28
Sep
2014

Laudatio für Hans Christoph Rademann

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Am heutigen Tag wurden die biennal zu vergebende Johann-Walter-Plakette des Sächsischen Musikrates verliehen, einerseits an den Geschäftsführer der Ostdeutschen Sparkassenstiftung, andererseits an den Chefdirigenten des RIAS-Kammerchores, den Künstlerischen Leiter der Bachakademie Stuttgart und Dresdner Professorenkollegen Hans Christoph Rademann - eine Laudatio.

Lieber Hans-Christoph,
sehr geehrter Herr Präsident Prof. Dr. Krummacher,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Fischer,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Die Bitte, eine Laudatio auf Hans-Christoph Rademann zu halten ist an sich schon Ehre genug. Dies an einem Ort zu tun, der als die Wiege der deutschen Musik bezeichnet werden kann beschwert das Vorhaben auf eine nicht unerheblich zu nennende Weise. Wenn es sich in unserem Fall auch noch um die Verleihung der Johann-Walter-Plakette an einen der bedeutendsten Chordirigenten, guten Freund und wundervollen Kollegen handelt und der Bogen damit auf eine Art und Weise gespannt wird, die nicht anders als mit Symbolik fast überladen bezeichnet werden muss, kann das dem bedauernswerten Redner durchaus weiche Knie verschaffen und ich hoffe inständig, dass dieses mir in den nächsten Minuten nicht widerfährt.

Um die erwähnte Symbolik durch Fakten zu untersetzen, darf ich auf die kürzlich erschienene Veröffentlichung neuer und ausführlicher biografischer Dokumente über Johann Walter verweisen, die Matthias Herrmann, Ludger Remy und Christa Maria Richter besorgt haben. In den Beschreibungen der Fassnachtfreuden und einer kurfürstlichen Doppelhochzeit anno 1554 heißt es:

"Montags vmb newen vhr fur mittag hat man die breuth vnnd breuthgam mit grossem gepreng auß denn furstlichenn zymmern in die schloß kirchenn gelaitet, doselbst ist abermals die cantorey mit denn instrumentistenn vorordent gewesenn, welche eine lieblich vnd kunstliche messe gesungenn vnnd denn gesang mit denn instrumenten prechtigk erhobenn…"

Die Kantorei wird im gleichen Dokument als "weytberuhmbt" bezeichnet, ihr Leiter war Johann Walter und das Spektakel fand also hier exakt an dieser Stelle statt, wo wir seit wenigen Monaten wieder das Schlingrippengewölbe bewundern und in dieser einmaligen Atmosphäre erstmals unter Schutz und Schirm des Ahnherrn die nach ihm benannte Plakette verleihen können. Die Jury hat entschieden, sie Hans Christoph Rademann zuzuerkennen und damit eine Wahl getroffen, die nicht nur hinsichtlich des Namenspatrons von tiefer Bedeutung ist, sondern auch den zweiten großen Namen, der hier musiziert und die Musik des 17. Jahrhunderts zur Blüte geführt hat, mitdenkt und einschließt: Ich spreche, wie unschwer zu erkennen ist, von Heinrich Schütz, dessen Gesamtwerk Hans Christoph Rademann sich angenommen hat und mit dem von ihm gegründeten Dresdner Kammerchor z. Zt. aufnimmt. Etliche maßstabsetzende CDs sind bereits erschienen und wir dürfen gespannt auf die Fortsetzung warten. Es wird damit ein Projekt hoffentlich endlich einmal zu Ende gebracht, das ähnlich schon unter Rudolf Mauersberger und Martin Flämig begonnen wurde – damals mit der Edition Eterna, jener legendären und international "weytberuhmbtenn" Schallplattenfirma der DDR, eines jener wenigen Relikte, denen es wirklich nachzutrauern lohnt, weil kundige Fachleute trotz aller Ideologie durchzusetzen wussten, dass Gesamtaufnahmen von Bach mit den beiden Leipziger und Dresdner Knabenchören, dass komplette Editionen aller Werke Mozarts, Beethovens, Bruckners oder Mahlers, ja sogar des gesamten Klavierwerks von Schönberg (mit keinem Geringeren als Pollini) auf Interesse und Abnehmer stoßen könnten. Vieles wurde nicht zu Ende geführt, gleich gar sind die aufführungspraktischen Erkenntnisse und Möglichkeiten heute auf einem unvergleichlich anderen Standard. Damals half der engagierte Hans Grüß im Rücken des kranken Mauersberger seiner Capella fidicinia, die sich das Terrain der historischen Instrumente gerade erst erarbeitet hatte, heute gehören Zinken und Barockposaunen, Gamben und historische Stimmung zum Natürlichsten in der Auseinandersetzung mit der Musik einer Zeit, deren Zentrum diese Kapelle war und die wiederzuerwecken eins der vornehmsten Ziele ist, denen sich Hans- Christoph Rademann verschrieben hat. Die alten Aufnahmen aus den späten 60-er und 70-er Jahren sind verdienstvoll zu nennen, ihr Zustandekommen jedoch war mit unendlichen Schwierigkeiten und teilweise auch falschen Voraussetzungen verbunden. Die nun von HCR mit dem Verlag Carus gemeinsam begonnene Arbeit knüpft erstmals an eine Art des Musizierens an, die uns ein Bild dieser Musik vermittelt, wie es in diesem Raum wirklich erklungen sein könnte, dies betrifft vor allem die Besetzungsstärke der Chöre, bei der sich das Klangbild erheblich unterscheidet. Das betrifft aber auch die Herangehensweise an die Frage der Tempi, der Artikulation und vieler anderer musikalischer Details.

Wo HCR am ehesten an die Kreuzkantoren anknüpft, das ist die Frage der geistlichen und geistigen Durchdringung der Stücke. Auch hier wird es andere Ergebnisse geben – die Art und Weise des Herangehens jedoch ist vergleichbar zu nennen und das hat viel mit Herkunft und Ausbildung zu tun.

Diese Beobachtung führt in die Zeit zurück, in der ich Hans Christoph kennenlernte und deshalb wahrscheinlich mit einigem Recht sagen kann, dass ich hier im Saale neben seiner Familie einer derjenigen mich nennen darf, der ihn am längsten kennt. Unserer ersten Begegnung vorausgegangen war die Prägung im elterlichen Haus in Schwarzenberg, wenngleich Hans-Christoph ebenso waschechter Dresdner wie Erzgebirger genannt werden kann: Die Entbindung fand durch einen Zufall im Dresdner Diakonissenkrankenhaus statt.
Singen und Musizieren – in seinem Fall zunächst Violine – prägten die Zeit der Kindheit und bereits dort soll es dazu gekommen sein, dass das väterliche Dirigat auch im Sohn ähnliche Ambitionen freigesetzt hat. Kein Wunder also, dass die Idee, in den Kreuzchor zu gehen, nicht dem Willen der Eltern entsprang, sondern dem kindlichen Hirn und Herzen nach einer 'Singefreizeit' mit Erich Schmidt, dem Leiter der Meißner Kantorei. Zwei Löbtauer Pastorenkinder schwärmten dem Knaben offenbar vor und Hans Christoph setzte seinen Willen durch. Die väterliche Gelassenheit des erzgebirgischen Kirchenmusikdirektors diesem Entschluss gegenüber scheint ebenso nachvollziehbar wie die mütterlichen Tränen, die wohl alle Kruzianermamas abwischen und unterdrücken mussten, erst recht, wenn im Requiem von Brahms diese besondere Beziehung auf eine Weise thematisiert – und übrigens mit einem mutmaßlichen motivischen Bezug zu Schütz versehen wird, das es eine Art hat und die Warnung erlaubt sein darf, dass trotz genügend Entfernung zum Wasser auch die Kreuzkirche vor gelegentlicher Überflutung nicht geschützt ist…

Meine eigene Mitgliedschaft im Kreuzchor reichte von 1968 bis 77, 1975 kam Hans Christoph hinzu. Als Chorpräfekt hatte ich die herrliche Aufgabe, mit den jeweils neu hinzugekommenen Viert- und Fünftklässlern zu proben, während Martin Flämig und sein trefflicher Assistent Ulrich Schicha nebenan die Gesamtproben bestritten. In Erinnerung ist mir ein schlanker, sehr sensibler Knabe, der durch keinerlei Unbotmäßigkeiten oder Extravaganzen auffiel und sich damit durchaus von anderen berühmten Kruzianern unterschied, denen der Fussball und die Renitenz einem 7 Jahre älteren Chorpräfekten gegenüber näher lagen als die Einstudierung eines zweiten Soprans der h-Moll-Messe. Der Jahrgang Rademann war ein sehr kreativer Jahrgang und bei allen erwähnten Konflikten war es eine Freude, diese Generation kennenzulernen. Einige von ihnen – und ich weiß nicht mehr, ob Hans Christoph dazu zählte – wachten sogar mitten im Winter, um die vom Leipziger "Ring" des Joachim Herz nächtens heimkehrenden Abiturienten Ekkehard Klemm und Martin Schüler (heute Intendant in Cottbus), das Internatsfenster zum heimlichen Einstieg offenzuhalten, unsere Zimmer befanden sich in der 2. Etage und die Nachtwächterin Ziller musste überlistet werden…

Das verbindet. Und es gibt weitere Parallelen unserer Entwicklung. Beide kamen wir in Kontakt mit dem Leiter des damaligen Beethovenchores, der heutigen Singakademie, Christian Hauschild, der uns förderte und unterstützte, beide arbeiteten wir dort als Assistenten. Innerhalb unseres Studiums gingen – vom zeitlichen Abstand abgesehen – die Wege mählich auseinander, meiner führte ins Orchesterdirigieren, Hans Christoph studierte zunächst Chordirigieren bei Hans Dieter Pflüger und erst später Orchesterdirigieren bei Siegfried Kurz. Die gemeinsame Klavierlehrerin Heidrun Richter rollt heute versonnen mit den Augen, wenn sie sich unser und unserer pianistischen Begabungen erinnert – sie hat uns dennoch auf einen Weg gebracht, der auch in diesem Detail der Ausbildung als einigermaßen erfolgreich bezeichnet werden kann. Einer eher hingeworfenen Bemerkung Rudolf Neuhaus', der einen tollen Blick hatte für wirkliche Begabungen und Talente, verdankt HCR Ermutigung und Selbstvertrauen.

In die Zeit des Studiums fällt 1985 das erste für die weitere künstlerische Biografie ganz wichtige Ereignis: Die Gründung des Dresdner Kammerchores. Mit dieser damals studentischen Truppe schuf sich HCR über die Jahre sein eigenes Instrument, das heute entweder mit ihm selbst oder als Partner bedeutendster Dirigenten und Orchester von Chailly oder Gardiner bis zu Norrington und Thielemann in aller Welt gefragt ist und damit ein Stück klingende sächsische Musikgeschichte in exzellentester Qualität nach draußen trägt. Nicht zuletzt ein Stück klingender Geschichte auch der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, der außer dem Dirigenten die meisten der Sängerinnen und Sänger entstammen und nicht nur in der Art ihrer Kunstausübung, sondern auch in der Art ihres Kunst- und Interpretationsverständnisses am Wettiner Platz oder vormals der Blochmannstraße geprägt worden sind. Nicht nur den Hauptfachlehrerinnen und –lehrern muss also an dieser Stelle ein Dank abgestattet werden, sondern auch all jenen, die wissenschaftlich und organisatorisch dieses Ensemble und seine Sängerinnen und Sänger unterstützt haben. Der Erfolg sollte uns allen, der Musikhochschule, der Landeshauptstadt Dresden und dem Freistaat Sachsen Verpflichtung sein, dieses wertvolle und gewachsene Instrument beständig zu pflegen und Sorge dafür zu tragen, dass es auch künftig als "weytberuhmbt" von Dresden aus unterwegs sein kann.

Nach seinem Studium übernahm HCR bald die Leitung der Singakademie Dresden von seinem Vorgänger Christian Hauschild, der nach Finnland zu Cantores minores ging. Eine Zeit des Umbruchs begann – und für den Chor auch eine Zeit der Neuorientierung und eines Aufbruchs. Die Aufnahme mit Max Bruchs Oratorium Die Glocke ist ein schöner Beweis für die damalige Leistungsfähigkeit und noch heute schwärmen die Chormitglieder von den Aufführungen der zehn Jahre, machten ihn zu ihrem Ehrenmitglied und beobachten heute mit Stolz den Weg über Hamburg, Berlin nach Stuttgart, einige meinen, ihn vorgezeichnet gesehen zu haben.
Sie berufen sich dabei auf einige Eigenschaften, die hier vor weiteren biografischen Details Erwähnung finden müssen. Neben der bereits benannten Sensibilität, die ich heute noch viel stärker wahrnehme als 1975 ist es ein Grundverständnis seiner künstlerischen Arbeit, das mir erstmals entgegentrat, als HC kurz vor der Premiere der Hochschulproduktion Titus von Mozart stand. Bei einem Probenbesuch traf ich auf einen in meiner Wahrnehmung – als relativ sturmerprobter Theaterkapellmeister – überaus nervösen Maestro, der mir gestand: "Ekkehard, ich kann damit auch scheitern!" Natürlich, dachte ich, HC packt immer gleich die ganz große Keule aus – ein misslungener Titus und die gesamte Karriere steht in Frage! Doch Vorsicht: Genau das tägliche Eingeständnis dieser Möglichkeit, die Sensibilität und Energie, das Kämpfen um die letzte Nuance, das sich aus solchem Verständnis unseres Berufes speist, ist einer der Lebensnerven dieses Künstlers und gleichermaßen das Geheimnis seines Erfolgs wie seiner Authentizität. Denn die Befürchtung des Scheiterns ist keinesfalls Attitüde oder gar Koketterie, nein, es ist die feste Überzeugung, dass Gelingen und Misslingen in der Kunst sehr nah beieinanderliegen, und vielleicht ist das Ergebnis gerade deshalb am Ende von so bestechender Qualität, Ernsthaftigkeit, Tiefe und emotionaler Überzeugungskraft – auch und gerade im Falle der erwähnten Hochschulinszenierung übrigens.

Eine zweite Grundeigenschaft und –befindlichkeit ist die der Neugierde. Zwar wird HCR momentan sehr oft noch als Spezialist alter Musik wahrgenommen und seine in der Fachwelt hochgelobten und mit bedeutenden internationalen Schallplattenpreisen gewürdigten Aufnahmen von Schütz, Hasse, Zelenka, Heinichen und anderen geben allen Grund zu dieser Einschätzung. Dennoch ist er hinsichtlich seines Repertoires anders 'sozialisiert' als die großen Vorbilder bspw. Herreweghe und Harnoncourt, mit denen er auch zusammenarbeitete, von denen er lernte, bei ihnen hospitierte und ihre Arbeitsweise verinnerlichte. Schaut man auf seine Zeit beim Chor des NDR in Hamburg – von 1999 bis 2004 – so finden sich neben dem bedeutenden Repertoire von Monteverdi über Bach bis hin zu Schumann, Mendelssohn, Brahms, Bruckner und Reger vor allem auch zeitgenössische Werke von Ligeti, Kagel, Schnittke, Dallapiccola, Gottwald, Schnittke, Kurtag und Pintscher. Damit vor allem gab er dem vorher cheflosen Rundfunkchor elbabwärts ein neues und prägnantes Gesicht.

Die Linie setzt sich in Berlin beim RIAS-Kammerchor seit 2007 nahtlos fort, wo HCR einerseits bedeutende Akzente in der alten Musik setzt und Preise gewinnt für seine Aufnahmen von Werken der Bach-Familie, andererseits aber sich ganz konsequent der Moderne zuwendet: Ernst Křenek, Karl Amadeus Hartmann, Hanns Eisler, Arnold Schönberg, György Ligeti, Torsten Rasch und ganz besonders Wolfgang Rihm. Zur CD mit Chorwerken Rihms schreibt das Fono-Forum: "Eine Wonne! Die Methode des RIAS Kammerchores unter seinem Dirigenten Hans-Christoph Rademann, alle Struktur in Wohlklang, Intellektualität in Schönsinn zu übersetzen, greift bei einem Komponisten wie Rihm keinen Millimeter zu kurz. Diese CD begeistert, eben weil sie so herrlich klingt. Ein rundherum gelungenes Geburtstagsgeschenk."

Aber es wäre viel zu kurz gegriffen, den zu Ehrenden auf seine eigenen Ensembles und seine festen Engagements zu reduzieren. Die große Ausstrahlung dieses sächsischen Musikers gewinnt gerade durch seine mittlerweile enorm gewachsene Gasttätigkeit an Bedeutung. Sie führte ihn zu den Ensembles des Bayerischen-, des Mitteldeutschen- und des Südwest-Rundfunks, des Rundfunkchors Berlin, des Collegium Vocale Gent, zur NDR Radiophilharmonie Hannover, Rotterdamer Philharmonie, zum Concerto Köln, Freiburger Barockorchester, der Akademie für Alte Musik Berlin, mit der ihn eine ständige Zusammenarbeit verbindet, in die großen Musikzentren Europas, Asiens und Amerikas und nach Israel.

Es müssen hier nicht alle Preise und Auszeichnungen aufgezählt werden, die überall nachzulesen und abrufbar sind. Nein, viel wichtiger scheint mir, noch etwas sehr Typisches hinzuzufügen. Es ist der Öffentlichkeit – und hier muss nun wirklich mindestens von der deutschen Öffentlichkeit gesprochen werden – durchaus nicht entgangen, dass der Wechsel von Helmuth Rilling zu HCR an der Spitze der Stuttgarter Bachakademie nicht geräusch- und konfliktlos vonstattenging. Wie auch, wenn eine Legende den Stab ab- und weitergibt und eine völlig neue und andere Generation mit eigenem Profil, mittlerweile sehr großer eigener Erfahrung und allergrößter Reputation neue Akzente setzt. Der Respekt vor dem großen Rilling prägt HCR jedoch ebenso wie der Wille, seinen eigenen Weg zu gehen. Die oben benannte Gefahr eines Scheiterns ist vielleicht nirgends so groß gewesen wie bei jenem Konzert des Stabwechsels in Stuttgart, wo zunächst Helmuth Rilling dirigierte und nach einigen Reden bedeutender Politiker, u.a. des Bundespräsidenten, HCR. Lieber Freund, das war auch so ein Moment der weichen Knie und ich meinte, die Deinen spüren zu können – wen ließe diese Situation ungerührt. Aber das Wunder geschah und Stuttgart nahm den neuen Chef jubelnd in Empfang, nachdem er sich eindrucksvoll vorgestellt hatte. Denn natürlich muss die Bachakademie weiter- und neu gedacht werden, was inzwischen mit zahlreichen neuen Initiativen und Ideen auch tatsächlich geschieht. Da finden verstärkt Begegnungen und Musikvermittlungsangebote mit einem jungen Publikum statt, es gibt interkulturelle und interreligiöse Akzente und der Nachwuchs steht einmal mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Während Helmuth Rilling nunmehr ein kommentiertes Mitsingekonzert beim von HCR gegründeten Musikfest Erzgebirge dirigiert – mit Mendelssohns Paulus – was für eine schöne Brücke und Geste beiderseits!

Dem Schwerpunkt der Pädagogik soll ein letzter Gedanke gewidmet sein, denn natürlich ist diese Tätigkeit und Ambition von HCR eine ganz besondere und steht seit seiner Berufung im Jahr 2000 als Professor für Chordirigieren an die Dresdner Musikhochschule nach wie vor viel mehr im Mittelpunkt, als das von außen gerade wahrnehmbar ist. Bereits jetzt gibt es jede Menge Rademann-Schüler, die wichtige Positionen errungen haben: Martin Lehmann leitet den Windsbacher Knabenchor, Andreas Pabst die Singakademie Chemnitz, Vinzenc Weissenburger den Kinderchor an der Staatsoper Berlin, Jörg Genslein den TASK. Christiane Büttig war zunächst Assistentin der Dresdner Singakademie und ist nun Chefin des Universitätschores, Peter Kubisch leitet den A-cappella- Chor Freiberg, Jan Altmann war Chordirektor in Görlitz und Innsbruck, Cornelius Volke ist es in Hof, Manuel Pujol hat kürzlich den ersten deutschen Chordirigentenpreis des Dirigentenforums des Deutschen Musikrates gewonnen und ist als Chordirektor und Kapellmeister in Görlitz engagiert; Olaf Katzer arbeitet an der HfM Dresden und feiert Erfolge mit seinem Ensemble Auditiv Vokal, das demnächst nach New York aufbricht, Jörn Hinnerk Andresen ging über Zwickau, Koblenz nach München und wird demnächst neuer Chordirektor an der Semperoper. Andere wie Tobias Mäthger sind als Sänger und dirigentisch in der freien Szene vielfältig aktiv und unterwegs.

Das erwähnte Dirigentenforum des Deutschen Musikrates ist in der Sparte Chor ganz maßgeblich von HCR geprägt, der gemeinsam mit Jörg Peter Weigle diese zweite Linie in die bereits bestehende Förderung der Orchesterdirigenten eingezogen hat. Mit dem RIAS-Kammerchor und auch in Stuttgart finden mannigfach Seminare für junge Dirigentinnen und Dirigenten statt.
Doch nicht nur das Dirigieren liegt HCR am Herzen. Ganz im Sinne Johann Walters und Heinrich Schützens sucht er ebenso nach Wegen, neue Musik zu fördern und zu befördern. Hierzu wurde eigens eine Chorwerkstatt in Hellerau ins Leben gerufen, die mittlerweile zum dritten Male stattfand und seit 2009 u.a. Werke von Helmut Lachenmann, Clytus Gottwald, Hans Joachim Hespos, Charlotte Seither, Alexander Keuk, Bernd Franke sowie internationalen Gästen vorstellte. Einbezogen waren Chöre aus der Ukraine, aus Taiwan und als Novität im Jahr 2014 auch ein Schulchor aus Dresden – der des Vitzthum-Gymnasiums, der sich in einem Ausscheid dafür qualifiziert hatte und die Chance erhielt, mit den Profis gemeinsam neue Musik zu erarbeiten. Schöner als mit solchen Initiativen, auch mit dem vehementen Einsatz für seine erzgebirgische Heimat, kann der Bogen zum Ausgangspunkt der Biografie HCRs kaum gespannt werden und es ist dies ein weiterer Beleg für seine Offenheit und Neugierde. Er weiß um die Notwendigkeit, die Musik als einen lebendigen Organismus zu betrachten, der weitergedacht und weitergetragen werden muss und setzt alles dafür ein, diese Überzeugung mit Konsequenz, mit Energie und Inspiration in die Tat zu setzen. Er gewinnt daraus eine spirituelle Kraft, die in den Worten Johann Walters über den "doppelten Endzweck aller Musik" mitschwingt, wenn er 1538 schreibt:

"Zwo Ursach hab ich itzt genannt, Warum die Music Gott gesandt./ Hieraus wird ieder merken wohl, wie man die Music brauchen soll:/
Aufs erst zu Gottes Lob und Ehr, Danach dem Leib zu Nutz und Lehr."

Die Fülle der erwähnten Initiativen, Schwerpunkte und Erfolge, die beschriebene Sensibilität, Neugierde, Aufgeschlossenheit und Vielfalt, nicht zuletzt aber die Tiefe und Qualität der Interpretationen lässt mich an dieser Stelle nun den weichen Knien nachgeben und eine Empfehlung des Dokuments von 1554 aufgreifen:

"Vnnd nach entpfangenem segenn ist man auß der kirchenn in herrlicher zucht widerumb zu tisch gesessenn, Do ist kösparlicher speyse vnd getranck gebothenn, auch vnter der maltzeit von der gedempfftenn musica vnnd instrumentistenn viell lustig kurtzweyll vnnd fröligkaith gemacht wordenn…"

Das sollten wir 470 Jahre nach Johann Walter auch tun – nicht, ohne vorher die Plakette seines Namens Hans Christoph Rademann überreicht und von Herzen gratuliert zu haben. Es ist eine phantastische, vor dem Hintergrund alles Gesagten und vieles Weggelassenen außerordentlich sinnige und würdige Wahl. Sie fällt auf einen der führenden sächsischen Musiker, dessen noch nicht einmal fünfzigjährige Stimme in der internationalen Musikwelt sich eindrucksvoll Gehör verschafft hat und davon erzählt, welch wichtige Impulse auch im fünften Jahrhundert nach seinem Entstehen noch immer und gerade wieder von diesem Ort, in dem wir uns befinden, und der Musik, die mit ihm originär verbunden ist, ausgehen, und wie sie in unsere Zeit hinein weitergedacht werden können. Die seit Johann Walter und Heinrich Schütz gültige Pyramide der Breite der musikalischen Bildung und Ausbildung und der Balance zwischen diesem Humus der sächsischen Musizierenden auf allen Ebenen und ihrer weltberühmten Spitze – sie wird von kaum einem anderen besser verkörpert und mit Leben gefüllt als von Hans Christoph Rademann.

Herzlichen Glückwunsch beiden – dem Spender wie dem Empfänger!

18
Aug
2014

Macht Musik?! versus 'Süße Brühe'

DMM-2014

Die Dresdner Meisterkurse Musik haben begonnen - untenstehend mein Eröffnungsvortrag. Vorsicht: sehr lang und ausführlich.

Macht Musik?! versus Süße Brühe
Eröffnungsvortrag zu den Dresdner Meisterkursen Musik 2014

In seinem Aufsatz "Gestoppte Gärung" – geschrieben zu Ernst Blochs 90. Geburtstag – schreibt Dieter Schnebel in den Jahren 1974/75 Sätze, die sich auf einen früheren Aufsatz über "die kochende Materie der Musik" beziehen bzw. Gedanken von dort polemisch aufnehmen und fortsetzen:
"Ein Essai über die Formen der heutigen Musik ließe sich kaum mehr mit dem Hinweis auf die gärende Materie schließen – da gärt nicht mehr viel. Nicht als ob die musikalische Materie nun durchgegoren wäre. Eher verhält es sich so ähnlich wie heute vielerorts mit den Weinen: die Gärung wurde gestoppt, und das Ereignis ist jene süße Brühe, deren Fusel einem den Kopf vernebeln."
Schnebel entwirft ein sehr kritisches – und durchaus auch selbstkritisches – Panorama der damaligen zeitgenössischen Musikszene. Alle bekommen ihr Fett weg: Boulez ("akademische Verfestigung"), Stockhausen (Hinwendung zur "intuitiven Musik" für eine "entpolitisierte Jugend mit Hang zu fernem Osten und raschem Rückzug nach innen"), Kagel ("weitgehende Eingliederung seines Œuvres in die offizielle Kultur"), Ligeti ("Fortsetzung der eigenen Tradition"), Penderecki, bei dem es sich ähnlich verhielte. Auch bei sich selbst ließen sich Symptome dieser Art finden.

Das ehrliche und entwaffnende Schlaglicht führt zu im mehrfachen Sinne des Wortes glasklaren Erkenntnissen:
"Daß heute der Fluß der Neuen Musik, genauer: jene Wasser vorne, wo die Musik selbst ihren Lauf bahnt, so kraftlos anmuten, liegt an den Barrieren, die im Wege sind; es sind die einer Gesellschaft, deren Ökonomie immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät, und die sich darum zunehmend verhärtet."

Was sollen wir da erst sagen, will es mir einem Stoßseufzer gleich entfahren! Der von Helmut Lachenmann so bezeichnete und mittlerweile häufig zitierte "ästhetische Apparat" zwingt uns mittlerweile, die süße Brühe und noch viel schlimmeren Fusel in jedem Kaufhaus, jedem Lokal – gleichviel, welcher Wein gereicht wird – zu ertragen und wir wären ja froh, wenn wir bspw. wenigstens im Film ab und an mit anspruchsvoller Musik konfrontiert würden, wie sie eine Katharina Blum noch von Hans Werner Henze geschrieben bekam. Mehr noch, eine nicht unerhebliche Zahl derer, die 'kochende Materie' transportieren könnten, werden für entbehrlich gehalten – gut möglich, dass Intendanzen und auch die Musizierenden unter dem Anpassungsdruck mit weichgespülten Programmen ungewollt selbst dafür sorgen, sich (um im Bild des Wassers zu bleiben) überflüssig zu machen: Über die Ereignisse der deutschen Orchesterschließungen und unsinnigen wie unseligen Fusionen habe ich an gleicher Stelle unter dem Stichwort "Musik in der Krise" bereits im letzten Jahr gesprochen, die Situation hat sich seither nicht verbessert, eher weitgehend verschärft. Es soll aber hier nicht zur erneuten Klage ausgeholt werden – der Einstieg mit Dieter Schnebel, dessen Majakowskis Tod ich in München und seine Schubert-Phantasie hier mit dem Hochschulsinfonieorchester in Dresden aufführen durfte, drängte sich beim Nachdenken über unser Motto MACHT MUSIK?! aus vielerlei Gründen auf, die ich hoffe, in den folgenden – sicher weniger wissenschaftlichen als vor allem persönlichen – Überlegungen aufklären zu können. Interessanterweise sind die Anstreichungen in meinem Band der Musik-Konzepte 16 über Dieter Schnebel sehr alt, gehen auf eine von heute aus gesehen durchaus als anders zu bezeichnende Zeit zurück und ich darf meiner vor wenigen Monaten verstorbenen Mutter ein viel zu kleines Denkmal setzen, wenn ich erwähne, dass sie unter Aufbietung erheblicher Nervenkräfte dieses Buch und andere bei ihren durch eine Invalidität möglichen 'Westreisen' im sogenannten Interzonenzug ins damalige Karl-Marx-Stadt schmuggelte. Ein Umstieg mit längerem Aufenthalt in Hannover und ein Musikgeschäft in der Nähe des dortigen Hauptbahnhofes machten es möglich, 1-2 x pro Jahr die nach Ansicht der DDR-Regenten giftige Ware dem Dresdner Studenten mitzubringen und den Zöllnern in Marienborn ein winziges Schnäppchen mit für mich erheblichen Auswirkungen zu schlagen. Auch ein Band über Edgar Varèse und Hans Swarowskys Wahrung der Gestalt waren dabei nebst etlichen Ausgaben der Neuen Zeitschrift für Musik – alles verbotene Ware vom Klassenfeind, daran hin und wieder zu erinnern sollten wir nicht unterlassen.

Aber worin konkret liegt die Macht der Musik begründet?

Lassen Sie uns das Thema beleuchten, indem wir zunächst ein und einfügen: Macht und Musik, ein hochinteressantes und in der Regel brisantes Spannungsfeld, das uns vielleicht einigen Erkenntnissen näher bringt. Gestatten Sie bitte, dass ich dazu versuche, an einem historischen Panorama entlangzugehen und einige besondere Beziehungen herausgreife, um zu verdeutlichen, wie sehr Musik und ihre Schöpfer mit den Mächten der Zeit verquickt, mitunter auch verstrickt sind und darauf reagieren. Die Frage stellt sich, ob nicht gerade aus diesen Auseinandersetzungen Musik ein Stück ihrer 'Macht' gewinnt.

Über Luther und seine Choräle sowie den für Dresden und seine Staatskapelle so legendären Johann Walter muss an dieser Stelle nichts gesagt werden – wir gehen auf ein Reformationsjubiläum zu und ich darf auf jüngst erschienene Studien auch aus diesem Haus gerade zu diesem Thema verweisen. Als Startpunkt unseres Panoramas sollten sie jedoch wenigstens Erwähnung finden, stellen sie doch in vielerlei Hinsicht – und das Bild Dieter Schnebels vom Wasser aufgreifend – eine Quelle dar, aus der der mächtiger werdende Fluss einer Musik gespeist wurde, die gerade in der Reformation ganz besonders machtvoll zur politischen Kraft wurde. Für unser Thema prägend erscheint mir die Erinnerung an ein aus dieser Entwicklung hervorgehendes Ereignis von 1627, mitten im Dreißigjährigen Krieg also.

Man stelle sich vor, es würde heutigen Tags ein Treffen der Präsidenten, Premiers bzw. ihrer Gesandten, sagen wir, von Russland, der Ukraine, Polen, Litauen, Weißrussland, Lettland und Estland geben – könnten wir einen Komponisten empfehlen und welche Musik würde er schreiben? [Gerade eben, am 15.08.2014, lese ich von einem geplanten Treffen zwischen den Außenministern Russlands und der Ukraine in Berlin unter Mitwirkung von Frank Walter Steinmeier – sollten wir Wolfgang Rihm schnell eine Kantate schreiben lassen…?]

Zum Fürstentag in Mühlhausen erschienen sieben Delegationen, die Chefs kamen immerhin aus Mainz und Sachsen, der Rest schickte hochrangige Vertreter. Johann Georg I. aus Sachsen indessen brachte Heinrich Schütz und wahrscheinlich um die 18-19 Musiker mit, die das Treffen vom 4. Oktober bis zum 5. November (wie lang dauert heute eine Friedenskonferenz?...) musikalisch rahmten. Beeindruckendster Beitrag: Schütz' doppelchörige Motette Da pacem Domine, in der einerseits die Vivat-Rufe auf die sieben anwesenden Parteien erklingen, im Mittelpunkt jedoch die Friedensbitte, mit der das Stück auch schließt. Der Osnabrücker Musikhistoriker Stefan Hanheide erläutert uns:
"…im Mittelteil, der die Huldigung beinhaltet, werden immer wieder Partien des Da-pacem hineingesungen, und im Schlußteil des Werkes singen beide Chöre gemeinsam in lateinischer Sprache: Gib Frieden, Herr, in unseren Tagen. Das Werk schließt also nicht mit Hochrufen, sondern mit einer sehr verhalten vorgetragenen Bitte um Frieden. Damit macht Schütz deutlich, daß das Hauptanliegen der Mühlhäuser Zusammenkunft nicht Huldigung der Kurfürsten ist, sondern Schaffung des Friedens. Diese Bitte richtet sich nun aber nicht an die politisch Verantwortlichen, sondern an Gott. … Die Klage über den Krieg und die Bitte um den Frieden war ohne religiöse Dimension nicht möglich. Den Krieg empfand man als eine durch Sünde verschuldete Strafe, und der Friede konnte nur durch Gottes Vergebung dieser Sünde und den Erlaß der Strafe erreicht werden."

Martin Gregor-Dellin beschreibt sogar, dass protokollgemäß die Vivat-Rufe beim Eintritt in die Kirche erklangen sein könnten, während aus der Tiefe des Raumes die Friedensbitten drangen, eine Darstellung, für die Stefan Hanheide keine Quelle kennt.
Es scheint also neben den kompositorischen, kontrapunktischen, melodischen wie harmonischen Künsten viel am Inhalt zu liegen, ob eine Musik mächtig wird. Hören wir einen Moment in die wunderbare Komposition hinein.

Beispiel 1, H. Schütz, Ausschnitt Da pacem Domine

Im Zusammenhang mit unserem Thema wage ich zu resümieren: Schütz' Musik gewinnt Macht aus ihrer inhaltlichen Verwurzelung, Ernsthaftigkeit, Klarheit und Ehrlichkeit – eine tief inspirierte Kraft aus unerklärbaren mystischen Elementen kommt hinzu, aber das mag eine subjektive Wahrnehmung sein, nicht zu reden von der handwerklichen Sauberkeit, die im Zeitalter, wo Musik und das Komponieren als Wissenschaft galten, eine Selbstverständlichkeit waren, wenngleich eine, die nicht alle mit gleicher Perfektion und Virtuosität beherrschten wie der Dresdner Sagittarius.

Die Linien des Nachdenkens führen damit unmittelbar zu Johann Sebastian Bach, der sie zweifellos fortsetzt und den wir an dieser Stelle wie Luther und Walter nur streifen wollen, da die Fülle der Literatur inzwischen unüberblickbar geworden ist und an dieser Stelle keine neuen Erkenntnisse hinzugefügt werden können und sollen. Zu verweisen sei etwa auf das von Michael Heinemann herausgegebene Bach-Handbuch, das viele neuere Entwicklungen zusammenführt und beleuchtet – ich stehe nicht an, diesem Kompendium neuesten Bach-Wissens Entscheidendes hinzufügen zu wollen.

Dass auch Bach zwischen Protestantismus und Katholizismus jonglierte, dabei vielleicht nicht mehr ganz so existenziell betroffen war wie der einhundert Jahre Ältere, zeigt der spielerische Umgang mit der Polonaise: Mit dem Blick auf das Königshaus in Sachsen gewinnt der polnische Adelstanz im Werk Bachs besondere Bedeutung und wichtige Stücke, die mit Trompeten und Pauken ohnehin einen König adressieren, sind in diesem Rhythmus angelegt. Besonders repräsentativ ist das neben vielen Instrumentalstücken im Magnificat, in der Kantate Tönet ihr Pauken und damit auch im Eröffnungschor des Weihnachtsoratoriums sowie im Et resurrexit der Messe in h-Moll der Fall – ein Fakt, den viele atemlose Interpreten, auch solche mit starker aufführungspraktischer Orientierung, gern und geflissentlich übersehen.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, was einhundert Jahre nach Schütz in der Musik bedeutsam wird, so würde ich hinsichtlich des Leipziger Thomaskantors sagen: Kreativität, Entwicklung, Struktur, Wissenschaft. Die Kreativität und Experimentierfreude Bachs ist unermesslich und bezieht sich sowohl auf die Erprobung und Erweiterung der Instrumente wie der Spieltechniken und Kombinationen. Der Geist der Entwicklung dominiert von Beginn an das kompositorische Schaffen, es wird in Zyklen, im Geist des Auslotens aller möglichen Varianten gedacht. Je älter er wird, desto mehr gipfelt alles in strukturellen Überlegungen. Stücke wie das 6-stimmige Ricercar oder das erste Kyrie und das Confiteor der h-Moll-Messe stehen singulär und werden als erdachte Strukturen das Universum nach dessen Hinscheiden überleben. Ich sage das so pointiert, weil für mich das Erlebnis gerade dieser Musik (im Falle des Ricercars ergänze ich: In der genialen Fassung Anton Weberns) den Punkt der Wissenschaft mit der schon für Schütz diagnostizierten 'Mystik' zusammenbringt. Sie gewinnen ihre Macht gerade durch die aller Gewaltigkeit entsagende Konzentration auf die u.a. von Georg von Dadelsen diagnostizierte "Objektivität, Abstraktion und Universalität" . Ein Erlebnis, das mich bei meiner ersten aktiv mitgestalteten h-Moll-Messe im Jahr 1968, ich war 10 und Mitglied des Kreuzchores, sprachlos gemacht hat. Es war nicht das mit Pauken und Trompeten explodierende Gloria und ebenso wenig das bei Mauersberger und später Flämig ohnehin eher pathetisch angelegte Sanctus, das mich zuerst faszinierte, nein, es waren die strukturell erdachten und vergeistigten Stücke, bei denen es Bach wie keinem Zweiten gelingt, dennoch oder vielleicht gerade damit und dadurch in die Tiefe – Achtung: es wird etwas platt – der Herzen seiner Hörer zu dringen. Und völlig egal, ob im Erbarme Dich der Matthäus-Passion Mauersberger mit Gerhard Bosse, Annelies Burmeister und dem Gewandhausorchester musizierten, Martin Flämig mit Walther Hartwich, Heidi Rieß und der Dresdner Philharmonie oder heute Ton Koopman mit Bogna Bartosz und den Amsterdam Baroque Chamber Orchestra – in irgendeinem Winkel hinter dem Lautsprecher oder der Kirchenbank wird wohl immer ein Tränchen verdrückt werden, zu perfekt liegen Idee und Form übereinander, Emotionen auslösend, die in der Tat ans Herz greifen, was immer das in diesem Moment darstellt.

Womit wir zu Mozart kommen müssen, über dessen Beziehungen und Konflikte zur politischen Macht die Musikwissenschaft nach dem Urteil Georg Kneplers lange geschwiegen hat. In seinem 2005 veröffentlichten Buch Wolfgang Amadé Mozart (basierend auf der Erstfassung von 1990) greift Knepler dabei auf Formulierungen eines Hegel-Zitats zurück:
"Es gehört nicht zu den Ruhmestaten der Musikwissenschaft, daß sie so hartnäckig an dem Glauben festhält, der größte Komponist der Zeit gehöre zu den wenigen, die nicht 'mit leidenschaftlicher Bewegung' dem Erfolg der Ereignisse in Frankreich 'entgegenharrten'; er, gerade er, der so scharf Beobachtende und so subtil Reagierende, habe nichts von jener 'erhabenen Rührung', von jenem 'Enthusiasmus des Geistes' verspürt; dem Komponisten des Figaro und des Don Giovanni sei es entgangen, daß man in Frankreich den Adel abschaffte, den er, seit er kritisch zu denken lernte, mit Hohn und Verachtung bedachte."

Mit Christoph Wolffs neuer Auseinandersetzung über Mozart in des Kaisers Diensten und der Diagnose eines "imperialen Stils" wäre dem möglicherweise einiges entgegenzuhalten, jedoch fällt auf, dass Kneplers wichtiges – und übrigens hochgelobtes – Buch in der Literaturaufzählung bei Wolff ebenso fehlt wie jenes von Helmut Perl zum 'Fall Mozart' bzw. konkret zum 'Fall Zauberflöte'. Während Wolff sich ganz der Ausgestaltung der Zauberflöte zu einer neuen Art großer deutscher Oper widmet und mit den vielen phantasievollen und phantastischen Momenten die Macht der Musik im Werk zum eigentlich zentralen Thema erhebt (worüber wir uns ja eigentlich freuen könnten?!), nehmen Knepler und Perl ganz andere Dinge in den Fokus, die uns vielleicht viel besser erklären können, woher der Wind in Mozarts in der Tat großer Oper weht.

Zunächst Wolff: "…der größte Reiz für Mozart mag von einem wichtigen Subtext in Schikaneders Libretto ausgegangen sein, den er zu betonen beabsichtigte: Die Macht der Musik, ein Thema, das ihm von dem antiken Orpheus-Mythos und der christlichen Legende der heiligen Caecilia bekannt war."
Mit Bezug auf die Vorgeschichte und den nachzuweisenden Vorahnungen der Mainzer Republik, mit Bezug auf Mozarts Besuch in Mainz Ende 1790 und der dort ganz lebendigen Mozart-Pflege (übrigens aller italienisch komponierten Opern auf Deutsch!) sowie im Kontext zu enthusiastischen Äußerungen etwa eines Klopstock, Kant oder Wieland zu den Ereignissen in Frankreich entwirft Knepler ein sehr eindeutiges Bild und deutet das in einem Brief an Konstanze beschriebene "andere Bad, … [das] herrlich anschlägt" nicht als eines der medizinischen, sondern der politischen Art. Helmut Perl weist dies fortsetzend nach, dass die Fokussierung auf das Instrument kein Hervorheben der Macht der Musik war, sondern eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber den Maßregeln und Vorschriften der Zensur (vom 13. Juli 1781): "Der Titel Zauberflöte signalisierte ein 'artistisches' Libretto mit harmlosem Inhalt." Der harmlose Inhalt indessen stellt sich als einer dar, bei dem die drei Damen als Kapuzinerinnen – die Kapuziner waren die Hauptträger der Gegenreformation – und die Königin der Nacht als Symbol der Mutter Gottes erscheinen: "Die sternflammende Königin … stand beispielsweise im Hochaltar der Franziskanerkirche in Salzburg in einem barocken sternförmigen Strahlenkranz; die spätgotische Madonna in einem Bild wurde durch den Begriff 'sternflammende Königin' beim Publikum sofort evoziert." Die katholische Kirche galt unter Joseph II. als Institution, die viel verspricht aber wenig tut – reihenweise wurden Klöster geschlossen: Ein Weib tut wenig, plaudert viel stellt also keinesfalls Frauenfeindlichkeit dar (bei Mozart ohnehin schlecht nachzuvollziehen) – es war die katholische Kirche gemeint. Der Name Papageno gehe darauf zurück, dass sein Träger jener sei, der den Papa, also den Heiligen Vater ohne zu hinterfragen nachplappert, Papageno als der, der sich vor Wissen und Denken fürchtet usw. usf. – es können und müssen die vielen Indizien aus Libretto, zeitgenössischen Bühnenbildern und anderen Verweisen, die Perl anführt, hier nicht wiederholt werden, das Fazit ist von Interesse und geht in eine andere Richtung als das von Christoph Wolff. Perl sieht als das zentrale Thema der Zauberflöte "die Mündigkeit bzw. Unmündigkeit des Menschen. … Die persönliche Reaktion der Personen der Handlung ist dabei in der Zauberflöte keine individuell-charakterliche, sondern eine gesellschaftstypische. Jeder Zuschauer konnte sich mit seinen Denkmustern oder Vorurteilen in irgendeiner Person des Spiels wiederfinden." Soweit Perl, der schlussfolgert, Kirche und Staat hätten diese moralischen Positionen weder verstehen noch tolerieren können.

Und dabei war bisher noch nicht einmal von den Frauen die Rede, denen Mozart in seinen Stücken – von Ilia angefangen über Konstanze, Contessa, Donna Anna und Elvira bis hin zur Fiordiligi und Pamina – stets die seelenvollsten Klänge zueignet. Auch in der Zauberflöte kann wohl jenes Stück mit der heiligen Zahl Nummer 7 als besonders seelenvoll gelten, das Mann und Weib und Weib und Mann an die Gottheit heranreichen sieht (interessant: Nicht an Gott, sondern die Gottheit!). Kalt dagegen ist die Seele der Königin, die eine Bravourarie im sakralen Stil der Zeit erhält mit Recitativ, langsamem Teil und funkelnden Koloraturen – nach Helmut Perl im Kostüm und Bild der Mutter Gottes auftretend eine Gotteslästerung, die nach der Justizreform von 1787 höchst angreifbar war.

Berühmt wurde die Zauberflöte nicht durch Libretto und Bühnenbild, sondern durch die Macht der Musik eines gewissen Mozart, der den Intentionen kongenial folgt und sie mit Phantasie, Leidenschaft, Seele und dem oben von Hegel bereits zitierten "Enthusiasmus des Geistes" ausstattet, womit wir unsere Liste wichtiger Ingredienzen für eine machtvolle Ausstrahlung der Musik weiter verlängert hätten.

An dieser Stelle müssen wir ein sehr konkretes Beispiel zweier Ouvertüren einfügen, um einen wichtigen Aspekt herauszuarbeiten, der mit Beethoven die Musik ergreift. Es ist jener des Idealismus, der Genialität, des Experiments und eines nach innen wie außen revolutionären Ansatzes. Nach innen verlagert vielleicht am deutlichsten in den späten Klaviersonaten und Quartetten, nach außen jedoch ganz deutlich in der zuerst komponierten der Leonoren-Ouvertüren, jener mit der Nummer 2, die sich am 20. November 1805 französische Offiziere statt des größtenteils geflohenen Wiener Publikums in einem halb-leeren Haus anhörten, ein programmierter Misserfolg. Beethovens idealistischer Stoff und Herangehensweise, seine revolutionären musikalischen Ideen und sein genialisch experimenteller Geist waren eine Zumutung und konnten nicht anders als missverstanden werden. Dies wird besonders deutlich durch die Umarbeitung der Ouvertüre Leonore II zur Leonore III, die ein Jahr später einer Aufführung vorangestellt wurde. Ganz klar hat sich Beethoven hier bemüht, den scharfen Kristall der Erstfassung abzuschleifen: Das Stück ist – wie Robert Maschka in einem Aufsatz im Beethoven-Handbuch nachweist – konzentrierter, teilweise knapper und durch eine klarere Reprisenstruktur möglicherweise besser zu rezipieren. Was dabei allerdings ein Stück weit verloren geht, ist der atemberaubend neue Ansatz, den man übrigens als Dirigent schon spürt, wenn man die Ouvertüre zu dirigieren beginnt mit ihrem zweimal anhebenden fortissimo-Schlägen (in Leonore III nur einer) und danach eine knappe Viertelstunde Sinfonie interpretiert, ehe der Vorhang sich hebt – einen solch revolutionären Ansatz für eine Oper hat sich nach Beethoven keiner mehr gewagt, weder Wagner noch Verdi, allenfalls Schumann in der Genoveva. Dann kommt jene Stelle, bei der das gesamte Orchester in As-Dur anlangt, das mit rasanten Tonleitern der Streicher durchmessen wird. Wir sind im Adagio, in Achteln musiziert, vielleicht ca. MM = 60 (um unsere Berechnung etwas einfach zu gestalten. Es folgen

- ein Akkordabschluss auf Eins und fünf Achtel Pause,
- ein zweiter Anlauf As-Dur mit Abschluss auf einem verminderten Akkord und fünf Achtel Pause,
- zwei einzeln stehende Akkorde auf Eins mit wiederum jeweils fünf Achteln Pause
- schließlich ein Takt mit drei Akkorden, die den dominantischen Überleitungsteil zum Allegro einläuten.

Mit Verlaub, das ist solcherart unzumutbar wie gleichermaßen genial: In den beschriebenen sieben Takten zwingt Beethoven seinen Hörern bei dem angenommenen Tempo in 42 Sekunden 23 ewige Sekunden Stillstand auf – das konnte nicht gutgehen und kann dennoch als eine der tollsten Erfindungen aus seiner Feder gelten.

Nun aber Leonore III, was wird aus dieser Stelle? Sie ist zu vier Takten geschrumpft und die Pausen sind komplett mit nachklingenden Bläserakkorden gefüllt – eine Stelle, die ich vor Kenntnis und Dirigat der Leonore II immer als besonders apart empfunden hatte, mit der ich seither jedoch ein akutes Problem habe… Der schroffe, revolutionäre Beethoven von 1805 ist das Original und die Macht seiner Musik bezieht sich just aus dieser Kompromisslosigkeit.

Beispiel 2, Beethoven Leonore III Takt 27 – 30 und Leonore II Takt 36 - 43

Kein Wunder, dass nach solchen Eruptionen eine Beruhigung angesagt war und das 19. Jahrhundert zunächst zu Kontemplation, mit Schubert und Schumann und dem Lied zur Lyrik, Melancholie, Einsamkeit, auch zum schon 1782 bei Johann Abraham Peter Schulz erstmals so bezeichneten "Volkston" und mit Wagner schließlich zum Phantastischen und Mythologischen neigte, die Explosionen sich nicht vordergründig im Material, sondern mit Liszt, Chopin und anderen sich eher auf dem Feld der Virtuosität abspielten. Sie merken, dass ich einen großen Sprung mache und das gerade für unser Thema 'Macht und Musik' so interessante Spannungsfeld der Dresdner Ereignisse um Wagner und Schumann von 1849 ausblende – hierzu ist in den vergangenen Schumann- und Wagner-Jahren 2010 und 2013 viel geforscht und gesagt worden.

Aber gestatten Sie mir ein wichtiges und oft übersehenes Detail zu erwähnen im Hinblick auf eine Entwicklung, die mir bedeutsam erscheint und den Schritt ins 20. Jahrhundert vielleicht überraschenderweise von dem oft als glatt apostrophierten Mendelssohn ausgehen lässt – wir wissen um die antisemitischen Hintergründe solcher Vorwürfe. Die Rede ist vom Gegensatz zwischen einem 'demokratischen' und einem 'autoritären' Ansatz des Komponierens und Musizierens.

1829, also bereits mit 20 Jahren, führte Mendelssohn die Matthäus-Passion Bachs auf und leitete damit einen Prozess ein, der letztendlich im bürgerlichen Konzertbetrieb mündete und als dessen entscheidender Anstoß gesehen werden kann. Es begann damit auch die 'Erbepflege' – mit den Konzerten unter Mendelssohn beginnen die Konzertprogramme, sich an Musik vergangener Generationen zu orientieren. Auch diese eine Fußnote im Kontext von der Macht der Musik.

1836 kommt es zur Uraufführung des Paulus und kurze Zeit später schreibt Mendelssohn an seinen Freund Klingemann: "Und jetzt im Augenblick sind die Singvereine gut und sehnen sich nach Neuem" – der auslösende Impuls zur neuerlichen Beschäftigung mit einem Oratorium. Martin Geck bestreitet indes, dass Mendelssohns Interesse für die Singvereine einzig dem Erfolg galt und konstatiert: "Indem er das Chorwesen fördert, will er der Gesellschaft dienen. Wie er einem Leipziger Beamten im Zusammenhang mit der Gründung des dortigen Konservatoriums am 8. April 1840 darlegt, haben Künstler die Aufgabe, der 'vorherrschend positiven, technisch materiellen Richtung der jetzigen Zeit' den 'ächten Kunstsinn', das heißt den 'Sinn für das Wahre und Ernste' gegenüberzustellen." Im gleichen Zusammenhang sind die meisten der Initiativen Mendelssohns zu sehen, angefangen von den in Berlin im elterlichen Haus veranstalteten Hauskonzerten (mit teilweise beinahe 300 Gästen) über die dirigentische Tätigkeit und die Leitung vieler Musikfeste in Berlin, Düsseldorf, Aachen, Köln, Frankfurt, Leipzig, London und anderswo bis hin zum Einsatz für das Leipziger Konservatorium oder die Berliner Akademie der Künste – letzteres ein Traum, der nicht in Erfüllung ging. Bei all diesen Plänen, Ideen und ungezählten Auseinandersetzungen ging es um Öffnung, Liberalisierung und Demokratisierung der Kunst und speziell der Musik. Sie sollte gerade daraus neue Macht gewinnen.
Bis in die Kompositionen hinein lässt sich dieses Bemühen verfolgen. Rainer Riehn notiert in Band 14/15 der Musik-Konzepte: Der Komponist hebe gerade hier die herrschaftsabbildende Dichotomie zwischen melodieführender Stimme (als Träger des Diskurses) und Begleitung auf. "Mendelssohn bringt das 'Unterdrückte' – hier durchaus in mehrfacher Interpretation des Begriffs … zu verstehen – nach 'oben': das, was früher nur Folie war. Es gibt in seinem Orchestersatz keine Stereotypen, keine bloßen Füllsel mehr, er ist vielmehr aufgebrochen, so kunstvoll die sekundäre Politur ihn wiederum glättet." Geck, Riehn und übrigens auch Hans Mayer thematisieren von hier ausgehend Mendelssohn als sehr widersprüchlichen Künstler, der es nicht darauf anlege, sein Publikum zu provozieren, sondern es für die Kunst einzunehmen. Sein Spätwerk weise in eine Richtung, die neue Dimensionen erahnen lasse.

Dimensionen, die anderen Generationen vorbehalten blieben. Den großen Sprung hatte ich bereits angekündigt und so sehen Sie mir bitte nach, wenn wir Brahms, Wagner und auch Bruckner und Mahler oder Debussy an dieser Stelle übergehen. Die völlige Aufhebung von Melodie und Begleitung, einhergehend mit der Aufhebung harmonisch hierarchischer und aufeinander bezogener Tonarten blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten – ein neuer Geist weht in jedwede Richtung und entfesselt rhythmische (Stravinski), formal und tonal völlig freie (Varése) und natürlich auch instrumentale Kräfte, die Gewalt des neuen Jahrhunderts geht einher mit der Etablierung des Taktwechsels, des Schlagwerks, der Atonalität und später der Elektronik. Im Untergrund verborgen wie die Idee vom "ewigen, einzigen" und "allmächtigen" Gott ordnet Schönberg in seinem 'opus summum', der unvollendeten Oper Moses und Aron das gesamte Stück einer einzigen Zwölftonreihe unter und entwirft mit dem Beginn des Werkes, bei dem Moses die vielfach aufgeteilte Stimme Gottes aus dem brennenden Dornbusch vernimmt, eine klanglich, melodisch, rhythmisch wie harmonisch faszinierende Szenerie, komponiert Anfang der dreißiger Jahre, also noch vor den desaströsen Ereignissen danach.

Beispiel 3, Schönberg, Moses und Aron, Beginn

Die Kantate Ein Überlebender aus Warschau bildet dazu einen zeitlichen Rahmen, sie entstand nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust im Jahr 1947 und knüpft stilistisch an den Moses an. Erstmals kann davon die Rede sein, dass die unfassbare Gewalt und Bosheit einer Epoche in der Musik mächtig wird – das Stück wurde zu seiner Uraufführung nach einer Schweigeminute wiederholt und erntete danach großen Beifall. In ihrer Einführung beim Arnold-Schönberg-Center Wien zitiert Therese Muxeneder die Worte Luigi Nonos: "Dieses Meisterwerk ist aufgrund seiner schöpferischen Notwendigkeit des Verhältnisses Text - Musik und Musik - Hörer das ästhetische musikalische Manifest unserer Epoche."

Die geistige Idee in Verbindung mit der Struktur des Materials kann wohl als die entscheidende Macht dieser Werke betrachtet werden und Nono selbst fügt dem das konkrete politische Engagement hinzu: Ganz persönlich als Mitglied der kommunistischen Partei Italiens und kompositorisch in vielerlei Schattierungen bis hin zur La fabbrica illuminata von 1964, die die Alltagsrealität einer Fabrik und Alltagstexte zum musikalischen Material erhebt. Jürg Stenzl schreibt in seiner Monografie, Nono habe nun nicht mehr nur Zeugnis ablegen sondern direkt eingreifen wollen und zitiert ihn mit den Worten: "Ich sehe wie nötig es für uns alle ist, alles direkt zu kennen, zu prüfen, zu verstehen. Man sieht danach klarer und konkreter, man ist weniger abstrakt und theoretisch. Aber es ist eine sehr schwere Probe."

Zuvor war die Intolleranza 1960 entstanden, die an Schönbergs Survivor anknüpfend dokumentarisches Material verwendet, Schlagzeilen, aktuelle Ereignisse, aber auch Lyrik bspw. von Ripellino, Majakowski und Brecht und das Schicksal eines Gastarbeiters thematisiert, der in seine Heimat zurückkehren will, in Friedensdemonstrationen gerät, verhaftet und gefoltert wird. Mit einer neuen Gefährtin kommt er nach Hause, das Dorf wird von einer Hochwasserkatastrophe verwüstet, am Ende bricht der Damm und das Wasser reißt alles mit sich. Die letzten Worte der beiden: "Hier muss man bleiben, hier alles ändern".
Ein Ausschnitt des Beginns und der Verhörszene.

Beispiel 4, Nono, Intolleranza 1960

Konrad Boehmer, als 20-jähriger Student bei der Kölner Aufführung 1962 dabei und Assistent, berichtet über die Situation der beiden Parteien aus "Musik-der-Zeit"-Anhängern (einer Konzertreihe des WDR) und der von ihm als "Philistern" der Oper bezeichneten Fraktion: "Als dann Nono in die Oper einbrach war es, wie wenn Gregor Gysi Angela Merkel öffentlich auf einem CDU-Parteitag knutschen würde. Die Kölner Oper war damals heiliges Terrain der Philister. Wegen Nono drangen die Fortschrittler dort ein. Die Philister waren doppelt beleidigt: wegen der 'modernen' Musik und wegen der politischen Botschaft. Daher die heftige Konfrontation, die ich als sehr erfrischend empfand. Was waren das für Zeiten, da Musik die Menschen noch so berührte, daß sie sich die Kehlen heiser brüllten."

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind im Heute angekommen. Nono starb 1990, der anfangs zitierte Text von Dieter Schnebel datierte aus den Jahren 1974/75. Bitte gestatten Sie mir noch zwei Abschweifungen und zunächst eine Entschuldigung und Erklärung, bevor ich auf Schnebel zurückkomme.

Die Entschuldigung: Es fehlt in meinem Panorama sehr sehr viel und es könnte womöglich der Eindruck einer Einseitigkeit entstehen, sowohl was die Provenienz der ausgewählten Komponisten als die Stilistik betrifft – die Macht der Musik und dessen, woraus sie sich speist wäre genauso mit Beispielen aus dem Jazz zu diskutieren. Bitte um Gnade, auf diesem Gebiet kenne ich mich als Dirigent einfach zu wenig aus und würde niemals wagen, Bündiges dazu zu sagen – es ist auf dem eigenen Feld schon schwer und gewagt genug.

Die erste Abschweifung: Die Antithese. Ihr müssen wir natürlich nachgehen. Es gibt seit einiger Zeit ein Buch unter dem etwas knalligen und effektvollen Titel "Böse Macht Musik" , Ergebnis eines Symposiums. Diskutiert werden, wie es im Vorwort heißt, Ansätze zu einer "Ästhetik des Bösen in der Musik". In einem "Versuch über das Anorganische in der Musik" schreibt da etwa Nina Noeske: "Bis heute ist die Auffassung verbreitet, dass es sich allein dann um ein 'großes Werk' handeln könne, wenn dessen Bestandteile wie aus einem Guss entstanden erscheinen. … Das Deutsche, die Seele, das Tiefe, das Organische, das Schöpferische: Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass diese Kategorien im 19. Jh. zusammengehören. Hinzuzufügen wäre: Auch Goethes Faust ist ein prototypischer Deutscher. Hieraus ergibt sich zugleich das Gegenbild: das Französische, das Intellektuelle, das Ironische, das Mechanische, das Seelenlose und Zerstörerische; kurz: Mephisto."

Das sind zweifellos Fragen, die gestellt und diskutiert werden müssen, erst recht unter dem Aspekt der Überwältigungsstrategien, transzendentaler Effekte und der Banalisierung, die Beate Kutschke in ihrem Aufsatz über "Imagines 'böser' Musik" thematisiert. Sie geht dabei u.a. der Frage nach, wie der Wagnersche Walkürenritt zum faktischen und fiktionalen Soundtrack kriegerischer Handlungen werden konnte, bspw. in Coppolas Helikopter-Angriffsszene von Apocalypse now und endet konsequenterweise bei der Nutzung von Musik als Waffe und Folterinstrument. " Heavy Metal, Hard Rock und Rap sind für die Soldaten gut, weil sie dazu dienen, sich selber psychisch auf einen Einsatz vorzubereiten … und weil sie zugleich dazu eingesetzt werden können, die Feinde, d.h. die Angegriffenen oder Verhörten, zu schwächen. Die stundenlange und extrem laute Beschallung mit der ausgewählten Musik schädigt nicht nur das Gehör, sondern demütigt zugleich auch diejenigen, die die jeweils gespielte Musik und die davon repräsentierte Kultur ablehnen." Sie bezieht sich abschließend auf einen Aufruf britischer Musiker und Musikwissenschaftler, die darauf drängten, den Missbrauch von Musik als Waffe im Krieg und für Folter zu beenden. Sie gingen implizit von der Gefahr aus, "die mit dem Missbrauch von Musik als Waffe und Folterinstrument verbunden ist: dem Verlust des positiven kulturellen Wertes, den Musik bisher besaß und, damit verbunden, dem Verlust der Musik als Kulturgut generell. Das 'böse' Image, dass Musik, insbesondere klassischer Musik, seit 1945 zugeschrieben wird, scheint sich in den neuen auditiv orientierten Kriegstechniken verselbständigt zu haben."

Das böse Image klassischer Musik? Das bleibt einem nun doch etwas im Halse stecken – wir sollten uns aber nichts vormachen, es sind die gleichen Intentionen, die heute dazu führen, Orchester, Theater und Musikschulen mit Kürzungen, Schließungen und Fusionen zu belegen und die Katze beißt sich sprichwörtlich in den Schwanz: Es ist der vorhin im Zusammenhang mit Nono zitierte Konrad Boehmer, der 1970 mit einem revolutionären Aufruf der "Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft" Musikausübung und Musikausbildung kritisierte und die "von vorneherein vollzogene Programmierung der jungen Musiker im Hinblick auf ihre spätere partikulare Funktion im bürgerlichen Musikleben" anklagte, "welches die falsche musikalische Arbeitsteilung hervorbrachte und sanktionierte ... Die so organisierte musikalische Arbeit wird zum Musterbeispiel entfremdeter Arbeit, bei welcher die Produzenten weder wissen, was sie produzieren, noch, warum, für wen und zu welchem Zweck sie produzieren." Beate Kutschke verweist auf die Zusammenhänge mit den Studentenunruhen, der Abkehr von allen verdächtigen Traditionen Nazideutschlands wie auch auf die Wechselwirkungen zur aufkommenden Bewegung der Jugend-, Rock- und Popkultur, die das negative Image der klassischen Musik befördert habe.

Hier befinden wir uns auf einem heiklen Punkt der Diskussion, denn weder können die angeführten Zitate bedeuten, Heavy Metal, Hard Rock, Rap oder Popmusik seien als Antipoden klassischer Musik zu verstehen, noch sind sie per se gut oder böse, nur weil sie ihrerseits gegen Traditionen aufbegehrt und sich durchgesetzt haben oder andererseits als Waffe oder Folterinstrument eingesetzt werden. Etwas pointiert würde ich von heute aus gesehen und zumal als Dirigent auch die Frage nach dem partikularen Rädchen im Getriebe eines 'bürgerlichen Musikbetriebes' stellen: Mit 100 Leuten Stravinskys Sacre zu erarbeiten, partnerschaftlich respektvoll und emotional überzeugend aufzuführen und zu interpretieren halte ich für weniger autoritär als den Auftritt einer Popband, die über zwei Stunden Tausende Menschen im Wesentlichen mit einer betonten Zwei und Vier in Trance zu versetzen sucht. Das Beispiel zeigt, dass diese Diskussion in die falsche Richtung führt und außerdem überholt ist. Gerade das Beispiel Barenboims und seines West-Eastern Divan Orchestras zeigt ja deutlich eine gegenläufige Tendenz und die Bedeutsamkeit eines Zusammengehens von Autorität und Authentizität im Musizieren und Handeln. Das oben entfaltete historische Panorama beweist, dass alle Musik, die uns heute als mächtig erscheint, im Geist der Auseinandersetzung entstand und nicht im Geist der Anpassung. Schütz und Nono sind Anfangs und vorläufige Zwischenpunkte einer beständigen Entwicklung und ihre Interpretation somit weit entfernt von einem 'Musterbeispiel entfremdeter Arbeit' – indessen gilt die Mahnung unvermindert, in der Ausbildung neue Wege zu suchen und nach dem Zweck dessen zu forschen, was wir tun.

Im von Stefan Gies herausgegebenen Band "Kulturelle Identität und soziale Distinktion" schreibt Ulrik Volgtsen in seinem Aufsatz "Identität, Authentizität und Qualität als Komponenten von Kultur": "Ohne eine nicht-institutionalisierte 'Graswurzelkultur' wäre die institulionalisierte 'Hochkultur' nicht in der Lage sich zu erneuern, sie würde im Dogmatismus erstarren und zum toten Kanon werden… Umgekehrt würde die nicht-institutionalisierte 'Graswurzelkultur' ohne eine institutionalisierte 'Hochkultur' ihre Richtung verlieren, ihre Funktion als nicht institutionalisierte ästhetische Gegenwelt. Ohne den Gegensatz zwischen Etabliertem und nicht Etabliertem würde auch die Unterscheidung zwischen hoch und niedrig im Sinne von Hochkultur und Massenkultur verloren gehen. Die Gesellschaft als Ganzes würde ihre Fähigkeit verlieren, sich über Werte zu definieren und sich mit einem Wertesystem zu identifizieren und am Ende ihres Reflexionsvermögens verlustig gehen."

Und eine zweite Abschweifung: Die mittlerweile an vielen Stellen veröffentlichten Studien (u.a. einer sogenannten Shell-Studie und der bekannten und häufig zitierten Bastian-Studie) über die Steigerung von Intelligenz, Reaktionsfähigkeit, emotionaler und sozialer Kompetenz von Kindern und Erwachsenen durch Musik lassen keinen Zweifel zu, dass die Macht der Musik kein Hirngespinst einer gebildeten bürgerlichen Mittelschicht ist, sondern ein nicht wegzudiskutierender Fakt. Der Hannoveraner Musikmediziner Eckart Altemüller antwortet auf die Frage, wie Musik Emotionen auslöst: "Das liegt daran, dass Musik wahrscheinlich ein uralter emotionaler Signalgeber ist. In der Musik stecken vermutlich Klänge und Laute drin, die unsere Vorfahren schon lange vor dem Spracherwerb als emotionalen Ausdruck verstanden haben: Seufzen, Lachen, Rufen und so weiter. Und das wurde dann in der Musik später ausgebaut, es wurde ritualisiert und hat dann zu einer Art von emotionaler Verständigung geführt." Und bereits in einem Artikel von Sarah Schelp aus dem Jahr 2008 für ZeitWissen heißt es: "Der renommierte amerikanische Kognitionspsychologe Howard Gardner … hält die musikalische Intelligenz für eine der wichtigsten Teilintelligenzen des Menschen. Die Welt der Töne befähigt Kinder, ihre Umgebung besser zu verstehen und sich anderen mitzuteilen. Musizieren lässt die Verbindungen zwischen den Nervenzellen beider Gehirnhälften besser wachsen, fördert Konzentration und Kommunikation. Dabei … ist es besonders wichtig, selbst aktiv zu werden, zu singen, ein Musikinstrument zu spielen."
Umso unverständlicher, wenn 2008 konstatiert werden musste, dass an deutschen Grundschulen 82% des Musikunterrichts ausfallen, Musiklehrer generell knapp sind, die Qualität des Unterrichts beständig sinkt und Musik als Laberfach gilt.

Und auch dies sollte uns eine Mahnung sein: "In den Genuss des bayerischen Staatsopernprojekts gelangen pro Jahr gerade mal vier Hauptschulklassen. Auch die spätestens seit dem Kinofilm Rhythm is it! boomende Musik-Eventkultur an Problemschulen erreicht selten mehr als 100 Schüler auf einen Schlag. In Deutschland gehen aber derzeit rund 9,5 Millionen Kinder und Jugendliche in die Schule – und das nicht projektwochenweise, sondern jeden Tag. Aktionen wie Oper.Über.Leben, [so heißt das erwähnte Projekt der Bayerischen Staatsoper] die School-Tour der Deutschen Phono-Akademie oder das Education-Programm der Berliner Philharmoniker können den regulären Musikunterricht nicht ersetzen. Sie sind trotz gut gemeinten Engagements nicht mehr als Appetithappen, die das eigentliche, vornehmlich strukturelle Problem ungewollt kaschieren. Diese »Events« – von den Politikern mit viel Applaus bedacht – bleiben oft nur schillerndes Versprechen auf ein Leben mit Musik."

Machen wir an dieser Stelle einen Punkt und fügen nur noch dies an: Das Deutsche Musikinformationszentrum nennt die aktuellen Zahlen (von 2012): "Insgesamt 3,8 Millionen Musizierende sind in den Verbänden des instrumentalen und vokalen Laienmusizierens zurzeit organisiert, rund 2,3 Millionen davon als aktive Sänger oder Instrumenta¬listen. Mit rund 750.000 Kindern und Jugendlichen macht der Anteil des musikalischen Nachwuchses rund ein Drittel aller aktiv Musizierenden aus." Etwa 1,4 Mill. Menschen werden privat oder an den 27.390 Musikschulen unterrichtet, 93% davon Kinder und Jugendliche – Tendenz steigend. Jenseits aller politischen Diskussionen und Entscheidungen haben die Menschen und erfreulicherweise auch die Kinder und Jugendlichen längst begriffen, was es mit der Macht der Musik auf sich hat – Schwierigkeiten in der Nachwuchsgewinnung und Qualität blenden wir dabei nicht aus.

Über solche und ähnliche Fragen wollen wir in den nächsten Tagen bei DMM 2014 diskutieren und ich freue mich sowohl auf alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, alle Kursdozentinnen und –dozenten wie auf alle Vortragenden, Disputierenden und Zuhörenden! Seien Sie alle von Herzen willkommen geheißen. Ich darf an dieser Stelle dem Vorbereitungsteam unter Leitung von Prof. Andreas Baumann ganz herzlich danken und erwähne stellvertretend für viele, die dahinter stehen Silke Fraikin, Stefanie Schwerk, Sibylle Hoppe, Dr. Katrin Bauer und Judith Storbeck, die wie immer mit zuverlässigster und engagiertester Unterstützung alles ermöglicht haben, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Ich danke allen Sponsoren, ganz besonders der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank und Ralf Suermann ganz persönlich für das hohe Engagement, der Drewag sowie dem DAAD, der zum wiederholten Mal die Alumni-Akademie möglich macht. Ich danke den Staatlichen Kunstsammlungen und Prof. Dr. Hartwig Fischer sowie Prof. Dr. Harald Marx, die Führungen möglich machen und selbst durchführen. Ich danke den Dresdner Neuesten Nachrichten, die mit einer intensiven Medienpartnerschaft erneut die DMM unterstützen und in einzelnen Artikeln unsere Gäste und Vorhaben vorgestellt haben.

All dies führt hoffentlich dazu, dass wir in den nächsten Tagen keine süße Brühe anrühren, sondern im Sinne Schnebels "die Wasser vorne, wo die Musik selbst ihren Lauf bahnt", kraftvoll statt kraftlos werden. Er zitiert als utopische Richtung künstlerischen Handelns Ernst Bloch, der den Gegensatz zur "Dummheit des Abklatsches" und den "Lügen der Schönfärberei" einfordert: "Schaffende Kunst ist eine, indem sie sowohl das Typisch-Bedeutende kenntlich macht, wie indem sie das ungeworden Mögliche im bewegt Wirklichen anfeuernd, ermutigend, als realistisches Ideal vorausgestaltet."

Ich darf deshalb abschließend die herausgefilterten Stichworte meines – wie betont: sehr persönlichen – historischen Panoramas nochmals ins Gedächtnis rufen:

Inhalt, Ernsthaftigkeit, Klarheit, Ehrlichkeit, Mystik, Inspiration, Kreativität, Entwicklung, Struktur, Wissenschaft, Objektivität, Abstraktion, Universalität, Phantasie, Erhabenheit, Rührung, Leidenschaft, Seele, Enthusiasmus des Geistes, Idealismus, Genialität, Originalität, Experiment, revolutionärer Aufbruch, Kontemplation, Lyrik, Melancholie, Einsamkeit, Einfachheit, Phantastik, Mythologie, Explosivität, Virtuosität, Offenheit, Liberalität, Demokratie, Struktur des Materials, Autorität, Authentizität ---

All dies könnte die Macht der Musik ausmachen und mit Karl Valentin würde ich an dieser Stelle verschmitzt hinzufügen: 'So einfach, und man kann sich's doch nicht merken'.

Wohlan – macht Musik! Ich danke Ihnen!

[im Original alle Zitate mit den entsprechenden Fußnoten und Verweisen - das ist hier nicht so einfach möglich, um Vergebung]

1
Jun
2014

Klaus Schultz zum Gedenken

Klaus_Schultz-273

Im Jahr 1996 engagierten mich Klaus Schultz und Reinhard Schwarz an das Staatstheater am Gärtnerplatz München, wo ich als Dirigent und seit 1999 als Geschäftsführender Stellvertreter des Chefdirigenten (David Stahl) bis 2004, danach bis 2007 als ständiger Gastdirigent wirkte. Mittlerweile sind alle drei nicht mehr am Leben, Klaus Schultz verstarb am 26.04.2014, nachdem er noch im Februar bei zwei konzertanten Aufführungen in Dresden die Loriot-Texte zu CANDIDE von L. Bernstein brillant vorgetragen hatte. Eine Erinnerung.


Gärtnerplatz 1996 - 2007
Ein Rückblick

Sein kleines, enges, für einen Staatsintendanten nicht üppig bemessenes Dienstzimmer ist voller Bücher und Akten. Papiere stapeln sich, Programmhefte, Entwürfe, Bühnenbilder. Im Hintergrund ein Schreibtisch, Fax, Computer, Telefon. Vorn ein kleinerer runder Tisch, 3-4 Stühle. Größere Besprechungen finden in der 'Bibliothek' statt, ein Raum auf Ranghöhe, für den der Gärtnerplatz-Chef einen Teil seiner Privatbibliothek bereitgestellt hat – der Intellekt dominiert ungewollt auch die sogenannte 'Dispo', die das Tagesgeschäft klärt.

Klaus Schultz – ein "intellektueller Intendant" ohne rechte Fortüne? Diese Mär geisterte nach Ende seiner Amtszeit 2007 durch das Münchner Feuilleton und es gilt, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Gerechtigkeit gegenüber einem intelligenten, leisen und sehr menschlichen Intendanten, Gerechtigkeit aber auch einem Ensemble gegenüber.

Schultz war nie ein lauter Intendant, seine brillanten Premierenreden oder Ansagen vor dem Vorhang (angesichts von 70 Besuchern einer von der Technik bestreikten halbszenischen Vorstellung von Schnebels MAJAKOWSKIS TOD: "...und sagen Sie nicht, es sei schlecht besucht: Sie sind ja da, also ist es gut besucht!") waren zwar humorvoll, treffend, bisweilen auch ironisch – laut im Sinne von Beifall heischend waren sie nie. Aber auch nicht vordergründig "intellektuell" – dagegen geprägt von Intelligenz. Schultz wusste stets um die Halbwertszeit des Premierenerfolgs. Mochte er noch so groß sein, 2 Tage später vermeldet die Presse gern das Gegenteil.

Die Presse. Man möchte manchen Kritikern die Erfahrung, die Weltläufigkeit und vor allem das immense Wissen dieses Theaterprinzipals (obwohl das Wort nicht unbedingt für ihn passt – ein Prinzipal im Sinne Everdings war er nie und wollte es wohl auch nicht sein) wünschen. Wer mit Adorno, Dohnanyi, Gielen, Berghaus, Everding, Sawallisch, C. Kleiber, Karajan und Tausenden anderer Hochberühmtheiten ständig gemeinsam gearbeitet, Theater gemacht, Pläne geschmiedet und vor allem verworfen hat, wer als Dramaturg in Frankfurts Oper, Münchens Staatsoper, Berlins Philharmonie, später als Intendant in Aachen und Mannheim, zuletzt eben in München am Gärtnerplatz sowie als Mitarbeiter und Stellvertreter W. Wagners in Bayreuth gearbeitet hat – sollte man da nicht öfter die eigenen Kriterien befragen?

Natürlich kann die LUSTIGE WITWE schiefgehen – sogar und vielleicht gerade mit oder wegen Hildegard Behrens in der Titelrolle. Ein grandioser Versuch war es dennoch, akribisch recherchiert und mit einem fulminanten Programmheft versehen: immerhin hatte Hitler seinerzeit das Stück mit Heesters als Danilo von der "Führerloge" im Gärtnerplatztheater aus mehrfach verfolgt – das kann keine moderne Regie einfach übergehen. Franz Winter hat dabei nicht einmal das Stück quergebürstet. Keine Kloschüsseln, kein Computer, keine modernen Kostüme. Lediglich die Witwe etwas älter und melancholischer als üblich, und der Danilo ein alter serbischer Suffkopf – kein Dandy mit weißem Seidenschaal. Den berühmten Auftrittsschlager "Dann geh ich ins Maxim" sang Danilo konsequenterweise im Kopfstand… Winter hat dem Stück keinen rauschenden Erfolg verschafft – das war der Fehler. Ein Scheitern "auf hohem Niveau", wie Schultz damals konstatierte. Das sieht natürlich ein Kultusministerium anders.

Ähnlich der streitbare VOGELHÄNDLER, dessen interessanter Ansatz spätestens bei Mahlers Posthornsolo, Schuberts 'Nachthelle' und dem fehlenden happy-end dem Publikum im Halse stecken blieb – aller Poesie zum Trotz. [Zweite Vorstellung, Ende, gezischter Publikumskommentar: "Schubert gehört nicht in die Operette"]. Und natürlich ist eine im großen Münchner Haus mit den Biermösln aufgepeppte FLEDERMAUS, launisch und flott gespielt, allemal "reibungs"loser in des Wortes bestem Sinn als die des kleinen Hauses, deren Dialoge einstmals (in der Originalbesetzung) wahrscheinlich so genau gearbeitet waren wie sonst nirgends in Operettendeutschland. Von meinen etwas differenzierteren Tempoansätzen, über die sich streiten lässt, will ich hier nicht reden, auch nicht von der, wie ich glaube, wundervollen Idee des Regisseurs (die ich in verschiedenen Arrangements umzusetzen suchte), im 2. Akt eine Schrammelkapelle spielen zu lassen: Strauß, russische Walzer, ungarischen Csardas und – notabene- Schubert. All das trug zu Missverständnissen bei, beförderte die Melancholie des Stückes, was nicht allseits gut ankam. Sei's drum. Es war eine ehrliche FLEDERMAUS, eine, die sich der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Zeit zu stellen versucht hat. Und die Reibung nicht scheute – vor allem die Reibung an den Ansprüchen eines Publikums, das ein als lustig und besonders flott apostrophiertes Stück sehen will.

Dem Gärtnerplatz leichthin Biederkeit vorzuwerfen, wie es 2007 die Bayerische Staatszeitung tat (als Sprachrohr der Landesregierung und damit auch der Kultusbehörde besonders interessant zu vermerken!) und gleichzeitig gütigst zu erwähnen, ein solches Theater könne sich eben keine Bartoli leisten – das ist wohlfeil. Denn mit seinen Ressourcen hat der Gärtnerplatz unter Klaus Schultz stets recht ordentlich gehaushaltet. Er hat ein Ensemble beschäftigt, das eine Cornelia Horak beschäftigte, die als Ilia, Papagena, Pamina, Fiordiligi, Despina, Orlowsky, Dolly, Hannah Glawary, Valencienne und so weiter ebenso brillierte wie als Gefährtin in Nonos INTOLLERANZA. Sie steht als besonders vielseitige Sängerin und Beispiel nur für das, was viele andere ebenso verkörperten: Ann-Katrin Naidu, Simone Schneider, Ruth Ingeborg Ohlmann, Elaine Ortiz-Arandes, Nathalie Boissy, Alexandra Petersamer, Barbara Schmidt-Gaden, Sandra Moon, Sneshinka Avramova, Wolfgang Schwaninger, Thomas Cooley, Kobie van Rensburg (der den Idomeneo mittlerweile an der MET gab), Christoph Stephinger, Holger Ohlmann, Thomas Gazheli, Garry Martin, Jörg Simon... – Leute, mit denen je nach Aufgabe immer Staat zu machen war! Und die Ungenannten – sie mögen verzeihen – hatten ebenso ihre Sternstunden. Ausfälle gab es so gut wie nie. Man sollte so ehrlich sein zu erwähnen, dass die Monatsgage im Gärtnerplatz dort endete, wo das Abendhonorar für manche mittlere Partien in der Bayerischen Staatsoper anfing.

Setzen wir also an dieser Stelle noch eine besondere Erinnerung hinzu. Neben der wundervollen MARTHA mit Loriot, dem CAMPIELLO mit Wenjamin Smechow (dem berühmten Moskauer Voland des Taganka-Theaters), Ausgrabungen wie der MIGNON oder schlichtweg wundervollen Abenden mit ENTFÜHRUNG, IDOMENEO, ARIADNE, CAPRICCIO, FALSTAFF, DON GIOVANNI, FIGARO, ZAUBERFLÖTE, HÄNSEL UND GRETEL u.v.a.m. gehört die folgende Liste zu den wirklich innovativen Leistungen der Ära Schultz:

Musiktheater des 20. Jahrhunderts am Gärtnerplatz:

1997: AUS DER MATRATZENGRUFT (ML R. Schwarz, I G Horres) Günter Bialas – der altersweise Meister voll stiller Schönheit, künstlerischer Ehrlichkeit und handwerklicher Sauberkeit.
1997: MELUSINE (Münchner EA) (ML R. Schwarz/E. Klemm, I A. Paeffgen) Aribert Reimann – der avancierte Ästhet der Moderne, voll rhythmischer und virtuoser Finessen, voll romantischer Anspielungen, schwierig und schön...
1999: WENN DIE ZEIT ÜBER DIE UFER TRITT (UA) (ML E. Klemm, I P. Boysen) Wladimir Tarnopolski – der bizarre Polystilist aus Moskau mit seinem ambitionierten Klangkompendium von S. Reich bis I. Xenakis; der dennoch er selbst blieb (und mit dem Komponieren erst 3 Wochen vor ultimo fertig war...).
2000: THE RAKE's PROGRESS (ML D. Stahl/E. Klemm, I P. Boysen) Igor Stravinski – der strukturbetonte Poet mit dem an Bach und Mozart gemahnenden Meisterwerk.
2000: DIE ENGLISCHE KATZE (Münchner EA) (ML E. Klemm, I J. Schölch) Hans Werner Henze – der artifiziell romantisierende Klassiker der Moderne… 50 und mehr Ensembleproben ermöglichte das Gärtnerplatztheater und erntete einen großen Erfolg.
2001: DER REVISOR (ML E. Klemm, I C. Guth) Werner Egk – die bayerische Variante von Stravinski und Prokofjew. Ein bissiges Stück, nicht ganz so genial wie seine Vorbilder.
2002: A(T)TEMPTING BEUATY (UA) (CH Philip Taylor, ML E. Klemm) Ballettabend mit Musik von Elena Kats-Chernin, Gavin Bryars, Arvo Pärt, Henryk Górecki, Aaron Jay Kernis und Annie Lennox – einer von Philip Taylors phantasievollen Abenden mit neuen Choreografien
2003: DAS BEBEN (UA) (ML E. Klemm, I C. Guth) Avet Terterian – der unbekannte Exot aus Armenien; voller Intensität, bohrender Schmerzlichkeit, unbändiger Kraft, meditativer Stille und aufwühlender Energie. Terterian – ein persönlicher Freund, dem ich posthum diese UA schenken konnte.
2004: BERENICE (UA) (ML Stefan Asbury, I C. Guth) Josef Maria Staud – der moderne Nachfahre Schuberts und Mahlers, Klangmagier mit einem Hang zum Jazz. Das anspruchsvolle Libretto Durs Grünbeins.
2005: MAJAKOWSKIS TOD (Münchner EA) (ML E. Klemm, I F. Klepper) Dieter Schnebel – der junggebliebene Theologe, Philosoph, Komponist, Linke… Ein anvanciertes Stück, überraschend romantisch, den Rap nicht scheuend, auffallend musikantisch – "tja, ich wollte ja eine Oper schreiben!".
2007: INTOLLERANZA (Münchner EA) (ML E. Klemm, I F. Klepper) Luigi Nono – der aufrührerische Linke und sensible musikalische Poet, Freund von M. Pollini und C. Abbado, ein Stück musikalischer Revolution am Gärtnerplatz.

Damit – und mit vielen weiteren Zusatzprojekten, die konzertant erklangen – dürfte zwischen 1996 und 2007 das Staatstheater am Gärtnerplatz München eins der innovativsten Musiktheater deutschlandweit gewesen sein.

Klaus Schultz sei Dank.

29
Apr
2014

Peter Gülke zum Achzigsten

Peter-Guelke

Am heutigen Tag fand in der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden eine Ehrenkolloquium für Peter Gülke statt, z. Zt. auch Präsident der Sächsischen Akademie der Künste, die Kooperationspartnerin der Veranstaltung war. Ein Grußwort mit Gratulation.

Veröffentlichungen von Peter Gülke

Peter Gülke auf MDR



Verehrter, lieber Herr Prof. Dr. Gülke,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ganz herzlich heiße ich Sie alle willkommen zu diesem Ehrenkolloquium und darf zu Beginn zunächst die Geburtstagsgrüße und –wünsche des gesamten Rektorats und unserer Hochschule an unseren Jubilar übermitteln!

Ganz besonders heiße ich unsere Gäste willkommen, Sie, verehrte Frau Prof. Dr. Wiesenfeldt aus Jena bzw. Weimar, Herrn Prof. Dr. Schneider aus Berlin, Herrn Prof. Dr. Hinrichsen aus Zürich, Herrn Prof. Dr. Osterkamp aus Berlin! Ganz herzlich grüße ich auch die mitwirkenden Musikerinnen und Musiker, das Dresdner Streichquartett von der Sächsischen Staatskapelle, das trio sostenuto – gerade mit einem Preis beim Hochschulwettbewerb geehrt – und das vocalis ensemble dresden. Wir freuen uns, dass Sie alle gekommen sind, um an diesem Tag gemeinsam mit Peter Gülke zu feiern, indem wir ein klein wenig zurück, vor allem aber weiter nach vorn schauen auf den Gegenstand, der uns alle umtreibt: Die Kunst, in Sonderheit die Musik. Die Vorgabe von Peter Gülke war ebenso lakonisch wie umfassend: von Dufay bis Rihm… Über alles dazwischen könne geredet werden. Lassen Sie mich etwa in der Mitte, oder vielleicht besser: im goldenen Schnitt anfangen:

"Triumph der neuen Tonkunst" heißt ein exemplarisches Buch aus der Feder des heute zu Ehrenden. Es beginnt mit der Entschuldigung, dass die "Annäherung" an die großen Sinfonien von Mozart für den Titel sicher passender, jedoch bereits durch den großen Georg Knepler besetzt gewesen wäre. Und dann fährt Gülke fort:

"Kein kommentierendes Wort wird die Musik, die es meint, je ganz treffen, die Mozartsche am wenigsten. Einerseits ist der Beschreibende verpflichtet, zu reflektieren, was er treffen kann und was nicht; andererseits muß es ihn locken, den gegebenen Spielraum aufs Äußerste zu nutzen, die verbalen Kreise möglichst eng zu ziehen um das, was unerreichbar bleibt. … Was klingt, ist allemal anders, als was sich erklären läßt; dennoch und deshalb sagt gewissenhafte Rechenschaft über die Art und Weise, in der eine Erklärung am Phänomen der klingenden Musik abprallt oder danebentrifft, über diese mehr als Verallgemeinerungen, welche im Eifer des Identifizierens das Nichtidentische, durch das Schleppnetz der Argumentation Fallende, über dem Sagbaren das Nichtsagbare vernachlässigen. Wer an deren Abgrenzung sich abarbeitet, wird dem jenseits Liegenden sich mehr annähern, als wer bei der Auskunft innehält, Musik vom Rang der hier behandelten mache alles spekulative Drumherum überflüssig – wohl verständlich angesichts jenes Anpralls, schlimm jedoch als Prämisse."

Es sind Widersprüche dieser Art – und als Dirigentenkollege erlaube ich mir anzufügen – es sind existenzielle, im Sinne des Wortes an die künstlerische Existenz greifende Widersprüche, von denen Peter Gülke redet. Er thematisiert sie in seinem Werk und Wirken von Beginn an und es kann heute nur von einer unübersehbaren Fülle gesprochen werden, zu der diese existenziellen Auseinandersetzungen geführt haben – wir stehen staunend vor einem faszinierenden Lebenswerk und verbeugen uns. Dass nach ungezählten Ehrungen aller Art, zu denen auch die Ehrenpromotion dieser Hochschule im Jahr 2007 gehört, nun mit dem Siemens-Musikpreis 2014 eine gebührende und überaus angemessene Krone aufgesetzt wird, ist uns eine ebenso große Freude, wie diese Würdigung ein besonderes Signal aussendet. Erst zum dritten Mal nach Robbins Landon 1992 und Reinhold Brinkmann 2001 ist die Entscheidung der Jury musikwissenschaftlich konnotiert – im Falle Gülkes jedoch deutlich mit dem Verweis auf die von ihm geschlagenen Brücken zwischen Theorie, Praxis und vor allem auch zur Pädagogik. Die gern als 'Nobelpreis der Musik' bezeichnete Ehrung bezieht sich insgesamt auf ein Wirken im Dienste der Musik und hebt den 'Grenzgänger' und 'Weltenverbinder' hervor.

Ganz in diesem Sinne kann Peter Gülke wohl als einer der vielbeschworenen und im Untergehen begriffenen "Universalgelehrten" bezeichnet werden, dessen interdisziplinäre Ausbildung als Musiker, als Cellist ebenso wie als Dirigent, als Musikwissenschaftler, Germanist und Romanist die Grundlage bildet für ein Schaffen, das hinsichtlich der wissenschaftlichen Ergebnisse ebenso bahnbrechend und erfolgreich ist wie hinsichtlich seiner musikalischen Laufbahn. Hinzu kommt ein bewundernswürdiges Engagement in Gesellschaft, Politik und speziell natürlich Musikpolitik. Gleichviel, ob es das von ihm ganz wesentlich geprägte Dirigentenforum des Deutschen Musikrates oder die Präsidentschaft der Sächsischen Akademie der Künste betrifft, gleichviel, ob der Kampf als Generalmusikdirektor zu DDR-Zeiten in Weimar oder jener in Wuppertal gerade die Biografie bestimmten – Gülkes Wirken war immer mit Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Gründlichkeit, jedoch immer auch mit Dialog, Kommunikation und Respekt verbunden. Um seinem Weimarer Orchester die Reise in den Westen zu ermöglichen, verschloss er sich dem Gespräch mit den politisch Verantwortlichen der damaligen Zeit nicht – stellte sich jedoch nach mehreren Stunden demonstrativ zum Yoga auf den Kopf, denn eine Bruckner-Sinfonie stand am Abend noch auf dem Konzertplan…

Sich auf den Kopf stellen und einen geraden Rücken behalten. Dies ist nur eine signifikante Geschichte von unzähligen, eine besonders eindrückliche und schöne sicherlich, die aus der Perspektive mehrerer Jahrzehnte ein Lächeln hervorbringt, zu dem die konkrete Situation damals ganz sicher keinen Anlass gab!

Ich selbst hatte die Freude und Ehre, Peter Gülke in der Zeit seines Wirkens hier in Dresden kennenzulernen. Nach dem Genuss der Lektüre seines Buches "Mönche, Bürger, Minnesänger" aus dem Jahre 1975 war er mir zu Beginn meines Studiums 1979 längst ein Begriff, ich hospitierte daraufhin in seinem Unterricht, war Zeuge etlicher Vorstellungen und Konzerte, von denen die Uraufführungen von Rainer Kunads Oper VINCENT und jene von Udo Zimmermanns DER SCHUHU UND DIE FLIEGENDE PRINZESSIN besonders im Gedächtnis haften blieben. Schon damals war der Brückenschlag zwischen Dirigieren und Wissenschaft zu bewundern: In die Zeit seines Dresdner Wirkens fiel die erste Veröffentlichung der Erkenntnisse vor allem zu Franz Schubert und Ludwig van Beethoven, deren wir sozusagen relativ nahe zu ihren jeweiligen Geburtsstunden teilhaftig werden durften. Ich werde nie die wunderbare Art vergessen, mit der uns Peter Gülke den Unterschied zwischen Akzent und diminuendo bei Schubert beschrieb und am Beispiel der fortissimo- Akkorde der 'Unvollendeten' die revolutionäre Wirkung dieses Gewitters nach dem erstorbenen Gesang des zweiten Themas demonstrierte. Um diese Sprengkraft – und was sie für die Zeit der Uraufführung möglicherweise zu bedeuten hatte – zu erneuern schlug Gülke vor, in heutigen Aufführungen statt des c-Moll einen Zwölftonakkord zu musizieren… Auch die Interpretation der "Fünften" von Beethoven und insbesondere ihres Scherzos war nach den damaligen Vorträgen und Begegnungen nicht mehr so möglich wie vordem. Es steht zu befürchten, dass die Erkenntnisse und die Neuausgabe von 1977 heutzutage wieder stark in Vergessenheit geraten sind und die Argumentationen pro oder contra del Mar (Bärenreiter) oder Gülke (Peters) dürften zum spannendsten Diskurs der Beethovenforschung gehören. Ein Jammer, dass Gülkes geplante Gesamtedition politischen Auseinandersetzungen zum Opfer fiel.

Minutiös übertrug Peter Gülke seine interpretatorischen Einsichten in der problematischen Aula der Blochmannstraße auf die Studierenden des Hochschulsinfonieorchester, probte Beethoven, Brahms, Schubert oder Strauss' Till Eulenspiegel und verlor dabei nie die Geduld. Ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Musizierenden galt ihm bei den Profis wie den Studierenden stets als wichtigste Arbeitsgrundlage. Insofern ist es nur folgerichtig, dass er in einem seiner Aufsätze über das Ende des Schamanentums beim Dirigieren sich auf Christoph von Dohnányi bezieht und den Kollegen zitiert, der von einer "neuen Partnerschaft" und vom "Ende des patriarchalischen Systems" sprach. Seit dem Erscheinen des Aufsatzes ("Dirigentendämmerung", Das Orchester, Heft 3, März 1997) sind nun schon wieder 17 Jahre vergangen, die Analyse von damals kann von heute aus gesehen als außerordentlich hellsichtig eingeschätzt werden. Sie mündet in die Erkenntnis:

"Einstweilen verdecken hohe Standards, die Machtfülle und die Allgegenwart der großen Namen, daß die Verabschiedung des Präzeptors längst begonnen hat, wie immer Napoleon und Prospero partiell überdauern mögen. Wegweisende interpretatorische Impulse gehen immer seltener von Dirigenten aus, am wenigsten von den betriebskonformen.
Der Dirigent wird dafür gerade zu stehen haben, daß das Verhältnis von universalem Anspruch und Spezialisierung neu definiert werden muß. Vielleicht aber wird sich gerade die Verschiebung des präzeptoralen Anspruchs (welcher ja nie bedeuten konnte, daß einer in allen Bereichen als letzte Instanz galt) als Moment einer demokratisierenden Versachlichung erweisen, als Entlastung, die in der Wirksamkeit des primus inter pares neue Möglichkeiten freisetzt."


Zu diesen Äußerungen passt, was Peter Gülke am Wochenende in einem Interview des MDR sagte: Seine Tätigkeit hätte stets bedeutet, sich und anderen Mühe zu machen! Wenn uns etwas am Weiterbestand der Musik des Abendlandes läge, sei dies nicht ohne diese Mühe, die wir uns alle machen müssten, denkbar. "Schreiben", sagt Gülke, sei für ihn die Fortsetzung des "Musizierens mit anderen Mitteln. und weiter: "Ich möchte beides so eng beieinander halten, wie es nur geht. Das Wort erreicht ja das, was Musik sagt, nie ganz. Es kann Musik, das musikalische Phänomen nur einkreisen. Mir macht es einfach große Freude, über geschätzte und geliebte Musik viel zu wissen. Ich schreibe über Musik, um sie noch schöner zu finden, als das ohnehin schon der Fall ist."

Mit dieser Haltung – um Vergebung, lieber, verehrter Peter Gülke – ist der zu Ehrende ganz gegen seinen Willen sicherlich selbst und vielleicht gerade deshalb zur Instanz geworden und könnte künftigen Generationen, um an den Beginn anzuknüpfen, als 'Triumph eines neuen, vor allem anderen Dirigententyps' gelten. Das mögen Musikwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler der nächsten Generationen entscheiden.

Vorerst begnügen wir uns mit besten Geburtstagswünschen und ich darf allen Gratulanten, insbesondere jenen, die sich mit eigenen Beiträgen hier vorstellen, im Namen der HfM Dresden und im Namen der Sächsischen Akademie der Künste für die Beteiligung am Ehrenkolloquium danken.
Von Herzen alles Gute, Gesundheit und weiterhin ein für uns alle inspirierendes Wirken im Dienste der Musik, lieber Peter Gülke – und ich verspreche: Wir geben uns Mühe!

18
Feb
2014

Neue Räume für Musikhochschule

Haus-2-5-innen

"Noch haben die Bauarbeiter im Haus 2.5 des Kraftwerks Mitte das Sagen. In einem Monat schon sollen aber nicht mehr Bohrmaschinen und Trennschleifer den Geräuschpegel bestimmen, sondern Klaviere, Geigen und Gitarren. Die Hochschule für Musik wird als erster Mieter im März in ein saniertes Gebäude auf dem Gelände des Kraftwerks einziehen."

So melden heute die Dresdner Neuesten Nachrichten.

In meiner Rede zur Investitur 2010 hatte ich neben anderen Schwerpunkten benannt und gefordert:

"Vielleicht lässt sich im Kraftwerk sogar ein Übestudio einrichten, damit in diesem Haus endlich Professoren eigene Zimmer erhalten, ihren Unterricht mit ihrem künstlerischen und auch administrativen Tun besser koordinieren können und wissen, wo sie ihre Tasche abstellen dürfen."

und

"Attraktive und praxistaugliche Studienangebote, Arbeits- und Rahmenbedingungen für Musikvermittlung, Musikpädagogen und Musiklehrende, die wir in unserer Gesellschaft dringend brauchen, wollen wir als Musikland und Musikstadt weiterhin Geltung behalten."

Dass nach 3 1/2 Jahren in dieser Frage Fortschritte "sichtbar" sind, ist wirklich eine gute Nachricht.

Begrüßung zu CANDIDE

...inzwischen eine schöne Erinnerung - aber eine wirklich ganz wundervolle...

Verehrtes Publikum,

leben Sie in der besten aller Welten? Haben Sie sich über diese seltsame Frage schon einmal Gedanken gemacht?
Der heutige Abend IST die beste aller möglichen Welten. Sie hören wundervolle Musik, genießen herrlichen [Un]-Sinn, beschäftigen sich mit weltberühmter Philosophie, bekommen das Ganze golden verpackt mit dem funkelnden Papier des großen Loriot. Im günstigsten Falle gehen Sie aufgeklärt UND amüsiert nach Hause! Dazu so viele junge Leute auf der Bühne – was könnte die Welt noch besser machen in dem Augenblick? Sie sind wahrlich zu beglückwünschen.

So wie ich im Jahre 1996, als mich meine Biografie nach München führte. Unser heutiger 'Erzähler', Prof. Klaus Schultz, damals Staatsintendant am Gärtnerplatztheater, Münchens zweitem Opernhaus, engagierte mich als Dirigent. Eine der ersten Begegnungen: Loriot. Sieben Wochen intensivste Zusammenarbeit an Flotows MARTHA (jawohl, jene, die entschwand und mit ihr das fäschlich besungene Portemonnaie…). Besser ging nicht. Akribie, Humor auf den Punkt (in den Proben fast ohne zu lachen!), Disziplin (etwas preußisch durchaus) und absolute Menschlichkeit – eine herrliche, unvergessliche Zeit.

Später steuerte das Schiff in ganz andere Regionen – mit den Zeitgenossen Reimann, Henze, Tarnopolski, Terterian, Schnebel und Nono setzte Klaus Schultz neben Mozart, Verdi und Strauss ganz andere Akzente und prägte seine Intendanz mit modernen Werken und großen Erfolgen bei Publikum und Presse. Ich hatte die Freude und Ehre, all diese Werke dirigieren zu dürfen. Das war die beste aller mir damals möglichen Welten. Mittendrin Bernstein und Loriot mit CANDIDE – ausgerechnet das ging jedoch an mir vorüber und ich erlebte es nur als Beobachter. Der viel zu früh verstorbene Bernstein-Schüler und Mitarbeiter David Stahl hatte selbstredend das Privileg der ersten und vieler weiterer Nächte, die dem Stück rasenden Zuspruch brachten.

Zeit, in der besten aller nun erreichten Dresdner Welten diese Lücke zu schließen und etwas Dank abzustatten, in den ganz besonders auch die Musikerinnen und Musiker der Staatsoperette mit ihrem Intendanten Wolfgang Schaller sowie alle Mitarbeiter der HfM Dresden eingeschlossen seien! Doch nun voran in die heilsame Geschichte, denn nur das Bestellen des Gartens bewahrt uns vor zu viel Optimismus in dieser grässlichen, aber besten aller Welten…

"Live is happiness indeed" – diesen Abend zumindest und ganz gewiss –

wünscht Ihnen
Ihr
Ekkehard Klemm

Zum Gedenken an Peter Zacher

Peter-Zacher

Am 14. Februar fand die Trauerfeier für Peter Zacher statt - jahrzehntelang Musikkritiker in Dresden. Ich hatte die Ehre, einige Worte des Gedenkens zu sprechen:


Verehrte Angehörige,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ist "Musikkritiker" ein Beruf? Und wenn ja – was ist Musikkritiker für ein Beruf? Oder handelt es sich eher um eine Berufung?

Es scheint, die Musikkritik entwickelt sich parallel zum bürgerlichen Konzertwesen. Sind es am Anfang die Komponisten selbst, die im Sinne des Wortes "Musik kritisieren" – Weber, E.T.A. Hoffmann, Schumann, Berlioz, Tschaikowsky, Debussy – wechselt im 19. Jahrhundert das Berufsbild in die Hand derer, die nicht selbst tonschöpferisch tätig sind: Hanslick, Nietzsche, Shaw, im 20. Jahrhundert Adorno, Romain Rolland, Alfred Einstein… Das geteilte und später vereinigte Deutschland kennt einige herausragende Personen, zumeist Musikwissenschaftler, die mit Leidenschaft, Ausdauer, großer Kenntnis in der Sache und auch Empathie die Tätigkeit der Musikkritik wirklich zum Beruf gemacht haben, weil sie es als Berufene getan haben: Joachim Kaiser in München, Hans Heinrich Stuckenschmidt in Frankfurt; in jüngerer Zeit Götz Thieme in Stuttgart, Reinhard J. Brembeck in München, Stefan Mösch in Berlin oder Eleonore Büning wiederum in Frankfurt gehören gewiss dazu.

In Dresden war diese Instanz in den letzten Jahrzehnten Peter Zacher. Alle kannten seinen Namen, lasen – durchaus ehrfurchtsvoll und aufmerksam – seine Rezensionen. Und doch wissen wir alle recht wenig von ihm persönlich. Das geht bis dahin, dass ich nach der Nachricht von seinem Tod am meisten über die 74 Lebensjahre staunte: Ganz ehrlich – ich hatte ihn jünger geschätzt, gleichwohl er von Krankheit und einem aufreibenden Lebensstil gezeichnet schien. Vor dem Konzert und in der Pause fand man ihn ganz sicher rauchend vor dem Haus – nach dem letzten Ton eilte er aus dem Auditorium und wollte sich nicht durch die Länge oder Heftigkeit des Beifalls beeinflussen lassen. Ausgerechnet aber eine meiner letzten optischen Erinnerungen an ihn widerlegt diese Marotte: Nach dem War Requiem im Oktober in der Kreuzkirche schwätzte er mit einer Kollegin! Unfassbar!

Es zeichnete Zacher aus, dass er bereits lange vor der Wende ein kompetenter und aufrichtiger Rezensent war, der in die Fußstapfen eines Hans Böhm, Gerhard Böhm oder Eberhard Kremtz trat und eigene Schwerpunkte hatte und zu setzen wusste. Als Student war ich einmal Gast bei ihm zu Hause und ich erinnere mich an einen aufgeschlossenen, anregenden Abend. Ganz sicher war Theodorakis eines der Themen. Christian Hauschild, als dessen Assistent ich damals arbeitete, bereitete Axion esti vor. Ich stand der Musik eher reserviert gegenüber – Zacher warb für sie, wie wir alle wissen. Hier wie an vielen anderen Stellen war es vor allem die Aufrichtigkeit eines Künstlers, die ihn faszinierte.

Es gab Stücke, mit denen Peter Zacher seine Probleme hatte und sie deutlich artikulierte, oft, das dürfen wir an dieser Stelle ruhig zugeben, hat uns das ebenso geärgert, wie es letztlich für seine Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit sprach. Das Deutsche Requiem von Brahms, auch die Jahreszeiten von Haydn und Verschiedenes von Richard Strauss, etwa die Alpensinfonie, hatten es nicht leicht. Dagegen war die Neugier auf Ungewohntes und Fremdes sehr groß. Ein vitales Interesse verband ihn generell mit der neuen Musik, wenngleich er hier auch klar Schein und Sein zu trennen wusste. Substanz war ihm eine unabdingbare Voraussetzung, er witterte mit untrüglichem Spürsinn Flachheiten und benannte sie klar.
Reißigers Musik bspw. sei "weder erregend noch originell, es sei denn, man wollte eine überbordende Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit … als persönlichen musikalischen Duktus gelten lassen."
Der Baron v. Swieten bekommt für den Text zu den Jahreszeiten genauso sein Fett weg wie der Komponist: "Schwerer wiegt ihre Biederkeit, weil die auch in Haydns Musik fast durchgängig vorherrscht. Ungeachtet der formalen Vielseitigkeit und des Farbenreichtums der Komposition gibt es nur wenig, das uns heute noch von den Stühlen reißen kann." Das sitzt und lässt den Haydn-Fan ratlos zurück. Und, um noch eins drauf zu setzen: "Nicht alle Werke Wolfgang Amadeus Mozarts sind großartig." heißt die Überschrift einer Kritik, bei der ein Klavierkonzert von Mozart erklang, das Zacher als 'mittelmäßig' einstuft. [PS: Die Überschrift stammte nach Auskunft des zuständigen Redakteurs nicht von Zacher selbst, orientierte sich jedoch am Duktus des Zacherschen Tonfalls.]
Da spricht der 'kluge Außenseiter, der Stoiker, das Unikum', als den ihn seine Kollegen von "Musik In Dresden" in ihrem Nachruf wahrscheinlich recht treffend bezeichnen.

Es gibt einige kontinuierliche Linien in den Auseinandersetzungen von Peter Zacher. Jene mit den Aufführungen des Dresdner Kreuzchores, den er kritisch wie motivierend stets begleitete gehört dazu wohl ebenso wie sein Faible für die Dresdner Philharmonie und generell den Nachwuchs, die Musikhochschule und die Musikensembles der Amateurszene: die Orchester von TU und medicanti, die Chöre der Uni, die Singakademie, zu der er immer wieder kam. Sehr wichtig war ihm die jüdische Musik und er setzte sich mit großem Engagement für Wiederentdeckungen generell wie speziell auf diesem Gebiet ein.

Peter Zacher konnte unbequem urteilen, jedoch waren seine Texte fundiert und nie verletzend. Ein hervorstechender Eindruck für mich ist, dass er um die existenziellen Auseinandersetzungen wusste, denen sich die Aufführenden mit jedem Auftritt stellen. Ein Gespräch über kritische Anmerkungen förderte stets interessante Erkenntnisse und Sichtweisen zutage. Ein Konzert oder eine Aufführung musste ihn vor allem emotional fesseln und ansprechen. Nicht das perfekte Gelingen stand im Vordergrund, sondern die inhaltliche Aussage, die Interpretation und – wenn man das so nennen darf – der Charakter eines Abends.

Ein Charakter war auch Peter Zacher. Er war Musikkritiker aus Berufung und hat diese oft umstrittene Tätigkeit wirklich zum Beruf gemacht, weil er um die Notwendigkeit der Reibungsfläche, der Reflektion und des fundierten Echos wusste als der unabdingbaren Voraussetzung und Notwendigkeit einer Kunst- und Musikstadt. Wir brauchten ihn! Er hat Dresden dadurch viel von seiner Identität gegeben und bewahrt. Mit seinem Tod wird der Stadt eine wichtige Stimme fehlen – wir sind ihm alle zu großem Dank verpflichtet! Dem himmlischen Personal jedoch empfehlen wir das Putzen der oft verschmutzten Brille – die Ohren dürften ja intakt sein!

5
Jan
2014

Stichwort Alumni: Erinnerung an 1982

Konzert-Riesa-1982

Mein Schüler Paul Johannes Kirschner, Kapellmeister und Repetitor am Staatstheater Oldenburg, hat mir das obige Plakat übermittelt - gefunden auf einem Dachboden... Die Erinnerung an dieses Konzert ist überaus lebendig und der Beweis, dass die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden bereits damals lebendige Beziehungen zu den Orchestern der Region unterhielt. Die Zusammenarbeit mit der [mittlerweile] Elbland Philharmonie Sachsenfindet demnächst ihre Fortsetzung. Johannes Fritzsch ist nach seinen GMD-Stationen in Freiburg, Nürnberg, Graz nunmehr Chef in Brisbane (Australien), Claudia Thonke war lange als Professorin an der HfM tätig, Christiane Neuhaus geigt im Konzerthausorchester in Berlin (Tochter des am 03. Januar besprochenen GMD Rudolf Neuhaus), die Wege der anderen sind mir nicht bekannt. [Jochen Süße war damals wahrscheinlich in einer Art Zusatzstudium]

2
Jan
2014

Rudolf Neuhaus zum 100. Geburtstag

Neuhaus

Es gehört zu den prägendsten Erinnerungen im Haus an der Blochmannstraße: Jeden Dienstag und Mittwoch zwängten sich die Musikerinnen und Musiker des Hochschulorchesters für jeweils 3 Stunden in die kleine und schlecht belüftete Aula im Keller des Gebäudes. Der 'Bassbuddha', Heinz Hermann, Solo-Bassist der Staatskapelle und Orchesterdirektor an der Hochschule überwachte akribisch die Anwesenheiten am Eingang stehend. Am Pult ein eher kleinerer Mann mit leicht krächzender Stimme, klaren und kurzen Anweisungen, eindeutiger Zeichensprache, unprätentiös, ehrlich, interpretatorisch geradlinig: Rudolf Neuhaus. Zwei Etagen höher, im legendären Raum 208, wurden zum Spiel auf zwei Flügeln Dirigenten ausgebildet: Neuhaus die Partien 'singend' – inklusive aller denkbaren Unarten der Sänger – und die des Orchesters irgendwie imitierend. Hartnäckig, doch mit Humor werden Kommentare zu den Leistungen am Klavier abgegeben, Klarheit und Deutlichkeit vom Dirigierenden eingefordert, jede Schaumschlägerei mit ironischer Geste bedacht und ins Reich des Unmöglichen befördert. Köstliche Szene bei einer Aufnahmeprüfung Anfang der 80-er Jahre: Ein Kandidat mit Karajan-Attitüde stellt sich vor. Neuhaus: "Kommt der aus Berlin?" – "Ja." "Sieht man."

Das legendäre Zimmer haben etliche Absolventen sehr erfolgreich verlassen: Hartmut Haenchen, Udo Zimmermann, Christian Kluttig, Steffen Leißner, Matthias Liebich, Christoph Bauer, Dieter Kempe, Konrad Bach, Romely Pfundt, Johannes Fritzsch, Hans Peter Kirchberg, Lutz Bürger, Reiner Mühlbach – mit dem viel zu früh verstorbenen Johannes Winkler wäre ein weiterer wichtiger Vertreter zu nennen. Und fast alle der nachfolgenden Absolventen – außer mir selbst u.a. Eckehard Stier, Michael Güttler, Christoph König, Olaf Henzold, Urs Michael Theus, Milko Kersten, Roland Kluttig haben Neuhaus noch erlebt, gekannt, bei ihm hospitiert und ebenso von ihm profitiert. Seine Dirigierausbildung und die durch enorme Repertoirekenntnis geprägte Arbeit mit dem Hochschulsinfonieorchester legte den Grundstein für die folgende und darauf aufbauende von Siegfried Kurz, Peter Gülke, Hartmut Haenchen, Volker Rohde, Alexander von Brück, Jörg Peter Weigle und Christian Kluttig, die die Impulse aufnahmen und weiterführten.

Rudolf Neuhaus wurde in Köln geboren und studierte an der Musikhochschule in Köln bei Hermann Abendroth. 1934-1944 führte ihn ein erstes Engagement ans Landestheater Neustrelitz, dem 1945-1953 das Staatstheater und die Staatskapelle Schwerin folgte, dessen GMD Neuhaus ab 1950 war. Von hier wurde er 1953 an die Staatstheater Dresden und die Musikhochschule berufen, 1959 erfolgte die Ernennung zum Professor. Gastdirigate führten ihn unter anderem an die Dresdner Philharmonie (u.a. Schallplattenaufnahme "Die lustige Witwe"), Staatsoper Berlin, das damalige BSO, Leipziger Gewandhausorchester, Rundfunksinfonieorchester Leipzig und Berlin. In Dresden war er Garant für die Kontinuität an der Dresdner Oper. Als er kam, ging gerade die Ära Kempe zu Ende. Er wirkte neben und mit Franz Konwitschny, Lovro von Matacic, Otmar Suitner, Kurt Sanderling, Martin Turnovsky, Herbert Blomstedt, zuletzt Hans Vonk. In der ihm angeborenen Bescheidenheit trat er 1975 als amtierender stellvertretender GMD hinter Siegfried Kurz zurück, sorgte aber weiter für Stabilität. Neuhaus dirigierte in 32 Jahren ca. 2000 Abende in Dresden, darunter viel großes Repertoire von Mozart, Weber, Wagner, Verdi, Puccini und Strauss, jedoch auch Prokofjew, Wagner-Regeny, Cikker, Fidelio F. Finke, Britten, Gerster, Kunad… - insgesamt beeindruckende 70 Opern. Am 20. Oktober 1985 verabschiedete er sich mit einem Lohengrin in der Semperoper, am 07. März 1990 verstarb er in Dresden.

Von Johannes Winkler ist der wundervolle Satz überliefert: "Es gab nicht die kleinste Distanz zwischen Lehrer und Schüler. All sein Wissen und Können breitete er vorbehaltlos aus und ließ es zu unserem Besitz werden." Ein Satz, so aufrichtig und klar wie Rudolf Neuhaus' Dirigat von Walküre, Tristan, Lohengrin oder der Liebe zu den drei Orangen. Sein Geburtstag am 03. Januar jährt sich zum 100. Mal. Die HfM Dresden widmet ihr Konzert des Hochschulsinfonieorchesters am 10. Januar und eine Alumni-Musizierstunde am 18. Januar dem Gedenken an Rudolf Neuhaus.

23
Dez
2013

Komponisten ABC der Singakademie Dresden 2004 - 2013

Singakademie-Coventry-II

Aus Anlass meines 10-jährigen Jubiläums bei der Singakademie Dresden habe ich mit tiefem Dank allen Sängerinnen und Sängern gegenüber ein kleines Komponisten-Lexikon aller aufgeführter Werke unter meiner Leitung und Mitwirkung zusammengestellt. Respekt, meine Lieben, was da so zusammenkommt...

Wer es übersichtlicher haben will, sollte jeden Montag und Donnerstag (Kammerchor) in die Probe kommen! Wir werden die Liste in den nächsten Jahren würdig fortsetzen (und auch mal was wiederholen!)!


Armenische Sharakans 2005 (Adventsstern)
Bach, Johann Sebastian Jesu, meine Freude 2010 Johannes-Passion 2005 Magnificat 2006 (Adventsstern) Matthäus-Passion 2008 Messe in A-Dur 2008 Messe in h-Moll Kyrie+Gloria 2011 Credo 2012 Sanctus - Agnus Dei 2013 Weihnachtsoratorium Kantate 2+5 2004 Kantate 1+3 2005 Kantate 4+6 2010
Beethoven, Ludwig van Christus am Ölberge 2010 Missa solemnis 2007 Ouvertüre Leonore II 2010 Sinfonie Nr. 9 (jährlich mehrmals) Blacher, Boris Der Großinquisitor 2008 Romeo und Julia 2010
Brahms, Johannes Alt-Rhapsodie 2008 Ein deutsches Requiem [2003], 2004, 2005, 2006, 2007, 2009, 2011, 2013 (München) Fest- und Gedenksprüche (mehrfach)2011, 2012, 2013 (England) Nänie 2008
Britten, Benjamin A ceremony of carols 2012 Cantata St. Niclas 2004, 2013 Five flower songs 2013 (u.a. England) War Requiem 2013 Carissimi, Giacomo Jephte 2007 (Fassung von Henze)
Charpentier, Marc-Antoine Messe de minuit 2007
Denissow, Edison Stilles Licht 2005 (EA Dresden und Chemnitz)
Depresz, Josquin Ave Maria 2008
Dvořák, Antonîn Svatební Košile (Die Geisterbraut) 2004 Missa in D (mehrfach) u.a. 2004, 2008 Stabat mater 2013 (mit HfM)
Eccard, Johann Motetten (mehrfach) u.a. 2004, 2011 sowie regelmäßig beim Weihnachtsliedersingen
Fauré, Gabriel Requiem 2008
Franck, Melchior Evangelienmotetten 2005
Füting, Reiko Der Töne Licht (mehrfach) u.a. 2012, 2013 (England) höhen stufen 2011 (UA Adventsstern)
Gounod, Charles Cäcilienmesse 2008
Händel, Georg Friedrich Solomon 2013
Hammerschmidt, Andreas Weihnachtsmotetten 2011
Hassler, Hans Leo Lustgarten neuer teutscher Gesänge 2010
Haydn, Josef Die Jahreszeiten 2011 (mit HfM) Die Schöpfung 2009 Die sieben Worte am Kreuz 2004 Harmoniemesse 2009
Henke, Franziska Gitarrenkonzert 2012 (UA)
Hensel, Fanny Hiob 2007
Herchet, Jörg Kantate zum Sonntag nach Weihnachten 2008 (dt. EA, Adventsstern)
Homilius, Gottfried August Jauchzet dem Herrn, alle Welt 2006 Unser Vater in dem Himmel 2006 Wir wissen, dass wir aus dem Tode… 2006
Honegger, Arthur Le Roi David 2012
Janáček, Leoš Glagolitische Messe 2005 Otče náš 2004
Keuk, Alexander Ein Tropfen, ein Schluck in der Höhe 2013 (UA, Adventsstern)
Klemm, Ekkehard 3 in 1 2006 (UA) Psalmen 2009
Kodaly, Zsoltan Jesus und die Krämer 2012
Krätzschmar, Wilfried fragmentum 2012 (UA, Adventsstern)
Krakova, Mikołaj za Salve Regina 2012
Krása, Hans Brundibar (mehrfach), u.a. 2007, 2008 (USA)
Leopolita, Marcin Mihi autem 2012
Liszt, Franz Missa choralis 2011
Lully, Jean Baptiste Te deum 2007
Marschner, Heinrich Das Testament 2010
Martin, Frank Golgotha, 2012 Martinů, Bohuslav Concertino für Klavier und Orchester 2009 Die Geburt des Herrn 2009 Gilgamesch-Epos 2009 Jungfrau Mariens Bild 2008
Mauersberger Eine gesitliche Sommermusik (Ausschnitte) 2005 Lukas-Passion 2006, 2007, 2009 (München, Stuttgart, Salzburg), 2011 (Aachen, Bad Hersfeld, Mildenau), CD- Produktion 2009 Wie liegt die Stadt so wüst (mehrfach) u.a. 2005, 2011 (Aachen)
Mendelssohn Bartholdy, Felix Christus (Fragmente) 2009 (Adventsstern) Elias 2007 Konzert f. Violine, Klavier und Orchester 2009 Paulus 2010 Trinklied 2010 Walpurgisnacht (mehrfach) u.a. 2009, 2010, 2012 Wie der Hirsch schreit 2009
Mozart, Wolfgang Amadeus Davide penitente 2012 Kanons 2006 Krönungsmesse KV 317 2011 (mit HfM) Missa longa KV 262 2012 Requiem 2006, 2011 (u.a. Salzburg), 2012
Obrecht, Jacob Matthäus-Passion 2009
Orff, Carl Carmina burana (jährlich mehrmals)
Otto, Julius Es liegt ein langer Magister 2010
Pärt, Arvo Arbos 2004 (Adventsstern) Johannes-Passion 2005 Magnificat 2008
Palestrina, Pierluigi Ave, mundi spes, Maria 2008
Paligon, Marcin Rorate caeli 2012
Penderecki, Krzysztof Agnus Dei 2005
Pepping, Ernst Jesus und Nikodemus 2012
Purcell, Henry Dido and Aeneas (mehrfach) u.a. 2007, 2008 Lord, how long wilt you be angry 2013 (England) Magnificat 2008
Raphael, Günter Das Wort ward Fleisch 2010, 2012 Glaubensbekenntnis 2010
Reinicke, Carl Das Hildebrandlied 2010
Rosenmüller, Johann Dilexi 2012
Salieri, Antonio Requiem 2011 (Dresden und Salzburg)
Schnittke, Alfred Nr.8 aus Busspsalmen 2005
Schönberg, Arnold Ein Überlebender aus Warschau 2009 Moses und Aron 1. Szene 2009
Schubert, Franz Deutsche Messe 2010 Stabat mater D 383 2007 Stabat mater D 175 2007
Schütz, Heinrich Deutsches Magnificat 4-stg. 2008, 2009 Deutsches Magnificat 8-stg. 2008, 2009 Also hat Gott die Welt geliebt 2005 Herr, unser Herrscher (mehrfach) u.a. 2005 Herzlich lieb 2012, 2013 (England) Ich bin der rechte Weinstock 2005 Sammelt zuvor das Unkraut 2005 Matthäus-Passion 2009
Schumann, Robert Doppelchörige Gesänge op. 141 (mehrfach, u.a. Dresden 2010, 2011, 2012 und England 2013) Genoveva 2010 (konzertant) Faust-Szenen 2005 (komplett) Faust-Szenen Teil III 2008, 2010 Jagdlieder f. 4-st. Männerchor und Hörner 2010 Nachtlied 2006 Requiem 2006 Romanzen und Balladen op. 67 2010 Romanzen f. Frauenstimmen op. 92 2010
Schultz, Wolfgang Andreas Archaische Landschaft… 2007 (UA)
Spohr, Luis Die letzten Dinge 2009
Stravinski, Igor Psalmensinfonie 2008
Szymanowski, Karol Stabat mater 2005
Tal, Josef Shape 2010
Terterian, Avet Sinfonie Nr. 6 2005 (EA Dresden, Adventsstern)
Thallis, Thomas Spem in alium 2011 (Musikfestspiele)
Umlauft, Paul Der Sommer 2006 Heraus 2006 Lied des Einsiedels 2006 Mailied 2006
Verdi, Giuseppe Ave Maria 2008 Opernchöre 2005, 2013 Pater noster 2013 (mit HfM) Requiem 2004, 2008
Voigtländer, Lothar MenschenZeit 2007 (UA, Adventsstern)
Wagner, Richard Opernchöre 2013
Weber, Carl Maria von Messe G-Dur 2006 Messe Es-Dur 2006
Weiss, Manfred Confessio saxonica 2006 (UA, Adventsstern)
Zielénski, Mikołaj Beata es, virgo Maria 2005 Laetentur omnes 2005, 2012
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