1
Okt
2008

Friedrich Goldmann - Wege Gewirr Ausblick; Uraufführung aus Anlass der Eröffnung des neuen Konzertsaals der Dresdner Hochschule für Musik Carl Maria von Weber

Goldmann

Wege Gewirr Ausblick Friedrich Goldmann
Auftragswerk der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden zur Eröffnung des Konzertsaales 2008

Was ist "sozialistischer Realismus", wurde Friedrich Goldmann 2003 in einem Interview des SWR gefragt: "Schlechter Geschmack", war die ebenso knappe wie bündige Antwort – vorgetragen mit einem wunderbar trockenen Humor, der dem Komponisten eigen ist und im Übrigen korrespondiert mit dem nicht zu verleugnenden Sächsisch seiner Heimat Chemnitz. Dort – genauer: in Siegmar-Schönau, heute ein Ortsteil im Westen der Stadt – wurde Goldmann 1941 geboren, kam mit 10 Jahren nach Dresden und wurde Mitglied des Dresdner Kreuzchores. Schon 1959 begegnete er bei den Darmstädter Ferienkursen Karlheinz Stockhausen – folgerichtig kam es bereits innerhalb des Studiums in Dresden (bei Johannes Paul Thilman) zu Auseinandersetzungen.

Goldmann war unbequem. Er ging nach Berlin, auf Empfehlung Paul Dessaus in die Meisterklasse zu Rudolf Wagner-Régeny. Von dort gab es erste Kontakte zum Berliner Ensemble, zu Heiner Müller, Helene Weigel, Adolf Dresen, Thomas Brasch, Ruth Berghaus, Karl Mickel, Luigi Nono, Dieter Schnebel u.v.a.. Goldmann schlug sich "frei schaffend" durch. Im Gespräch heißt es dazu, die Miete für das Zimmer hätte 22,50 Mark betragen, Brötchen waren billig, für den Kaffee reichten einige Abende Skat mit befreundeten Musikern, und sonst wären nur Zigaretten nötig gewesen. Später hätte er Geld vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, durch Dirigieren verdient – Notenpapier gab es beim Verband der Komponisten umsonst…

Goldmann gehörte zu denen, die in der DDR für Öffnung und Avantgarde im Komponieren standen – immerhin wurde er trotz aller Schwierigkeiten mit verschiedenen Preisen geehrt. Für mich selbst waren die musikalischen Begegnungen mit seinen Werken der 70-er und 80-er Jahre waren elementar. Oboenkonzert und Violinkonzert sog ich aus dem Äther von Radio DDR 2, eine Aufführung des Klavierkonzertes erlebte ich live in Berlin, jene von "Inclinatio temporum" (für die Dresdner Staatskapelle) in Dresden – es waren richtungsweisende Musikerlebnisse. Goldmann – darin möglicherweise sogar 'dresdentypisch' handwerklich geprägt – schrieb eine vor allem formal und klanglich überzeugende Musik: intensiv, mit großem Bogen und Atem, virtuos, ausgehört bis in die letzten Verästelungen, hoch sensibel, doch stets auch emotional aufrüttelnd, teils sogar aggressiv.

Inzwischen ist Friedrich Goldmann im vereinten Deutschland einer der führenden Köpfe der avancierten Musikszene. 1990 wurde er - noch vor der offiziellen Vereinigung der Akademien - zum Mitglied der Westberliner Akademie der Künste und zum Präsidenten der Deutschen Sektion der IGNM gewählt. Nach der Wiedervereinigung war Goldmann bis 1997 Präsident der Gesellschaft für Neue Musik für die Sektion Bundesrepublik Deutschland. 1991 übernahm er eine Professur für Komposition an der Hochschule der Künste, Berlin (heute Universität der Künste). Er leitete dort das "Boris-Blacher-Ensemble". Viele Schüler wie etwa Johannes Wallmann, Nico Richter de Vroe, Jakob Ullmann, Enno Poppe, Sergej Newski, Steffen Schleiermacher und Ellen Hünigen haben von seinem Unterricht profitiert, als Dirigent mit inzwischen internationaler Reputation hat er sich verstärkt für sie eingesetzt. Umgekehrt wurden Goldmanns Werke von den bedeutendsten Orchestern und Dirigenten musiziert, von denen die Sächsische Staatskapelle, die Berliner Philharmoniker, das Gewandhausorchester Leipzig und die Namen Blomstedt, Barenboim oder Eötvös nur eine kleine Auswahl darstellen.

Das neue Werk – Wege Gewirr Ausblick – ist ein ca. 15-minütiges Orchesterstück, das in seinem Titel bewusst auf die Gedankenstriche verzichtet. Keinesfalls soll der Eindruck erweckt werden, es gehe über Wege ins Gewirr und am Ende gäbe es einen neuen Ausblick – kein vordergründiges per aspera ad astra also, wenngleich auch eine solche Deutung als Variante nicht ausgeschlossen bleibt. Persönliche Eindrücke, Empfindungen, sogar bestimmte Ortserlebnisse stehen hinter dem assoziativ gemeinten Titel, der suggeriert, dass Wege, Gewirr und Ausblick sehr oft durchdrungen und verschlungen sind. Ein neuer Ausblick kann auch wirr sein, ein Gewirr sich zum Weg lichten, ein Weg den Ausblick versperren…
So beginnt die neue Partitur mit scharfen pizzicati der Streicher, die vom Schlagwerk und tiefen Klarinetten verstärkt werden. Eine staccato-Figur der Holzbläser setzt die Szene fort und erscheint im Verlauf des Stückes in verschiedenen Tempi. (Goldmanns Denken in Szenen hat sich bis in die Stücktitel fortgesetzt: seine "Klangszenen 1-3 wurden vom SWF-Orchester, den Berliner Philharmonikern und dem Konzerthausorchester aufgeführt.) Auf- und Abschwünge des Tuttis forcieren oder bremsen die Entwicklung. Dazwischen erklingen virtuose und sehr kammermusikalisch besetzte "Trios" (in formalem Sinne) im 3/8-Takt. Zunächst Klarinetten plus Schlagwerk und Harfe, später gedämpfte Trompeten plus Schlagwerk und Harfe oder (beim dritten Mal) recht apart mit Violen, Celli, Harfe, Klavier, Schlagwerk und Solo-Piccolo besetzt. Diese beinahe barocken Elemente im Stile eines concerto grosso sind zwischen die sich vielschichtig und vielfarbig entwickelnden Flächen und Linien 'geschnitten' – Weggabelungen, Sackgassen, vielleicht auch neue Hinweisschilder… Ein tiefes fis der Pauke und tiefer Bläser schiebt sich drohend in den Vordergrund und führt zum Kulminationspunkt, nachdem sich eine neue Szene öffnet: ein Synthesizer und zwei im Saal spielende Violinen erschließen eine klanglich und räumlich neue Dimension. Dissonante wie diatonische Klangblöcke durchdringen sich, werden erneut mit Elementen des ersten Teiles kontrapunktiert und enden schließlich im pianissimo eines tickenden Holzblocks…

Es ist dem Hochschulsinfonieorchester und ganz besonders mir selbst eine Ehre, das neue Werk zur Uraufführung zu bringen. Die in einer CD-Rezension von Hartmut Lück in der Neuen Zürcher Zeitung diagnostizierte "konstruktive Architektonik" Goldmanns zeigt hier durchaus impressionistische Züge und verrät damit auch ein Vorbild der Dresdner Studienjahre des Komponisten: Debussy.
Möge das neue Werk den neuen Raum der Hochschule und den symbolischen der Musikwelt erobern und zum Klingen bringen. Danke – Friedrich Goldmann!

Ekkehard Klemm

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