaub etc. – immer an der Sache orientiert. Bei einer der letzten Begegnungen innerhalb des Studiums kam mir die Aufgabe zu, einen Kollegen am Klavier zu begleiten: CARMEN, Quintett, 2. Akt, Des-Dur, schnell und schwer. Ich stümperte mich durch und wunderte mich, dass keine Kommentare kamen. Die Stunde schloss mit einem "Na, Klemm, hast wohl mit Deiner pianistischen Laufbahn auch schon abgeschlossen". (Man stelle sich den Satz in durchaus deutlich sächsischem Akzent vor.) Gott sei Dank war der Humor ein ständiger Begleiter des Weges.

Es fehlen die Worte, diesen nachzuzeichnen und Siegfried Kurz mögen beim Beschreiben des Phänomens Dirigieren bisweilen jene des Erklärens gefehlt haben: es war alles in allem ein wundervoller, mitunter eben sogar heiterer Weg, ganz auf die Erlernung des dirigentischen Handwerks konzentriert. Nach mir gingen ihn u.a. Gerd Herklotz, Martin Hoff, Hans Christoph Rademann, Eckehard Stier, Michael Güttler, Maja Sequiera, Annunziata de Paola – allesamt erfolgreiche Dirigenten, die ihren Weg gefunden haben.

"O Wort, du Wort, das mir fehlt"... – nicht zuletzt könnte das ein passender Wahlspruch für einen Komponisten sein. Zumal für einen, der vor allem wegen seiner Dirigenten- und Lehrtätigkeit als Tondichter in den letzten Jahren verstummte. Sein als junger Mann mit Schwung hingeworfenes Trompetenkonzert gehörte seinerzeit sogar zum Schulstoff: ein noch heute interessantes Dokument lebendigen, modernen Komponierens aus den 50-er Jahren. Bedeutende Stücke kamen später hinzu: das Hornkonzert für Peter Damm, 2 Sinfonien, ein Klavierkonzert, Kammermusik und sogar ein Musical.

Wir sagen Dank für ungezählte musikalische Erlebnisse unter seiner Stabführung – hier in Dresden allein über 2000 Abende!, insgesamt nahezu 3000! Danke für eine unvergessliche Zeit des Lernens! Glückwunsch zum Achtzigsten – Siegfried Kurz!

5
Jul
2010

dpa-Meldung von heute

Kultur News
Klemm neuer Rektor der Dresdner Musikhochschule
dpa

Der Dirigent Ekkehard Klemm wird im September neuer Rektor der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber" in Dresden. Der 51-Jährige wurde am Montag mit deutlicher Mehrheit vom erweiterten Senat für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt, teilte die Hochschule mit. Der scheidende Rektor Professor Stefan Gies durfte nach zwei Amtszeiten nicht noch einmal kandidieren konnte. Der aus Chemnitz stammende Klemm war einst Mitglied des Dresdner Kreuzchors. Seit knapp sieben Jahren ist er Professor für Dirigieren und künstlerischer Leiter des Sinfonieorchesters an der Dresdner Musikhochschule. Dort sind derzeit rund 600 Studenten eingeschrieben.

© DNN-Online, 05.07.2010, 13:57 Uhr

28
Jun
2010

Romanzen und Balladen – der Dresdner Schumann und seine Zeit

(ein Nachtrag zum gerade zu Ende gegangenen Elbhangfest in Dresden, das die Singakademie mit einem Konzert mit Romanzen und Balladen eröffnet hat; Motto des Festes: "Der Elbhang träumt")

Vorab: die Singakademie Dresden ist nicht der direkte Nachfolger des von Robert Schumann 1847 gegründeten "Verein(s) für Chorgesang" (später "Robert Schumannsche Singakademie"), auch steht sie nicht in direkter Linie zur "Dreyssigschen Singakademie". Dennoch führen naturgemäß viele Bezüge zu diesen ersten bürgerlichen Gesangvereinen in Dresden. Die 1884 erfolgte Gründung des Lehrergesangvereins (zunächst als Männerchor, unter Fritz Busch dann ab 1927 mit Frauenchor) weist indessen sowohl personelle als vor allem ideelle Verbindungen auf. Die von Schumann selbst beklagte Unterentwicklung des bürgerlichen Musiklebens in Dresden schlägt sich auch in der gegenüber anderen Städten späteren Gründung entsprechender Vereine nieder.

Vor diesem Hintergrund können die Dresdner Bemühungen Schumanns um die Belebung des Chorgesanges nicht hoch genug gewürdigt werden! Er geht bei den Anforderungen seiner Werke auch deutlich über das etwa von Zelter oder auch Mendelssohn geforderte Maß an Schwierigkeit hinaus. Keine der Motetten Mendelssohns oder der Kompositionen Zelters verlangen harmonisch oder strukturell das, was Schumann bspw. in den Chören op. 141 oder dem 8-stimmigen Finale der "Faust-Szenen" seinen Sängern 'zumutet'. Möglicherweise erklären sich Ungeduld oder Resignation des Chorleiters Schumann auch von dieser Seite her?

Die gewaltige Entfaltung des Chorlebens in Dresden in den letzten Jahrzehnten hat uns u.a. eine große Zahl von Kammerchorgründungen gebracht, in denen auf professioneller oder zumindest semiprofessioneller Basis gearbeitet wird (incl. der dafür nötigen Bezahlung). Es war das Bedürfnis der Singakademie und mir selbst, zu prüfen, inwieweit die äußerst anspruchsvolle Literatur tatsächlich von Laien bewältigt werden kann. Ich denke: Sie kann. Aber der Anspruch ist 2010 nicht niedriger als 1848 oder 49. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass von den 4 Chören op. 141 Schumann wahrscheinlich nur einen einzigen (den ersten) mit seinem eigenen Verein probierte (wie Thomas Synofzik in der gerade erschienenen Publikation der "Dresdner Hefte 102" auf S. 71 feststellt). Die doppelchörigen Gesänge sind darüber hinaus lt. Titelblatt "für größere Gesangsvereine" gedacht. Sie leben vom breit entfalteten Chorklang, den wiederzugeben wir uns bemüht haben. Sicher ist: Auch heute sind diese Werke für einen Laienchor Grenzerfahrungen und Herausforderungen ganz besonderer Art.

Schumann selbst und seine Frau Clara waren sich klar darüber, dass das Genre der Balladen und Chöre aus Roberts Feder Neuland sind. Über die Balladen op. 67 schreibt er an den Verleger, er habe "mit wahrer Passion eine Sammlung Balladen für Chor zu schreiben angefangen; etwas, was, wie ich glaube, noch nicht existiert". Hinsichtlich der Chöre op. 141 ist vom "bis jetzt unbebauten Terrain" die Rede. In seinem Buch "Schumann und seine Zeit" schreibt Arnfried Edler (S. 226):

"Seitdem insbesondere Herder im 18. Jahrundert die Volkspoesie als eine Hauptquelle der Literatur wiederentdeckt hatte, war die Ballade als Inbegriff des Ausdrucks des Volksgeistes ins allgemeine Bewusstsein eingegangen und in diesem Sinn auch in die Kunstdichtung übernommen worden. … Goethes Auffassung von der Ballade als einem 'lebendigen Urei' der Poetik (1821) ist für diese Einschätzung ebenso bedeutungsvoll wie die ein Jahr später erschienene Sammlung Balladen und Romanzen des polnischen Adam Mickiewicz. Von daher lag es nahe, die Ballade zu einer zentralen Gattung des bürgerlich-liberalen Gesangswesens werden zu lassen, nachdem sie in den Sologesängen Carl Loewes bereits Einzug in die bürgerliche Hausmusik gehalten hatte. Mit dem Chorverein, den er in Dresden leitete, begann Schumann deshalb mit der Erprobung dieses neuen Genres."

Und Peter Gülke ergänzt in seinem soeben erschienenen Band "Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik" (S. 184/185)

"Auch die Vokalkompositionen seit den späten vierziger Jahren signalisieren einen Neuanfang, zumindest Neuorientierung. Bei Chören spielt die Konstellation, in der gesungen wird, in besonderem Maße mit, bis hin zu Interessenlagen und Klima der Gemeinschaft, in der sich das Komponierte bewähren muss. Hier am ehesten ist Schumann vormärzlich …"
"Angesichts eigener kommunikativer Schwierigkeiten mag Schumann das Auf-du-und-du im Umgang, Singen und Arbeiten mit Chören als Therapie empfunden haben … Ohne die Aspekte der Gebräuchlichkeit zu vernachlässigen, exzelliert er, nicht anders als bei vielen Liedern, in melodischen, metrischen, harmonischen, deklamatorischen, polyphonen Subtilitäten und fordert den Singenden, …, ein Äußerstes ab. Wenn irgendwo Chorkomposition damals avantgardistisch war, dann hier."


Die Balladen und Romanzen op. 67 sind "kleine Mini-Dramen" (Th. Synofzik, Schumann-Handbuch, S. 470). Auffallend ist der einheitliche Ausgangspunkt: Wir vermeinen, schlichte Volksweisen zu hören – und werden ganz elegant auf's Glatteis geführt, denn jedem Stück gewinnt Schumann einen ganz besonderen Klang und Effekt ab. Im "König von Thule" läuft eine Tenorstimme mit dem Sopran parallel und erweitert den Satz zur Fünfstimmigkeit; große dynamische Bandbreite mit fortepiano-Effekten prägt "Schön-Rohtraut", ein wunderbar ironisch gefasster Satz; geradezu lakonisch kommt Goethes "Heidenröslein" daher – ein Gegenentwurf zu anderen Vertonungen, etwa von Moritz Hauptmann; ins Dramatische gesteigert wird Chamissos "Ungewitter"; in feiner klanglicher Abstufung singen die Altistinnen in "John Anderson" eine Sopranpassage direkt nach und zeigen, wie sensibel Schumann mit Klangfarben auch im Chor spielt und den dunkleren Alt dem helleren Sopran bewusst entgegensetzt.

Der Dichter Laube war ein jungdeutscher Publizist. Für den Dresdner Kapellhornisten J. R. Levy und seine Kollegen entstanden verschiedene Werke, die Jagdlieder im Mai 1849 – also in unmittelbarer Parallelität zu den revolutionären Ereignissen. Über den 7. Mai schreibt Philipp Eduard Devrient:

"Mir scheint es ungeheuer. Hier ist kein gewöhnlicher Aufstand; es ist eine der ersten Schlachten, welche ein Land gegen seine Fürsten schlägt. … diese Ausdauer im fünftägigen Kampfe, diese auf bestimmte Ideen gerichtete entschlossene Gegenwehr beweist den Anfang des neuen deutschen Freiheitskampfes."
(zit. nach E. Burger, Robert Schumann, Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, S. 262)

Die anfängliche Euphorie weicht im August entsetzlicher Trauer. Ein Dresdner Bürger schreibt über den 9. August:

"Die wogende Menschenmenge … bot ein Bild tiefer Niedergeschlagenheit und Trauer; ernst und schweigsam standen auch die militärischen Sieger – sie fühlten das Leid mit, das über Dresdnes Bevölkerung eingebrochen war und ehrten deren Schmerz. … die städtischen Düngerwagen, welche zum Fortschaffen der Leichen durch alle Straßen fuhren – die noch auf den Gassen liegenden, mit geronnenem Blute bedeckten, verstümmelten Körper – und dann das Schreien und Händeringen der Weiber, der Kinder, die ihre Väter suchten, ihre Ernährer! – Welch ein Anblick!"

In diesem Kontext wirken die Jagdlieder beinahe deplatziert – aber sie gehören ins Frühjahr, nicht in den Sommer, an dessen Ende die Aufführung des 3. Teiles der "Faust-Szenen" im Palais des Großen Gartens gehört – mithin die Hinwendung zur Poesie, mit der Schumann den Riss in der Welt heilen wollte. Die Jagdlieder sind übrigens nicht ohne einen gewissen Sarkasmus, etwa wenn vom "geschossnen Kameraden" gesungen wird, der das Opfer der Eile und des zu früh losgegangenen Schusses wurde… Erheiternd wirken die Repliken auf den "Franzosen", der seinen Wald "überlichtet" hat und "singende Vögel schießt, der Fant!"; während in "Engeland" "Fabriken klappern und stampfen, Maschinen hämmern und dampfen". Europäische Agrarpolitik anno 1849.

Aus dem März des gleichen Jahres stammen die "Romanzen für Frauenstimmen op. 91. Im Chor wurde offenkundig bisweilen getrennt probiert und gesungen. Tatsächlich passen die Texte auch besonders zur weiblichen Stimme. Vom Schicksal mehrerer Jungfrauen ist die Rede, von Hochzeitskränzlein, Röslein, von des Wassermanns Weib, vom verlassenen Mägdlein und einem Laden in des Meeres Mitten. Ganz und gar grausig – auch harmonisch nachvollzogen – erscheint "Der Bleicherin Nachtlied" mit dem fürchterlichen Refrain: "Bleich, bleich muss alles Ende sein." Düster und unisono vereinen sich dabei die Stimmen in D-Moll. Melodisch, harmonisch und satztechnisch sind auch diese Stücke von erlesener Schönheit.

Einen Kontrast bilden die 4 Männerchöre von Mendelssohn (1809 – 1847), Marschner (1795 – 1861; in den 20-er-Jahren Kapellmeister in Dresden), Reinicke (1824 – 1910) und Julius Otto (1804 – 1877). Sie alle standen mit Schumann in Verbindung, Mendelssohn ohnehin; Marschner war vor Schumann in Dresden tätig und wurde vom Letzteren hochgeschätzt, Reinicke war mit ihm freundschaftlich verbunden (besonders in Düsseldorf), Otto war Kreuzkantor von 1828 – 1875, zeitweise auch Leiter der Liedertafel, die Schumann kurzzeitig dirigierte. Die teils heiteren, teils deftigen Gesänge zeigen ein farbenfrohes Bild des Männerchorgesanges, der als Vorläufer des bürgerlichen Gesangvereins angesehen werden muss. Und wer in Dresden könnte sich eines Schmunzeln erwehren, wenn beim "Langen Magister" das treffliche Bild eines Lateinlehrers der Kreuzschule gezeichnet wird…

Nach diesem Ausflug in den Humor kehren wir mit den Gesängen 0p. 141 zurück zu Schumann und zu einer seiner subtilsten und vielleicht auch artifiziellsten Schöpfungen.
Doppelchörig beginnen die "Sterne, in des Himmelsferne" von Rückert, ehe Halbtonrückungen bei "schaun nicht Geisteraugen" erste harmonische Irritationen bringen. Eine zweite Strophe bestätigt zunächst die erste. Im dritten Anlauf wendet sich die Harmonie von G-Dur nach E-Dur und H-Dur, ehe die vierte Strophe das Tempo anzieht und einen Aufschwung bringt, der bei "Hoffend, glaubevoll!" wieder zurücksinkt in die Atmosphäre des Beginns. Schumanns "Florestan" scheint den "Eusebius" der Nummer 1 in Nummer 2 ("Ungewisses Licht") ablösen zu wollen. Kernig und mit punktierten Rhythmen, "lebhaft und sehr markiert" hebt die Musik an. Irrlichternd verkünden Soli einen Schimmer "von fern", der zwischen E-Moll und H-Dur chargierende Schluss balanciert wie der Text: "Ist es die Liebe? Ist es der Tod?" Nummer 3, "Zuversicht", ist mit besonderer Raffinesse strukturiert: "Nach oben musst du blicken" heißt der Text, die Außenstimmen aber streben auseinander, während die Mitte vorerst beim Ton D verweilt. Verschiedene Ausbruchsversuche werden über einen langen Orgelpunkt (Ton G) am Ende wieder hinab geführt – das Bleiben und wundervolle Verweilen der Liebe symbolisierend? Dem antwortet in Nummer 4 der Text Goethes. "Mit Kraft und Feuer" schreibt Schumann vor, wobei "Ruhe" und "Frieden" stets auch mit langen und tiefen Noten vertont werden. In geradezu impressionistischer Manier lässt Schumann Klänge des einen Chores in den des anderen hineinragen, sie überlagern sich und lösen einander ab, um immer wieder in den Quartschritt zu münden "Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!" Die harmonisch aufregendste Passage des gesamten Zyklus (und Abends…) ist die verwegene Chromatik bei "Mich verwirren will das Irren". Sie wird mit den Worten des 2. Soprans "Doch du weißt mich zu entwirren" wieder zurück nach C-Dur gebracht. Nach großem Aufschwung und vollem fortissimo endet das Stück in tiefer Ruhe und mit dem Wort "Amen". Hier spricht der Komponist der großen und bedeutenden "Faust-Szenen". Die Gesänge op.141 sind ein Pendant dazu im Bereich der A-cappella-Literatur und weisen weit voraus auf spätere Werke von Max Reger ("Vater unser"), Richard Strauss ("Deutsche Motette") oder Günter Raphael ("Im Anfang war das Wort"). Sie manifestieren Schumanns Leistung, als Komponist – gerade auch von Chormusik –Avantgarde verkörpert zu haben.

Die Tatsache, dass diese Werke in Dresden entstanden sind, sollte uns Verpflichtung sein.

Im Großen Garten bisweilen noch auf denselben Wegen und unter denselben Bäumen laufen zu dürfen wie Clara und Robert Schumann indessen erfüllt mich mit tiefer Ehrfurcht, dem Gefühl innigster Rührung und Verbundenheit. Es lässt mich träumen, wenn auch zwei Meilen vom Elbhang entfernt…

22.6.2010
Ekkehard Klemm

Literaturhinweise:
Schumann Handbuch, hrsg. von U. Taddey, Bärenreiter/Metzler, Stuttgart, 2006
Ernst Burger: Robert Schumann – Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, Schott, Mainz, 1999
Peter Gülke: Robert Schumann – Glück und Elend der Romantik, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2010
Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit, Laaber, Regensburg, 1982/2002
Dresdner Hefte, 28. Jahrgang, Heft 102: Robert Schumann in Dresden, Sandstein Verlag, Dresden, 2010

16
Jun
2010

Konzert mit der Sächsischen Staatskapelle

Am 23.6. erklingt in der Semeroper Dresden ein Aufführungsabend der Sächsischen Staatskapelle unter meiner Leitung. Weitere Infos unter der Adresse der Semperoper.

Saunders

Rebecca Saunders ist (war) diese Saison "capell-compositrice" des Orchesters. "fury II" ist ein Ensemblestück für Kontrabass und Instrumente. Eingerahmt wird die Uraufführung von einer vielleicht etwas ungewöhnlichen Lesart der Es-Dur-Sinfonie KV 543 von Mozart (ich möchte die Einleitung konsequent als französische Ouvertüre musizieren - kein Pathos, sondern aufklärerisch geschärfter Klang) sowie der Instrumentation des späten Es-Dur-Quintetts KV 614 durch Paul Dessau (Mozart-Adaptationen - diese übrigens in E-Dur). Alt und Neu treffen in dem Programm recht interessant aufeinander...

15
Jun
2010

ROMEO UND JULIA von Boris Blacher

nr-17

Nur ein kleiner Eindruck von einem sicher recht interessanten Konzert am kommenden Samstag 19.30 Uhr im Palais des Großen Gartens in Dresden: Zu Boris Blachers ROMEO UND JULIA haben junge Leute Illustrationen geschaffen. In Blachers Oper übernimmt häufig der Chor die Funktion verschiedener Personen (so u.a. des Paters Lorenzo). Das hat u.a. Johanna Klemm zu dem obigen Bild inspiriert.

Blachers Stück ist von 1943, geschrieben in einer Zeit, wo er in Deutschland weitgehend verboten und unerwünscht war. Die Uraufführung fand 1947 statt, in Dresden drüfte es sich um eine Erstaufführung handeln.

Im zweiten Teil des Konzertes erklingen Madrigale von Hans Leo Hassler, die um die Zeit Shakespeares entstanden sind. Weitere Informationen hier.
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