18
Sep
2011

Akademie für Experimentelles Musiktheater

Werkstatt-Hellerau-2011

Vergangene Woche fand in Hellerau die III. Akademie für experimentelles Musiktheater statt, die aus einer einjährigen Arbeit einer Gruppe von jungen Leuten bestand, die sich mehrmals für längere Zeit trafen und ein gemeinsames Projekt entwickelt haben. Dieses wurde am Wochenende vorgestellt, die Tage danach waren Diskussion, 'Aufarbeitung', Neustart für ein neues Projekt und theoretische Reflexion. Mit folgendem Grußwort war ich beteiligt:

Willkommen zur III. Hellerauer Akademie des Experimentellen Musiktheaters!

An diesem Satz ist – außer dem Willkommensgruß und der Zahl 3 einiges unklar, er bietet wenig Sicherheiten. Die Ortsbestimmung HELLERAU mag korrekt sein, wenngleich eine „Akademie“ ja eigentlich beim Hain des griechischen Helden Akademos stattfinden sollte und hergeleitet wird vom Ort der Philosophenschule des Platon… Gut, das lassen wir durchgehen. Etwas irritierender wird die Sache, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass eine „Akademie“ heutzutage nicht unbedingt als Ausbildungsstätte mit einer bestimmten Zielrichtung arbeitet, sondern vor allem um ihrer selbst willen. Sollte das in unserem Falle tatsächlich so sein?

Auch das Wort Experiment bietet Fallstricke – es wird von ‚experimentum‘ hergeleitet und bedeutet gemeinhin „Versuch, Beweis, Prüfung, Probe“, es bedarf in der Wissenschaft dazu einer Versuchsanordnung, erst dann können daraus Kausalzusammenhänge im Sinne von Ursache – Wirkung gezogen und Hypothesen oder Modelle bestätigt oder zur Theorie verfestigt werden. Interessant ist der Hinweis, den ich in einem Lexikon las, Experimente seien unter ethischen Gesichtspunkten oft nicht zulässig und im Übrigen oft aus Kostengründen nicht durchführbar.
Immerhin – das aktuelle Hellerauer Experiment scheint in dieser Frage keine Probleme gehabt zu haben, wozu den Organisatoren nur zu gratulieren ist!

Was aber, so ist zu fragen, ist Musiktheater? Und was „Experimentelles Musiktheater“? Die Untiefen lauern überall.

Im hochgelobten Roman des Schauspielers Josef Bierbichler, so steht es im SPIEGEL der letzten Woche, sagt ein drangsalierter 17-jähriger, dessen „grüblerische Gedanken“ ihm die Seele aufgerissen und im Kopf sich quergestellt hätten den Satz: „Ich bin errettend vereinnahmt vom Theaterspiel, das mich sanft macht, wenn ich oft auf unerklärliche Art erregt und aufgebracht und aggressiv bin. Das Spiel mit der Sprache und mit den Figuren schützt mich davor zu morden.“

Ist Musiktheater für uns noch derart existenziell? Oder experimentieren wir, damit es wieder existenziell wird?

In den Jahren 1974/75 schreibt Dieter Schnebel einen Aufsatz unter dem Titel: „Gestoppte Gärung“. Darin stellt er ernüchtert fest: „Ein Essai über die Formen der heutigen Musik ließe sich kaum mehr mit dem Hinweis auf die gärende Materie schließen – da gärt nicht mehr viel. Nicht als ob die musikalische Materie nun durchgegoren wäre. Eher verhält es sich so ähnlich wie heute vielerorts mit den Weinen: die Gärung wurde gestoppt, und das Ereignis ist jene süße Brühe, deren Fusel einem den Kopf vernebeln.“ Geradezu prophetisch muten die Begründungen an, die Schnebel für die Kraftlosigkeit der Neuen Musik ausfindig macht. Er diagnostiziert Barrieren einer Gesellschaft, „deren Ökonomie immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät, und die sich darum zunehmend verhärtet. Wo aber der Druck der Verhältnisse zunimmt, wächst einerseits das Bedürfnis nach Harmonie und nach der Ruhe der Innerlichkeit, andererseits nach einem Sich-Einrichten im Gefahrlosen; im unbezweifelbar Anerkannten.“

Wenig später – in geschichtlichen Dimensionen gerechnet – nämlich 1987 unterhalten sich Ruth Berghaus und Heiner Müller über das Theater, speziell das Musiktheater, die Dramaturgin Sigrid Neef vermittelt und moderiert. Müller: „Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken. … Eine Idealform für mich wäre: Ohne Hoffnung und Verzweiflung leben.“ Über die Berghaus wird gesagt, sie ahnde jegliche Sentimentalität, weil diese Hoffnung und Verzweiflung verhindert.
Das erinnert an die Unbedingtheit des Knaben aus Bierbichlers Roman.

Vor 100 Jahren begann hier in Hellerau mit Jaques-Dalcroze ein Aufbruch zu neuen, damals sicher wirklich experimentellen Formen der Durchdringung von Raum und Zeit, Musik und Bewegung, Körperbewegung und musikalischen Rhythmus. 1987 formuliert Heiner Müller: „Theater findet ja überhaupt nur statt im Schnittpunkt zwischen Zeit und Raum. … Theater ist etwas zwischen Angst und Geometrie.“

Und dann findet sich der Satz, von dem man sich wundert, dass die Zensoren ihn haben durchgehen lassen (das Buch erschien noch vor der Wende 1989): „Der Staat reduziert aus Existenzgründen automatisch jede Utopie. Der Staat ist keine moralische und keine vernünftige, er ist eine beschränkende Kategorie und insofern eine beschränkende im Sinne einer niederen Vernunft.“

Erstaunliche Erkenntnisse! Höchst subversiv und utopisch in dem, was sie eigentlich als Konsequenzen meinten und einschlossen.
Das Gespräch wandert dann zu einem in der Tat für seine Zeit recht avanciertem Musiktheaterwerk, zu Schönbergs Moses und Aron mit dem Thema der, wie es die Berghaus formuliert: „Abwesenheit von Erfahrbarem“. Da entfahren Müller die folgenden wunderbaren Sätze: „Moses, Marx, Freud, Einstein – das sind vier Pioniere der Abwesenheit. Moses – die Abwesenheit Gottes durch das Bilderverbot, Marx – die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Endzustandes durch die Utopie des Kommunismus, Freud – die Abwesenheit des Wesentlichen, des Unbewussten, des Verdrängten und Einstein – die Relativitätstheorie, die Abwesenheit der eigentlichen Raum-Zeit-Relation. Das sind vier Formulierungen des Bilderverbots.“ Das Unvollendete der Oper hänge genau damit zusammen, meint Müller, sie hätte ansonsten einen Rahmen bekommen, wäre selbst Bild geworden und hätte das Prozesshafte ‚beerdigt‘.
„Kunst“, schreibt er, „hat nie mit dem zu tun, was man hat, sondern zweifelt an, was man hat, und will etwas anderes.“ In diesem utopischen Moment liege das Risiko.

In den Auseinandersetzungen dieser Zeit, der 70-er und 80-er Jahre, ist viel von den Gegensatzpaaren Autorität und Freiheit, Herrschaft und Emanzipation die Rede. Die Dodekaphonie wird als ‚Demokratiemodell‘ der Töne gedeutet, die sich der Hierarchie der Tonalität widersetzen bzw. entziehen und herrschaftsfrei als Material genutzt werden können. Norbert Nagler überschreibt ein wichtiges Kapitel seines Essays „Musikphilosophie der Freiheit“ (ein Text über die Musikphilosophie der Freiheit bei Dieter Schnebel) mit den Worten: „Die musikalische Utopie als Fluchtpunkt des Nichtidentischen“.
Das Nichtidentische, nicht Nachkonstruierte, bei Lachenmann die bewusste Auseinandersetzung mit dem ‚ästhetischen Apparat‘ sind entscheidende Kriterien, nach denen die damalige Avantgarde Musik, Musiktheater und Kunst beurteilt. Wobei der Widersprüche viele und die Grenzen fließend sind. Die Berghaus inszeniert Henze, Lachenmann ist mit Nono befreundet, während die Theoretiker um Metzger und Riehn, Nagler und andere Henze und Nono mit dem Verdikt „sozialistische neue Musik“ belegen, die auf „anachronistische Kompositionsmodelle“ zurückgreife. Nonos Freund Abbado arbeitet mit der Berghaus in Wien zusammen, Gielen holt sie nach Frankfurt – wie gesagt, die Grenzen sind fließend und die Theoretiker glauben sogar bei Schnebel Spuren von Melancholie, Trauer und Resignation zu erkennen, während dieser selbst seinen „Majakowski“ schreibt und diesen, Chlebnikow und Lenin auf der Bühne rezitieren lässt. Das Münchner Publikum von 2005 fand daran nichts Anstößiges und ließ sich auf die Reise ins Innere der Gefühle des Poeten mitnehmen.

Meine Damen und Herren – ich möchte hier keinesfalls eine Installation von Texten aus der Hochzeit des experimentellen Musiktheaters, vielleicht eher: des experimentierenden Musiktheaters vortragen. Erinnern möchte ich lediglich an die Leidenschaftlichkeit, die dahinter stand und steht. Und der wir uns auch mit „100 Dinge(n); Gesichtsfreiheit; Deine Utopie; Euridike; Euphorie, Utopie und ein Trampolin; Garage Nr. 8; Möbius; Peepshow; Utopien Pflanzen; Zeit recyceln; Utopisch essen; Was machen wir, wenn wir da sind?; Giardino utopico und Wegen nach Hellerau“ [so die Titel des Projekts der Akademie von 2011 - d.A.] stellen müssen.

Die Wege in den philosophischen Garten des Hellerauer Helden Dieter Jaenicke, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, allen voran Marion Demuth, Johannes S. Sistermanns und von der Musikhochschule Jörn Peter Hiekel, Versuchsanordnungen vorgeschlagen, konzipiert und ethisch unbedenklich sowie kostengünstig [hier wurde ich von Dieter Jaenicke inzwischen darauf aufmerksam gemacht: kostenGÜNSTIG sei das alles durchaus nicht... d.A.] durchführbar gemacht haben – Ihnen allen sei gedankt für das Engagement der zurückliegenden Zeit, das zum Ergebnis der III. Akademie geführt hat. Es wurden Formen erprobt und gefunden, künstlerische Substanz entdeckt und Sinnlichkeit gefunden – ganz sicher.

Vielleicht haben Sie alle beim Experimentieren Schnebels 3 Kategorien der psychischen Verhaltensmuster verwendet: „Kategorie A meint all das, was so ganz unwillkürlich aus einem herausdrängt, eigentlich das, was Freud das Es nennt. … Kategorie B meint das Über-ich-hafte, all das, was an Normen in uns steckt, und in einen Prozess einfließen soll. Die Kategorie C schließlich meint ganz ich-haft verantwortliches Gestalten. Mit diesen drei Kategorien habe ich eine sehr merkwürdige Erfahrung gemacht: was den Interpreten am meisten Spaß macht, ist das zwanghafte Über-ich-hafte. Während wenn Du sagst: aufs Unwillkürliche achten, die Sau rauslassen, dann kriegen sie große Angst. Am schlimmsten ist es dann, wenn es ins eigenverantwortliche Ich-hafte übergeht.“

Wir müssen ja vielleicht nicht gleich den Gegensatz konstruieren: entweder Theater spielen oder morden… Aber an den Beginn des Satzes sei erinnert: „Ich bin errettend vereinnahmt vom Theaterspiel, das mich sanft macht, wenn ich oft auf unerklärliche Art erregt und aufgebracht und aggressiv bin.“

Lassen wir uns errettend vereinnahmen von den Experimenten der Akademie im Hain von Hellerau!

Die Zitate sind entnommen:
- Musik-Konzepte 16, Mainz, 1980 (darin die Aufsätze "Gestoppte Gärung" von D. Schnebel, "Musikphilosophie der Freiheit von Norbert Nagler
- Sigrid Neef, "Das Theater der Ruth Berghaus", Berlin 1989 (darin: Gespräch zwischen Ruth Berghaus und Heiner Müller, moderiert von S. Neef)

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