Meine sehr verehrten Damen und Herren,
das Programm des Adventssterns 2015 der Singakademie Dresden stellt innerhalb der 2004 begründeten Reihe erstmals nur A-cappella-Werke in den Mittelpunkt und fügt damit im 11. Jahr eine neue Facette hinzu. Bisher standen den Werken Bachs oder Komponisten wie Lully, Charpentier, Eccard, Hammerschmidt, Franck, Haydn und Mendelssohn moderne Werke mit Orchester gegenüber, sehr oft Uraufführungen von Stücken, die die Singakademie in Auftrag gegeben hatte. Mit Werken von Pärt, Terterian, Herchet, Weiss, Voigtländer, Füting, Krätzschmar und Keuk, aber auch von Stravinski, Martinů und Britten war eine breite Palette von Stilen und verschiedenen Profilen zu hören im Kontext zu den älteren Kompositionen.
"Magnificat" – leuchtender Kern des Adventssterns 2015
Diesmal ist das Programm vor allem thematisch geprägt und kreist um den Kern des Magnificat, jenes in der Bibel verankerten Lobgesangs der Maria, die zu ihrer ebenfalls schwangeren Cousine Elisabeth eilt und ihr – dem Bericht aus Lukas 1, 46 – 55 folgend – einen an die alttestamentarischen Psalmen und speziell an den Lobgesang der Hannah aus 1. Samuel 2 anknüpfenden Hymnus vorbringt. "Das Magnificat ist nur im Evangelium nach Lukas enthalten, der sich von den Evangelisten am meisten für die Ausgegrenzten interessiert, und propagiert gleich am Anfang des Evangeliums die Wichtigkeit dieses theologischen Anliegens." Von den vielen theologischen Einordnungen ist wohl jene von Dietrich Bonhoeffer besonders erhellend: "Dieses Lied der Maria ist das leidenschaftlichste, wildeste, ja man möchte fast sagen revolutionärste Adventslied, das je gesungen wurde. Es ist nicht die sanfte, zärtliche, verträumte Maria, wie wir sie auf Bildern sehen, sondern es ist die leidenschaftliche, hingerissene, stolze, begeisterte Maria, die hier spricht ... ein hartes, starkes, unerbittliches Lied von stürzenden Thronen und gedemütigten Herren dieser Welt, von Gottes Gewalt und von der Menschen Ohnmacht." Auch die feministische Theologie feiert den Text als das Dokument einer starken Frau und des Sieges der Armen und Schwachen über die Reichen und Mächtigen. Dorothee Sölle schreibt: " Die leeren Gesichter der Frauen werden mit Leben erfüllt und wir werden Menschen werden. […] Die Herrschaft der Männlichen über die Weibchen wird ein Ende nehmen und aus Objekten werden Subjekte werden."
Naturgemäß schlägt sich dieser letzte Gedanke noch nicht in den verschiedenen Kompositionen nieder, erstaunlicherweise aber lassen fast alle Vertonungen in ihrer kraftvollen, freudigen und zuversichtlichen Art eine solche Deutung zumindest erahnen. In diesem Zusammenhang fällt die sehr schmerzliche und fragile Deutung des Esten Arvo Pärt besonders auf – doch dazu weiter unten etwas mehr.
Eng verbunden mit dem Magnificat sind weitere hymnische Gesänge der Bibel. Der Lobgesang der Maria wäre undenkbar ohne die Ankündigung der Empfängnis und Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel. Der dazu gehörende Text aus Lukas 1, 28 ist zu einem Grundgebet der katholischen Kirche geworden und gehört neben dem Vater unser zu den wichtigsten Anrufungen und auch zu den Gebeten des Rosenkranzes. Pius V. hat dem Gebet einen zweiten Teil hinzugefügt mit der Bitte um Beistand in der Todesstunde – dieser Teil fehlt in Josquins Vertonung noch, die statt dessen andere Weiterungen aufweist.
In Korrespondenz mit dem Lobgesang der Maria müssen auch die Lobgesänge des Zacharias und des Simeon gesetzt werden. Hier baut uns Johann Eccard eine wundervolle Brücke, indem er diese Texte – ganz reformatorisch geprägt – in deutscher Fassung vertont, angereichert mit dem Geist der Zeit Luthers und durch vergleichbare musikalische Formen als geistliche Lieder für die mündige Gemeinde verständlich gemacht.
Das Programm reicht also zeitlich vom ältesten Komponisten Josquin Desprez über Christian Erbach und Johann Eccard zunächst zu Heinrich Schütz, der zwei Fassungen des Magnificat – eine zu vier Stimmen und eine für achtstimmigen Doppelchor, beide jedoch in Deutsch – überliefert hat. Über die englische Version von Henry Purcell geht es in einem Sprung ins 20. Jahrhundert zum estnischen Komponisten Arvo Pärt, der 2015 im September seinen 80. Geburtstag feiern konnte und zum Finnen Einojuhani Rautavaara (*1928). Dieser dürfte in Dresden noch recht unbekannt und eine Entdeckung sein.
Einojuhani Rautavaara – Magnificat
Es war im Jahr 1994, als ich diesem bedeutenden Komponisten zum ersten Mal begegnete. Am Theater Vorpommern erklang die deutsche Erstaufführung der Oper Das Sonnenhaus (Auringon Talo) unter meiner Leitung, der Komponist hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich zu diesem Ereignis nach Greifswald zu reisen. Mehrere Tage lang hörte er sich die Schlussproben und ersten Vorstellungen an, die Gespräche mit ihm und seine Anregungen sind mir unauslöschlich in Erinnerung. Mit – damals bereits – altersweiser Güte, dennoch bestechender Konsequenz wusste er seine konkreten Vorstellungen mitzuteilen. In Konzerten dirigierte ich später noch die 7. und auch die 8. Sinfonie und weilte auf seine Einladung hin 1995 mit meiner Frau in seinem Haus in Helsinki sowie in Savonlinna zu den Opernfestspielen.
Rautavaara gilt als einer der legitimen und würdigsten Nachfolger des großen Finnen Sibelius. Die Generation um das Quartett Joonas Kokkonen, Aulis Sallinen, Paavo Heininen und eben Rautavaara hat prägenden Charakter erlangt und jüngere Komponisten wie Kalevi Aho, Magnus Lindberg und Kaija Saariaho (deren Oper L'amour de loin ich 2008 in Rostock dirigieren konnte) nachhaltig beeinflusst, oft auch an der Sibelius-Akademie direkt unterrichtet. Die Lebendigkeit der finnischen zeitgenössischen Musik ist ohne diese Künstler nicht zu denken. Im Falle Rautavaaras zog sich die Entwicklung von zunächst romantischem Beginn über eine serielle Phase hin zu einem polystilistischen Schaffen in den letzten Jahrzehnten, das viele Elemente vereint. Rautavaara ist zunächst als Sinfoniker bekannt geworden, u.a. 8 Sinfonien, den weltberühmt gewordenen Cantus arcticus, mehrere Konzerte für Klavier, Violine, Cello, Flöte, Klarinette, Schlagwerk und Orchester, schrieb aber auch eine große Anzahl von Opern, darunter neben dem bereits erwähnten Auringon talo mit Vincent ein großes Werk über den Maler van Gogh sowie die Opern Thomas und Aleksis Kivi. Die Chormusik ist eine weitere wichtige Linie seines Schaffens.
Auf verschiedene Schwerpunkte im Zusammenhang mit der erwähnten Oper befragt, gab Rautavaara mir damals (1994) sehr aufschlussreiche Antworten. Sie fanden Eingang in das Programmheft der Inszenierung von Peter Wittig und sie sind auch im Zusammenhang mit den Chorwerken durchaus bedeutsam.
Nachfolgend einige Ausschnitte:
"EK: Musik Nordeuropas/Skandinaviens – Gibt es den "nordischen Klang" in der Musik, was sind seine Besonderheiten und wie fühlen Sie sich der Tradition nordeuropäischer Musik verbunden?
Rautavaara: Wenigstens gibt es einen "finnischen Klang", ein musikalisches Phänomen, der Meditation vergleichbar. Dies wird personifiziert durch den finnischen Bauern, vor seiner Sauna sitzend, auf den See schauend, dem Walde zuhörend und über die mehr oder weniger tiefen Seiten des Lebens meditierend. Diese Art der Meditation treffe ich sogar in der Musik sehr moderner finnischer Komponisten an. Manchmal ist sie tief, manchmal langweilig.
EK: Jean Sibelius – Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu ihm? War Ihre serielle Kompositionsphase eine Abkehr, die in den letzten Jahren wieder größerer Annäherung gewichen ist?
Rautavaara: Ich vermute, Sie meinen das 'persönliche Verhältnis' zu seiner Musik? Ich habe sie in der Tat immer sehr geliebt und respektiert; sie war mir fast zu vertraut, um Einfluss auf meine eigene Musik zu haben. Sein mächtiger 'Schatten' hat vermutlich viele der Komponisten in den 30ern belastet, aber ich war zeitlich weit genug entfernt, um diesen Schatten nur als erfrischend zu betrachten in der Hitze der ersten harten Jahre und Jahrzehnte eines jungen Komponisten. Ich glaube, er war nie ein Kriterium für meine Entwicklung.
Nach ausführlichen Studien in den USA, Wien, der Schweiz und Deutschland habe ich eher auf allgemeine Tendenzen in Europa reagiert. Zunächst akzeptierte ich die Ideen von Darmstadt usw., später suchte ich - von diesem Serialismus frustriert - eigene Wege, die natürlich auf dem während meiner Wanderjahre Gelernten gründeten.
EK: Zeit und Unendlichkeit – […] unendlich scheinende melodische Bögen prägen Ihre Musik ebenso wie die Ihrer nordeuropäischen Kollegen Nielsen, Sibelius oder Petterson. Sind Zeit und Unendlichkeit ein spezifisch nordisches Thema?
Vielleicht lebte das 'zyklische' Konzept der Zeit der frühen Kulturen im Norden länger und wird heute noch gefühlt... […] schauen Sie sich die endlosen Wörter der finnischen Sprache an, und erst die endlose Mitternachtssonne! Wir hatten es nie eilig, und auch die Natur um uns herum nicht. Werde ich gefragt, ob ich religiös bin, antworte ich immer mit Friedrich Schleiermacher: Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Den habe ich."
Im Hinblick auf das 1979 entstandene Magnificat ist eine weitere Aussage des Komponisten wichtig für das Verständnis: "Ich beginne mit der Wahl des Materials, ob es vielleicht sogar noch eine Zwölftonreihe sein soll oder eine bestimmte Skala oder gewisse Modulationen – etwas, das die richtige Farbe für meine Idee hat; das Material sagt mir – wenn ich auch nur eine Note am Klavier spiele – welches die nächste sein muss. Das ist vielleicht etwas, was man manchmal Intuition nennt. … Intuition kommt natürlich aus dem Unterbewussten, nimmt das Material als Ausgangspunkt und bringt es zu einem Punkt, der sich vordergründig aus dem Material ergibt, der aber in Wahrheit diktiert vom Unterbewussten, von der Persönlichkeit." Sehr oft bezieht Rautavaara sich auf die Mystik. Zwei Kindheitserlebnisse – der Traum des Kampfes mit einem Engel und das Erlebnis einer griechisch-orthodoxen Bischofsweihe – sind dabei entscheidende Impulsgeber gewesen.
Im Falle des rund viertelstündigen Magnificats führte die Wahl des Materials zu Cluster- und Akkordbildungen, die nicht selten alle zwölf Töne der Skala übereinanderschichten und dennoch Dur und Moll keinesfalls scheuen. Das Stück hat fünf Teile, wovon der letzte dem Gloria Patri vorbehalten ist. Im ersten Teil stehen sich Sopran und Bass in sehr extremen Lagen gegenüber, während die Mittelstimmen eine Art Klangfläche bilden – die Euphorie der Maria in den Sopranstimmen überträgt sich auf die 'Gegenseite' der Bässe, während die Mitte Ruhe und Wärme ausstrahlt. Im zweiten Teil fächert Rautavaara den Sopran mehrfach auf in sehr einfachen C-Dur-Akkorden, die in 5/8-Takten übereinander geschichtet sind. Nach dem kraftvollen "Quia fecit mihi magna" der Männerstimmen endet der Satz eher meditativ mit der Herausstellung des Wortes "misericordia". Teil 3 ("Fecit potentiam") benutzt eine Art Ostinato der Männerstimmen, dem ein Duett von Sopran und Alt gegenübergestellt wird. Teil 4 bezieht den liturgischen Sprechgesang in die Musik ein und verharrt in einer langen – fast walzerartigen – Phase bei den Worten "Sicut locutus est ad patres nostros Abraham". Dem schließt sich ein aus der Tiefe aufsteigendes "Gloria Patri" an, das nochmals alle Kräfte bündelt und den Chor zu großer Klangentfaltung bringt. Das Stück endet mit leuchtenden und strahlenden Farben, die nach vorn weisen, jedoch auch Fragen offen lassen – die Glaubenssicherheit eines Heinrich Schütz und der schmerzliche Zweifel eines Arvo Pärt sind beide gleich weit entfernt.
Josquin Desprez – Ausdrucksmusik vor 500 Jahren
Das Programm schlägt an dieser Stelle einen Bogen über 5 Jahrhunderte und setzt dem Finnen Rautavaara den franko-flämischen Josquin Desprez entgegen, einem Komponisten der Frührenaissance. Viele biografische Details liegen im Dunkeln, auch das Geburtsdatum ist nur zu erahnen. Wenige Tage vor seinem Tod hat er für den Eintrag in die Einwohnerliste von Condé-sur-l’Escaut gebeten, als aubain (Auswärtiger) geführt zu werden, weil er jenseits der „Noir Eauwe“ geboren sei (möglicherweise die Eau Noire, streckenweise der Grenzfluss zwischen der burgundischen Provinz Hainaut [Hennegau] und dem damaligen Frankreich). Südlich der Eau Noire, nahe der Quelle der Aube, liegt das Dorf Prez, möglicherweise der Namensgeber für Josquins Herkunftsnamen. Eine Beziehung oder Verbindung zu Guillaume Dufay ist ebenso zu vermuten wie jene zu Johannes Ockeghem (1497 schrieb er zu dessen Tod einen Trauergesang). Zwischenzeitlich wirkte er in Italien, wo er u.a. in Diensten des Mailänder Kardinals Ascanio Sforza stand, dem offenbar auch das Ave Maria gewidmet ist. In der Wand der Sängerkanzel der Sixtinischen Kapelle in Rom jedoch befindet sich sogar ein Namenszug "Josquinus" – möglicherweise sogar von eigner Hand? Für 1501 bis 1503 ist seine Zugehörigkeit zur Hofkapelle des französischen Königs Ludwigs XII. († 1515) sehr wahrscheinlich. Danach suchte u.a. ein Agent Ercoles, Gian de Artiganova, in Savoyen Sänger für Ercoles Hofkapelle und konnte von dort Heinrich Isaac als möglichen Kandidaten für die Leitung der Kapelle benennen. In seiner Rückmeldung an den Auftraggeber findet sich ein bemerkenswerter Satz: " Dass Josquin besser komponiert, ist richtig, aber er komponiert, wenn er es will und nicht, wenn man es von ihm erwartet, und er verlangt 200 Dukaten als Lohn, während Isaac für 120 kommen will …“. Für 1503/1504 war ein Engagement in Ferrara vorgesehen, dem sich Josquin offenbar wegen des Ausbruchs der Pest entziehen konnte. Sein Nachfolger Jakob Obrecht erlag dieser im Jahr 1505, während Josquin an seine einstige Wirkungsstätte Condé-sur-l’Escaut zurückkehrte. Die dortige Stellung war für den ehemaligen Kapellmeister nicht nur wegen seines dortigen Haus- und Grundbesitzes attraktiv, sondern noch mehr wegen der guten Personalausstattung der Kirche und der Qualität der dortigen Musikausübung, die nur noch von der Kathedrale in Cambrai und von Saint-Vincent in Soignies übertroffen wurde. In den aufwändig gestalteten Gottesdiensten wirkte in der Regel ein Chor aus den Vikaren und Chorknaben mit, so dass bis zu 22 musikgeübte Stimmen zur Verfügung waren und bis zu sechsstimmige Werke aufgeführt werden konnten. In dieser Stellung wirkte Josquin 17 Jahre lang bis zu seinem Lebensende.
Die vierstimmige Komposition des "Ave Maria" ist von zweistimmigen kanonischen Imitationen geprägt und folgt strengen Kontrapunktregeln. So sind Auf- und Abwärtsbewegungen klar festgelegt, nicht zu viele Stufen in jede Richtung durfte es geben, ebenso wenig konnte bei der Aufwärtsbewegung einem großen Intervall (z.B. der Quarte) ein noch größeres folgen. Stattdessen folgt dem Sprung die Stufe oder die Gegenbewegung. Ähnlich strengen Vorgaben folgt die Handhabung der Dissonanz und ihrer Auflösung. Josquin beherrschte diese Kompositionsweise so virtuos, dass er sich zahlreicher Freiheiten bediente, die seiner Musik ein besonderes Ausdruckspotential verleihen. Luther bezeichnete sie als "vom heiligen Geist inspiriert".
Christian Erbach – Bindeglied zwischen Josquin und Schütz
Sehr wenig ist bekannt über den Augsburger Komponisten Christian Erbach. Zwischen 1568 und 1573 wurde er offenbar in Gau-Algesheim, Mainz geboren; begraben wurde er am 14. Juni 1635 in Augsburg, wo er seit 1596 als Organist wirkte. Zunächst stand er in Diensten der Familie Fugger, später folgte er Hans Leo Haßler im Amt des Stadtorganisten nach und übernahm ab 1625 auch die Organistenstelle am Augsburger Dom. Neben geistlicher Vokalmusik, darunter Messen und Motetten, schuf er eine große Zahl an Orgelwerken.
Das heute erklingende Magnificat ist von ganz erstaunlicher formaler Klarheit. In einer liturgisch geprägten Antiphon wird jeweils einstimmig der neue Abschnitt angerissen, dem die vierstimmige Ausformulierung folgt. Diese ist von außerordentlicher Lebendigkeit geprägt und scheut auch nicht deutliche Stellungnahme: So taucht der freudige Dreiertakt erstmals ausgerechnet beim "Esurientes" auf, also just in dem Moment, wo von den Hungernden die Rede ist, die mit Gütern gefüllt werden sollen. Ein noch beschleunigter Dreiertakt wird für das abschließende "et in sacula saeculorum. Amen" verwendet und lässt das Werk überaus tänzerisch ausklingen. Auffallend sind auch die Wiederholungen in den insgesamt 6 Strophen, in die Erbach den Text untergliedert. Die Komposition befindet sich musikhistorisch gewissermaßen 'auf halbem Weg' zwischen dem strengen Josquin und dem noch stärker ausdrucksbetonten Heinrich Schütz.
Orpheus britannicus
Ganz ähnlicher Mittel wie Heinrich Schütz bedient sich einige Zeit später Henry Purcell, der 'Orpheus britannicus', einst Chorknabe, später Organist der Chapel royal und der Westminster Abbey, wo er neben der Orgel begraben liegt. Neben vielen Theatermusiken, darunter die berühmte Oper "Dido and Aeneas", erstmals aufgeführt in einem Mädchenpensionat schrieb Purcell auch geistliche Werke. Dem "Evening service" ist sein Magnificat entnommen. Es gehört zu den eher seltenen liturgischen Kompositionen des Meisters und gliedert sich in vierstimmige Tutti-Abschnitte und 3-stimmige Verse mit entweder nur hohen oder tiefen Stimmen. Die Kompositionsweise ist eher schlicht, vorwiegend homophon, der englische Text kann gut verstanden und nachvollzogen werden. Interessant ist, dass das Werk in Moll steht. Während Schütz – kirchentonartlich orientiert – in Moll beginnt und in Dur endet, hält Purcell an der Molltonart fest. Einzig der Dreiertakt verrät etwas von der Freude des Textes. Dieser wird von der ersten bis zur letzten Note durchgehalten. Die Fülle der Vierstimmigkeit ist nur den Kernaussagen vorbehalten. Neben dem Beginn sind dies das dreimalige "Holy, holy, holy is His Name.", sodann werden – wie bei Erbach – die Hungrigen herausgehoben ("he hath filled the hungry with good things…"), eher das Gloria Patri die Brücke zum Anfang bildet. ie Entstehungszeit des Werkes ist nicht bekannt und wird für vor 1683 angenommen.
"Zu Gottes Ehren / und Christlichen nützlichen Gebrauch"
Musikgeschichtlich gehen wir nun nochmal einige Jahre zurück und nähern uns den zwei bedeutsamen Vertonungen des Dresdner Meisters Schütz, die wohl zu den tiefsinnigsten seines Schaffens und zu den bedeutsamsten in der Reihe der Magnificats zählen können. Mit dem Entstehungsjahr 1657 ist bereits diese Komposition als Spätwerk zu bezeichnen, immerhin war der 30-jährige Krieg, den Schütz von Anfang an erlebte, schon lange vorbei und der Komponist für damalige Verhältnisse bewundernswerte 72 Jahre alt!
Das 4-stimmige Magnificat unterscheidet sich von den Vertonungen der Vorgänger ganz erheblich: mit seinem deutschen Text, der in großen Teilen homophonen Schreibweise, der klaren Struktur und Textausdeutung atmet das Werk den Geist der Reformation: Schütz will, dass der einfache Zuhörer die Botschaft des Evangeliums versteht. In der beim Erstdruck zu lesenden Vorrede von Christoph Kittel ist denn auch davon die Rede, dass diese Musik "zu Gottes Ehren / und Christlichen nützlichen Gebrauch / in Kirchen und Schulen" (!) im Druck erschienen sei. Und in dieser Klarheit spricht auch der vierstimmige Satz zu uns: "die Gewaltigen", die vom Stuhl herabgestoßen werden, purzeln förmlich hinab, "die Niedrigen" dagegen (tiefe Lage) werden motivisch durch einen aufsteigenden Dreiklang erhöht. "Die Hungerigen" werden mit Gütern gefüllt – und das Motiv "füllet er" kommt dabei so oft und auf unterschiedlichen Zählzeiten, dass man tatsächlich meint, beim Ausgießen eines Füllhorns zuzusehen… In endlos sich umschlingenden und kreisenden Linien endet das Stück mit der klassischen Doxologie "…jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen". Das Werk wird nur von der Variante zu acht Stimmen von 1671 übertroffen.
Stille und Schweigen
Der Freude und Glaubensgewissheit von Schütz antwortet ein Werk aus dem europäischen Schicksalsjahr 1989 – wir sind geneigt, eher ein freudiges Stück zu erwarten. Doch Arvo Pärt konfrontiert uns genau mit dem Gegenteil, sein Magnificat ist schmerzlich, zerbrechlich, in seiner harmonischen Schönheit dennoch auffallend dissonant. Die machtvollen f-Moll-Klänge gleichen eher einem Aufschrei. Auf das Gloria Patri wird verzichtet!
"Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt." Dieser "Glöckchenstil" hat Arvo Pärt berühmt gemacht. Er ist einer der bekanntesten und meistaufgeführten zeitgenössischen Komponisten, 1935 in Paide, Estland, geboren und 1980 nach Deutschland emigriert, weil sein Komponieren und nicht zuletzt seine religiöse Musik im kommunistischen Sowjetreich als nicht systemkonform angesehen wurden. Heute lebt er abwechselnd in Berlin und Estland. Die archaischen Dreiklangs- und Tonleiterstrukturen, die für Ewigkeit und Vergänglichkeit stehen, versetzen den Hörer in einen tief meditativen Zustand. Das 1989 für den Berliner Staats- und Domchor entstandene Magnificat erinnert in seiner Strenge an die Kompositionsweise Josquins und lässt interessanterweise im Kontext der anderen Werke alle freudigen Textausdeutung vermissen. Vielmehr weckt das beständig sich aufschwingende und wieder zusammenfallende f-Moll Empfindungen von Resignation und Trauer.
"…der alte Schütz frischen Atems…"
"…über die gewöhnlichen Kirchen-Intonationen componierte/und zur Churfl. Sächs. Hoff-Capella/zum Loobe Gottes/verehret von Heinrich Schützen/Churfürt. Sächs. ältesten Capell-Meistern" Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der greise Komponist den Hinweis auf den "ältesten" Kapellmeister der Widmung anfügt – im immerhin 86. Jahr seines erfüllten Lebens. Davon erzählt gerade diese Vertonung besonders viel. Es ist, als ob in diesem prachtvollen Werk, dass in jugendlicher Frische und Fülle daherkommt, die gesammelte erfahrene Gnade, Dankbarkeit, Leidenschaft und – notabene – kompositorische Erfahrung des Meisters versammelt sind. Die kirchentonartlichen Intonationen finden sich zwar eher in den fragmentarisch erhaltenen Psalmen der gleichen Handschrift in Guben als im Magnificat selbst, das vor allem auf einen Fund in Grimma zurückgeht. Es ist innerhalb der Handschrift die Nummer 13 und Schütz' 'Schwanengesang'. Er knüpft darin deutlich an die venezianische Praxis der Mehrchörigkeit an und lässt den Text die beiden Chöre fast 'zujubeln'.
Unvertont geblieben ist die Zeile "Und seine Barmherzigkeit währet immer für und für bei denen, die ihn fürchten.", worauf der Biograph Hans Moser hinweist, während Konrad Ameln auf die "Ursprünglichkeit und Frische" sowie "lapidare Größe" des Werkes verweist. Schütz erreicht innerhalb des vorherrschenden (!) Dreier- bzw. Sechsertaktes mit hemiolischen Strukturen und Verschiebungen eine rhythmische Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Stellenweise weiß der Zuhörer nicht, in welcher Taktart wir uns überhaupt befinden, insbesondere bei den Worten "er zerstreuet, die hoffärtig sind". Es darf an dieser Stelle die wundervolle Beschreibung aus Martin Gregor-Dellins Schütz-Biografie zitiert werden: "Achtelschläge bei 'Er übet Gewalt', kräftige, drängende Tonschritte bei 'Er stößet die Gewaltigen vom Stuhl', eine Abwärtsbewegung bis zu einer Oktave, wenn der Sopran sich über 'die Niedrigen' beugt, und der Septimenakkord, der sich der 'Hungrigen' erbarmt. … Schließlich wendet sich nach einer kurzen, hörbaren Zäsur, die alle Ausführenden von selbst zu einer deutlichen Steigerung der Dynamik mahnen müsste, alles ins schlicht-großartige 'Ehre sei dem Vater', mit dessen 'venzianischer' Großflächigkeit und Farbenpracht der alte Schütz frischen Atems noch einmal in seine Jugend zurückkehrt. Es ist, als reichten sich in diesen letzten Klängen Palestrina, Gabrieli und Monteverdi über seinem Haupt die Hände, eine andere Dreieinigkeit der Geister…" [In der Bärenreiter-Ausgabe sind die Achtelschläge in Vierteln notiert.]
Dem ist wenig hinzuzufügen. Einzig die Erklärung, warum in der heutigen Aufführung das Stück vom großen Chor und nicht von Solo-Stimmen interpretiert wird: Dies ist eine eher emphatische Entscheidung, aufführungspraktisch vielleicht anfechtbar, aber vor dem Hintergrund des musikgeschichtlichen Bogens zu Rautavaara vielleicht nachvollziehbar. Die aufführungspraktisch möglicherweise korrekteren Aufführungen kleiner 'Eliteensembles' haben den Vorteil größtmöglicher Präzision und Klarheit. Sie tragen das Werk jedoch nur bis zum Publikum, zu wenig in die Herzen der fast 2 Millionen Chorsängerinnen und Chorsänger allein in Deutschland. Auch diese sollten und müssen (!) sich das Werk zu Eigen machen, wenn es in unserem Gedächtnis und Erbe bleiben soll.
In dieser Fülle antwortet das Werk auf den schmerzlichen Arvo Pärt und macht den Weg wieder frei zu fünf ganz zentralen protestantischen Liedern des 17. Jahrhunderts.
Appell und reformatorische Klarheit – Johann Eccard
Die insgesamt fünf Sätze des Thüringer, Königsberger und Berliner Meisters umrahmen die Geburt des Herrn: Theologisch und liturgisch sind das Benedictus des Zacharias, das Magnificat der Maria, die Geburt Jesu und das Nunc dimitis des Simeon untrennbar miteinander verbunden. Der im thüringischen Mühlhausen geborene Johann Eccard war ein in seiner Zeit gefragter Musiker, wirkte in Weimar, Augsburg, lange Zeit in Königsberg und zuletzt in Berlin. Stilistisch bildet er eine Brücke zwischen seinen Lehrern Joachim a Burgk und Orlando di Lasso sowie dem ca. 30 Jahre jüngeren Heinrich Schütz. Seine in der Sammlung "Preussische Festlieder" (1642 und 1644 von seinem Schüler Johann Stobäus veröffentlicht) festgehaltenen Kompositionen sind eher geistliche Lieder im Charakter einfacherer Motetten, jedoch oft 5- oder 6-stimmig. Typisch ist für Eccard die Einbindung der Gemeinde in das biblische Geschehen: zunächst erzählt er die Geschichte "Übers Gebirg Maria geht…", dann folgt das eigentliche "Magnificat": "Mein Seel den Herrn erhebet…". Am Ende steht eine Wiederholung und es folgt eine zweite Strophe: "Was bleiben immer wir daheim? Lasst uns auch aufs Gebirge gehen…" – wir als die Lauschenden werden direkt angesprochen! Dem folgt der Refrain, der nun aber "unser Magnificat", das der Gemeinde ist. Auf diese Weise wird der Zuhörer ins Geschehen hineingenommen und zum aktiven Gläubigen: "da eins dem andern spreche zu, des Geistes Gruß das Herz auftu…" – schöner, eindringlicher können die Worte der Gottesmutter Maria kaum klingen. Auch die Lobgesänge des Zacharias und des Simeon sind auf diese Weise zweistrophig mit Refrain gesetzt! In der Mitte erklingt das 5-stimmige Resonet in laudibus, das seit dem 14. Jahrhundert gesungen wurde. Die beinahe zyklische Form dieser fünf Lieder wird gerundet durch das abschließende "Nun liebe Seel nun ist es Zeit", ein Stück das ein weiteres Mal die Gemeinde, also uns selbst auf den Weg schickt, das zu verwirklichen, was Gott durch die Geburt seines Sohnes begonnen hat.
In Zeiten von Flüchtlingselend und kriegerischer Auseinandersetzungen in der ganzen Welt sollten uns die Weisen und Zeilen aus den Schrecken des 16. und 17. Jahrhunderts Mahnung und Appell sein. Die Texte der Eccardschen Sätze, die in größter Schlichtheit, dennoch kontrapunktischer Finesse und rhythmischer Vielfalt zu uns sprechen, stammen von bedeutenden barocken Dichtern aus Thüringen bzw. Königsberg.
Nach diesem Blick voraus in das bevorstehende Jubiläumsjahr der Reformation erlauben wir uns, das Konzert mit den Klängen unseres Zeitgenossen zu beenden, der gemeinsam mit seiner Frau Sini mir und meiner Frau 1995 die untenstehenden Grüße für das neue Jahr übermittelte. Das ist zwei Jahrzehnte her und Grund genug, Ihnen allen dasselbe für 2016 zu wünschen – sicher wieder mit vielen Erlebnissen in unseren Konzerten!
Wir wünschen Ihnen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und ein gesundes, glückliches und friedliches 2016!
Nachweise:
-
https://de.wikipedia.org/wiki/Magnificat, abgerufen am 03.12.2015
- Dorothee Sölle, Magnifikat, in: Warten, dass er kommt. Advent und Weihnachten. Biblische Texte verfremdet, Band 2, hrsg. von Sigrid und Horst Klaus Berg, Stuttgart 1986, S. 31
- Interview von Ekkehard Klemm mit Einojuhani Rautavaara aus Anlass der Premiere von Das Sonnenhaus (Auringon talo); Programmheft des Theaters Vorpommern, Greifswald/Stralsund 1994; Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Hartmann
- Interview von Sören Meyer-Eller für Klassik heute vom 02.12.2002;
http://www.klassik-heute.de/4daction/www_komponist_text?id=2324&text=129; abgerufen am 04.12.2015
-
https://de.wikipedia.org/wiki/Josquin_Desprez; abgerufen am 04.12.2015
- Harenberg Komponistenlexikon. Mannheim 2004. S. 691
- Begleitwort zur Ausgabe H. Schütz, Ein deutsches Magnificat, Bärenreiter, Kassel 1971
- Martin Gregor-Dellin: Heinrisch Schütz, Berlin 1985, S. 376