3
Dez
2008

Jörg Herchet, Kantate zum Sonntag nach Weihnachten; Einführung von José Luis Melchor Galindo

Herchet1

Jörg Herchet
DAS GEISTLICHE JAHR
Kantate zum Sonntag nach Weihnachten
Komposition für Alt, Kleinen Chor, Orgel und Schlagwerk
nach einem Text von Jörg Milbradt

omnipotens sermo de caelis a regalibus sedibus venit
(das allmächtige wort kam aus dem himmel vom königsthron)
Weisheit 18, 15a

derweil das vielgetön in den ursprung schläft
durchspringt er umfinstert lichtwort den nördlichen wendepunkt
fährt in unsern dunst geriebner tyrannei und blöße
verglimmt fast im wimmernden bündel ergibt sich
nun dem unvermeidlichen abtrieb nach süden
in das gelle getümmel der erbverfeilscher den völkermarkt
aber lautlos bellen während er gastet aufgeschreckte göttermeuten
da er urverschlämmten orakeln einsinnend seine kindsgestalt
bereits sich schickt zur thronbesteigung hinauf
ins knorrige bergdorf an das gereckte holz zur einigkeit
Jörg Milbradt

Evangelium des Sonntags: Matthäus 2, 13-15 (Flucht nach Ägypten)

Einführungstext von José Luis Melchor Galindo für das Programmheft

Die "Kantate zum Sonntag nach Weihnachten" gehört zum Kantatenzyklus DAS GEISTLICHE JAHR von Jörg Milbradt (Text) und Jörg Herchet (Musik). Der Zyklus ist ökumenisch angelegt, da er an Überlieferungen der westlichen wie der östlichen Kirchen anknüpft und zudem Anregungen aus außerchristlichen Religionen aufnimmt und zur christlichen Tradition in Beziehung setzt. Bislang liegen 16 Kantaten in unterschiedlicher Besetzung vor.

Die Texte dieses Zyklus spielen auf den jeweiligen Evangelientext des Sonntags oder Festtags an; Die lateinischen Zitate sind dem Introitus, dem Eingangspsalm in der überlieferten Gottesdienstordnung, entnommen. "Der deutsche Text indessen, dessen Anteil ja deutlich überwiegt, ist aus der Befindlichkeit eines Menschen von heute heraus gestaltet. Er stellt sich damit nicht nur den Verwerfungen zwischen Glaube und Kirche einerseits und modernem Leben andererseits, sondern auch dem Problem, wie in der modernen Welt, jenseits der Institution Kirche, ja jenseits religiöser Verbindlichkeit überhaupt, der Glaubensgehalt authentisch Gestalt zu gewinnen vermag. Zwar kommen die Fragen nach Sinn und Wert, nach Verantwortung und Wahrheit des menschlichen Daseins nur, wie es die mystische Tradition lehrt, im innersten Seelenfünklein zur Ruhe. Aber fassbar werden sie zunächst, wenn sie sich an den Glaubensgewissheiten prüfen lassen. Die von der Kirche vermittelten Gewissheiten aber sind auf dem Wege einer langen, oft verdunkelten Überlieferung undeutlich geworden, sodass es fraglich ist, welche Kraft zur Erhellung der Probleme unserer hochtechnisierten Gesellschaft sie haben; mehr noch, sie sind dadurch gebrochen, dass christliche Liebe und Opferbereitschaft im Lauf der Geschichte von institutioneller Machtausübung oft genug erdrückt wurden." (Brief von Jörg Milbradt vom 9. März 2003 an den Autor)

1992 gab der Schweizer Komponist und Organist Daniel Glaus den Auftrag zu dieser "Kantate zum Sonntag nach Weihnachten". Die Uraufführung erfolgte 1993 in einem Gottesdienst mit Daniel Glaus und seinem Gemeindechor in Biel.
Der Kantatentext nimmt Bezug auf das Evangelium von der Flucht Marias und Josephs mit dem neugeborenen Kind nach Ägypten (Matthäus 2, 13-15). Auch verwendet er Bilder aus den Legenden, die sich schon früh um diesen Evangelienbericht ranken (sie erzählen etwa vom Sturz der ägyptischen Götzenbilder, als das Jesuskind an ihnen vorbeikommt) und reflektiert auf dessen allegorische und spirituelle Deutung durch die Kirchenväter (Ägypten als Sinnbild der unerlösten Triebwelt).
In den Worten wie in der Musik dieser Kantate gewinn so ein Paradoxon Gestalt, das jeden Menschen betrifft, in Christus aber schon paradigmatisch aufgelöst ist: Jeder Mensch muss sich mit der Wirrnis der ungeordneten Welt, auf die er außerhalb seiner wie auch in sich selbst trifft, auseinandersetzen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich in der Kommunikation mit den Kräften und Gestalten dieser Welt selber zu kräftigen und zu gestalten und dabei an der Formung dieser Welt mitzuwirken. Zugleich aber soll er selbst- und weltvergessen in seinem Ursprung, in Gott, verharren, also sich nicht an sein Ich und an die Welt verlieren. Beides miteinander zu vereinen hieße, sich selbst in und mit der Welt rein aus Gott zu entfalten. Das ist ein schier unerreichbares, deshalb paradoxales Ideal. Aber Christus, aus Gott entsprungen umfasst und vervollkommnet die Welt schon als Neugeborenes: Er begibt sich hinab nach Ägypten, in die chaotische Finsternis der Welt, dort stürzt er die Göttermeuten, die Mächte der Verführung und Vereinzelung vom Sockel und klärt die aus dem Nilschlamm aufsteigenden Orakel, die dunkel und unverständlich schon immer auf ihn hingedeutet hatten. Von Ägypten her führt sein Weg wieder nach oben: zuerst in seinen heimatlichen Wirkungskreis im bergigen Galiläa, dann hoch hinauf ans Kreuz, an dem er mit ausgebreiteten Armen die ganze Welt umspannt, endlich außerhalb aller Zeit zurück in die unwandelbare Einheit des einen Gottes.

Wie in allen seinen Kantaten ist der Komponist auch hier von christlicher Zahlensymbolik ausgegangen: zu den drei Gestaltungsebenen (Trinität) tritt eine vierte (Welt). Der Orgelklang verkündet die Einheit auch in den Wandlungen vom Eintonklang zum Cluster und seiner Aufhellung zu einem Dreitonakkord, der zusammen mit dem Chorton einen viertönigen Allintervallakkord bildet. Er enthält potenziell alle Intervalle und bestimmt, als Symbol für Christus, den gesamten Kantatenzyklus. – Dem gegenüber steht hier die Altsolostimme; ihre Töne umschreiben den Allintervallakkord, lassen also alle Intervalle real erklingen. – Aus Cluster- und Geräuschchaos entfaltet der Chor, teils zwischen beiden Klangbereichen vermittelnd, teils im Kontrast oder als Ergänzung zu ihnen, diesen Strukturakkord bis zu seiner Spiegelung (Grundgestalt und Umkehrung zugleich) und deutet damit eine musikalische Kreuzfigur an, die in anderen Kantaten zur zentralen Gestalt wird. – Zu dieser geistlichen Dreiheit tritt die reale Welt quasi als vierte Dimension: der Schlagzeugrhythmus gibt der Flucht geradezu bildlichen Ausdruck, löst sich aber schließlich in einen vielfältig differenzierten, das gesamte Geschehen umfassenden Klang auf.

Adventsstern der Singakademie 2008

strawinski

"Komponieren bedeutet für mich, eine gewisse Zahl von
Tönen nach gewissen Intervallbeziehungen in Ordnung
zu bringen ... Wenn der Aufbau vollendet, die Ordnung
erreicht ist, so ist alles gesagt."

Igor Strawinsky

"er bestrebt sich, das Großartig-Objektive des Glaubens zur Darstellung zu bringen."
Albert Schweitzer (über J. S. Bach)

Die beiden Sätze könnten als Motto über dem ADVENTSSTERN 2008 der Singakademie stehen – dem nun schon fünften Versuch, ein Weihnachtsprogramm mit etwas Reibungsfläche zu musizieren:

2004 Pärt – Franck – Bach – Britten (Kantate St. Niclas) – Bach – Eccard – Pärt
2005 Sharakans aus Armenien – Bach – Terterian (6. Sinfonie) – Bach
2006 Bach – Weiss (Confessio Saxonica, UA)
2007 Charpentier – Voigtländer (MenschenZeit, UA) – Lully

Die Namen Bach – Herchet – Strawinsky setzen diesen Weg fort. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Idee zu diesem Programm aus meiner Kreuzchorzeit unter Martin Flämig stammt: eines der eindrücklichsten Konzerte mit der Dresdner Philharmonie verknüpfte Bachs Magnificat mit einer Uraufführung von Udo Zimmermann (Ode an das Leben nach Neruda) und Strawinskys Psalmensinfonie – ein Erlebnis, das für mich eine Initialzündung darstellte.

Die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, dass es zwischen den Problemen der Finanzwelt und denen auf dem 'Klassikmarkt' durchaus Parallelen gibt: in beiden Fällen wird auf billigen Gewinn spekuliert. Dort auf Geldwerte, die nicht wirklich existieren, hier auf besinnliches Wohlempfinden, für das die Töne nicht gedacht sind. Ob Bach, Herchet oder Strawinsky - Musik ist Form, Struktur, ist Geist, aus dem Ausdruck erwächst. Der Musikwissenschaftler Wolfgang Burde schreibt in Bezug auf Strawinsky. "Die Musik, die auf solche Weise entsteht, versucht eine musikalische Ordnung zu gestalten, die sich im engen Kontakt mit der ontologischen Zeit entfaltet. … Erlebbar ist aber auch ein anderer Zeitbegriff, der als Erlebniszeit Realität besitzt. Langeweile oder Angst, Schmerz oder Freude vermögen im erlebenden Subjekt ein Zeitgefühl entstehen zu lassen, das sich beschleunigt oder verlangsamt und das den Gang der ontologischen Zeit also womöglich tiefgreifenden Störungen unterwirft." Strawinsky selbst bemerkt, solche Musik hafte nicht am tönenden Augenblick, sondern eile ihm voraus, sie richte sich "im Unbeständigen ein, was sie befähigt, die Gemütszustände ihres Autors wiederzugeben. Alle Musik, in der der Ausdruckswille vorherrscht, gehört dem zweiten Typus an." In seinen biografischen Notizen zur Psalmensinfonie heißt es u.a.: "Die meisten Leute lieben die Musik, weil sie in ihr Gemütsregungen finden wollen, Freude, Schmerz, Trauer, Begeisterung an der Natur, einen Anlass zum Träumen oder schließlich noch ein Vergessen des 'prosaischen Lebens'. Sie suchen in ihr ein Rauschmittel, ein 'Stimulans'. … Wenn diese Leute doch lernen wollten, die Musik um ihrer selbst willen zu lieben!"

Der 'Ausdruck' ist der Gewinn, auf den wir so gern spekulieren: der eigentliche Wert der Aktie aber sind die Ordnung und der Inhalt der Töne. Oder, mit den Worten Albert Schweitzers in Bezug auf die h-Moll-Messe: "er (Bach) bestrebt sich, das Großartig-Objektive des Glaubens zur Darstellung zu bringen." In diesem Sinne artikuliert unser Programm heute Musik des "ersten Typus", um bei Strawinskys Terminologie zu bleiben. Das "Großartig-Objektive des Glaubens", die Ordnung der Töne beschäftigen auch unsere Zeitgenossen Jörg Milbradt und Jörg Herchet, deren Kantaten-Zyklus "Das geistliche Jahr" eine moderne Antwort auf Bachs Kirchenkantaten darstellt. In seiner Einführung gibt José Luis Melchor Galindo deutlich zu erkennen, dass auch hier Form, Struktur und Inhalt eine besondere Synthese eingehen und der Auffassung Bachs und Strawinsky zumindest ähneln.

Es wäre völlig falsch, hinter dieser Haltung elitäre Kunst um der Kunst willen zu vermuten – wenn, dann Kunst 'um Gottes willen', um der göttlichen Ordnung willen. Das verbindet die Werke und ihre Schöpfer am heutigen Abend.

Bachs Kurzmessen (fünf an der Zahl, jene in h-Moll wird später zur vollständigen Messe erweitert) entstanden in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts, BWV 234 in A-Dur und 236 in G-Dur datieren von 1738/39. Martin Geck vermutet, dass das hier wie überall bei Bach anzutreffende Parodieverfahren darauf zurückzuführen ist, dass er seine zeitgebundenen Kirchenkantaten 'retten' will: "Vielleicht will sich Bach in der Zeit ihrer Entstehung nicht mehr damit abfinden, dass seine Kirchenkantaten mit ihren Libretti veralten und tendenziell unbrauchbar werden." (Schweitzer merkt an, die Messen seien das Ergebnis Bachscher Beflissenheit nach der Ernennung zum Hofkompositeur und unterstellt sogar, der Komponist habe sich nicht um die Bedeutung seiner Musik gekümmert. Dem hält Geck (mit einem Zitat Friedhelm Krummachers) entgegen:
    "Als Vorlage des Gloria der A-Dur-Messe BWV 234 hat Bach den Satz 'Friede sei mit euch' aus der Kantate 'Halt im Gedächtnis Jesum Christ' BWV 67 gewählt, auf den die originäre Bezeichnung Arie kaum zutrifft, da er 'eine Szene von opernhafter Drastik dar(stellt), die bei Bach Ihresgleichen sucht'. Nach einem neuntaktigen Instrumentalvorspiel setzt die Vox Christi in gemessener Rede mit dem Segenswunsch 'Friede sei mit euch!' ein; der Chor antwortet lebhaft: 'Wohl uns, Jesu, hilf uns kämpfen und die Wut der Feinde dämpfen, Hölle, Satan, weich'. Es folgt eine vielgliedrige Wechselrede von Vox Christi und Chor. Dass ein Satz solcher Struktur als Parodievorlage für ein Gloria Gedient hat, wäre dem Auge vielleicht des scharfsinnigsten Parodieforschers entgangen, wenn das Originalwerk nicht erhalten wäre. Indessen können wir die Verfahrensweise Bachs im Einzelnen nachvollziehen. Dieser nutzt das neun Takte lange Orchestervorspiel der Arie, um den einleitenden Chorabschnitt Gloria in excelsis Deo' unterzubringen. So steht für die Worte 'et in terra pax hominibus voluntatis' in passender Weise der Abschnitt zur Verfügung, dem im Original die Vox Christi 'Friede sei mit euch' unterlegt ist. Danach setzt der Chor mit 'Laudamus te' statt mit 'Wohl uns, Jesu, hilf uns kämpfen' ein."
Interessant ist in diesem Zusammenhang noch eine weitere Verbindung, die Bach knüpft: er beginnt das Kyrie mit einem punktierten Rhythmus im 3/4 -Takt, den Schweitzer mit einem eigenen Kapitel würdigt, ihn in Verbindung mit "Feierlichkeit" bzw. "Majestät" bringt und darauf hinweist, dass auch die schwerfällige Bewegung des Ganges zum Kreuz ('Komm süßes Kreuz', Bass-Arie in der Matthäus-Passion) und die Geißelhiebe damit gekennzeichnet sind. Eben diesen Rhythmus nutzt Bach aber nicht nur im Kyrie, sondern zitiert ihn erneut im langsamen Teil 'et in terra pax' des Gloria. Im Letzteren ist der punktierte Rhythmus adagio e piano notiert, während der Grundgestus im Kyrie eher fester und schärfer sein muss. Aus der Polonaise des Kyrie (bei Bach häufig anzutreffen und möglicherweise ein Tribut des Komponisten an das sächsische Königshaus, das ja auch Polen befehligte) wird beim 'in terra pax' eher eine ruhigere Sarabande: die Geißelhiebe des angerufenen Heilands sind somit motivisch wie rhythmisch untrennbar mit dem Frieden auf Erden verbunden – das zumindest legt die motivische Brücke nahe! (Dass die Polonaise zum Text "Herr erbarme dich" darüberhinaus eine recht bittere Pointe sein könnte, wollen wir an dieser Stelle nicht weiter verfolgen.)

Im Christe eleison greift Bach auf einen Topos der Matthäus-Passion zurück, das streicherbegleitete accompagnato der Christus-Worte. Hier allerdings wird der rezitativisch-improvisatorische Gestus völlig anders ausgestaltet, statt eines Solos erklingen deren vier in doppelt fugiertem Kontrapunkt und mit kompliziertesten Harmonien und Verzierungen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Bach beim zweiten Kyrie (in das nochmals die Worte 'Christe eleison' integriert sind!) auf einen fast ausgelassenen 3/8-Takt zurückgreift.

Zum Gloria wurde oben schon geschrieben. Vor den 3 Arien endet der chorische Teil, der in den langsamen Teilen sicher von Soli gesungen wurde, wiederum langsam. Wir haben in unserer Version auch diesen Teil den Soli anvertraut, wodurch die Parallele zum 'Christe eleison' besonders deutlich wird. Die Tonarten Fis-moll hier und A-Dur dort tun das Ihre, die Beziehung zu unterstreichen.

Weitere Parodien sind die Arie des 'Qui tollis', entnommen der Kantate BWV 179 und dort mit dem Text 'Liebster Gott, erbarme dich' unterlegt, die Arie des 'Quoniam', entnommen der Kantate BWV 79 Gott der Herr ist Sonn und Schild' sowie auch das abschließende Cum sancto spiritu', das in der Kantate 'Erforsche mich Gott, und erfahre mein Herz' als Eingangschor komponiert wurde. Langsame 3/4 - sowie rasche 3/8, 6/8 oder 12/8 -Takte dominieren in der A-Dur-Messe. So nimmt es nicht wunder, wenn das Werk auch mit einer ausgelassenen Gigue schließt, die Chor und Soli ausdrücklich miteinander abwechseln lässt.

Die Psalmensinfonie von Strawinsky ist wie einige seiner Werke "zur Ehre Gottes" geschrieben und – in diesem Fall – dem Boston Symphonie Orchestra zugeeignet, das sein 50. Jubiläum mit der Komposition schmückte. Kussewitzky, der legendäre Leiter des Orchesters, wollte eine Sinfonie, Strawinskys Verleger riet zu "etwas Populärem", in der Wahl der Mittel hatte der Komponist volle Freiheit. "Mir schwebte eine Sinfonie mit großer kontrapunktischer Entwicklung vor … Ich entschloss mich daher, ein Ensemble zu wählen, das aus Chor und Orchester zusammengesetzt ist und bei dem keines der Elemente dem anderen übergeordnet, beide also völlig gleichwertig sind…. Auch (die alten Meister) behandelten Chor und Orchester gleich und beschränkten weder die Rolle des Chors auf homophonen Gesang noch die Funktion des Orchesters auf die Begleitung." Bei der Wahl des Textes geriet Strawinsky schnell an die Psalmen – für ihn "Gedichte der Verzückung, aber auch des Zorns und des Strafgerichts, ja sogar der Flüche". Den zum Tanz vor der Bundeslade gehörenden 150. Psalm wollte der Komponist von Anfang an "auf eine eher gebieterische Art" behandeln, hatte sich dabei von vielen Vorbildern abzusetzen, die eher einen jubelnden Ton anschlagen und fand schließlich im Kontrast die Lösung: langsamstes Zeitmaß, piano statt forte in den Außenteilen, im Mittelteil dagegen motorisches Hämmern und fast rhythmisches Sprechen.

Strawinsky lehnt alle Bezüge zu Gemütsbewegungen, ja sogar zu inhaltlichen Anregungen ab. So sahen einige im Chorbeginn des ersten Satzes phrygische Modi (die Melodie kreist um die Töne E und F), erblickten einen Rückgriff auf gregorianische Gesänge und Byzantinismen. Der Komponist schimpft in diesem Zusammenhang über die "haarspalterischen Vielschreiber" – er habe den 1. Satz "in einem Zustand religiöser und musikalischer Verzückung" geschrieben. An dieser Stelle zeigt sich die wundervolle Widersprüchlichkeit des Strawinskys, der einerseits geradezu hochmütig über Leute schreibt, die in der Musik Gemütsregungen erwarten, andererseits gesteht er ein, eins seiner bedeutendsten Werke im Zustand der Verzückung komponiert zu haben. Ähnliches zeigt sich auch bei der 15 Jahre später entstandenen Sinfonie in drei Sätzen, zu der er im New Yorker Programmheft der Uraufführung mitteilt. "Der Sinfonie liegt kein Programm zugrunde, es wäre vergeblich, ein solches in meinem Werk zu suchen. Allerdings mag es sein, dass die Reaktion, die unsere schwierige Zeit mit ihren heftigen und wechselnden Ereignissen, ihrer Verzweiflung und Hoffnung, ihrer unausgesetzten Peinigung, ihrer Anspannung und schließlich Entspannung bei mir ausgelöst hat, seine Spuren in dieser Sinfonie hinterlassen hat." In den Gesprächen mit Robert Craft benutzt Strawinsky für die Sinfonie in drei Sätzen sogar den Terminus "Kriegs-Sinfonie".

1930, zur Zeit der Entstehung der Psalmensinfonie, ist davon noch wenig zu ahnen. Das Spiel mit Formen, Intervallen, Rhythmen prägt das Werk. Mit den Mitteln der "Analogiebildung", der "Anstrengung des spekulativen Willens" befeuert er seinen kompositorischen Prozess und zwingt so eine Ordnung herbei innerhalb der irritierenden Mannigfaltigkeit: "Wenn die Mannigfaltigkeit mich anlockt, dann bin ich beunruhigt über die vielen Möglichkeiten, die sie mir bietet, während die Analogie mir Lösungen vorschlägt, die zwar schwieriger sind, dafür aber auch Resultate in Aussicht stellen, die infolge ihrer Solidität mehr Wert für sich haben."

Der erste Satz ist geprägt von drei Elementen: kurzen Akkordschlägen, rotierenden Akkordfiguren und melodischen Linien. Dabei schwingen sich die Linien im Verlaufe immer stärker und kraftvoller auf und führen die Entwicklung vom herben e-Moll des Beginns ("Erhöre mein Gebet") schließlich zu geradezu enthusiastischem G-Dur ausgerechnet bei den Worten "Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich dahinfahre und nicht mehr bin." Die überraschende Dur-Tonart indessen entpuppt sich sogleich als Dominante zum folgenden zweiten Satz, einer Doppelfuge in c-Moll, deren erste Themendurchführung die Holzbläser übernehmen (aufwärts, Achtelnoten und bewegte Sechzehntel); die zweite Durchführung bringt das Thema des Chores – abwärts gerichtet und mit doppelt so langen Notenwerten (Viertel und Achtel), jedoch weiter begleitet vom Holzbläserthema. Durchführung 3 ist eine Engführung des Chorthemas als a-cappella-Satz, worauf Durchführung 4 (wieder im Orchester) einen Zwischenspielcharakter im Piano darstellt. Mit großer Wucht folgt eine Coda, bei der das erste Thema der Holzbläser u.a. in der Pauke im Fortissimo erklingt. Hierzu hören wir die Worte: "Er hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott. Das werden viele sehen und sich fürchten" – erst beim abschließenden "et sperabunt in DOMINO" ("und auf den Herrn hoffen") verlässt die Musik den aufrüttelnd-dissonanten Gestus und kehrt zum einstimmigen Gesang auf dem Ton Es zurück, während in den Orchesterbässen letztmalig das Thema der Holzbläser zitiert wird.

Im Zusammenhang mit dem "Alleluja" des letzten Satzes erzählt der Komponist von seiner Erinnerung an den jüdischen Kaufmann und Kosmopoliten Gurian, der in St. Petersburg unter ihm lebte und an religiösen Festtagen in seiner Wohnung ein Gebetszelt errichtete. Das Hämmern habe sich Strawinsky eingeprägt wie ein eigenes religiöses Erlebnis. Interessanterweise muten die 3 Akkorde, die die 4 Silben des "Alleluja" (Trinität plus Welt! – sh. auch die Einführung zu Herchets Kantate) in sich aufnehmen, geradezu romantisch an, ehe eine Art archaisches Geläut beginnt, das jüngere Musikwissenschaftler (Gerd Rienäcker) an Wagners Parsifal erinnert – ob zutreffend oder nicht, sei dahingestellt: als kritischer Kommentar zu Wagner lässt sich das mögliche Zitat durchaus hören. In seiner Musikalischen Poetik notiert Strawinsky: "Wagners Musik ist im streng musikalischen Sinn mehr Improvisation als Konstruktion." Oder, etwas drastischer: "…ich behaupte, dass zum Beispiel in der Arie La Donna è mobile (aus Verdis Rigoletto, EK), in der jene Elite nur klägliche Oberflächlichkeit sah, mehr Substanz und mehr wahre Erfindung steckt als in dem rhetorischen Redeschwall der Tetralogie. Ob man es will oder nicht: das Drama Wagners leidet an chronischer Aufgedunsenheit." Strawinskys 'Geläut' wechselt beständig zwischen c-Moll und C-Dur, ehe nun der schnelle Mittelteil des dritten Satzes beginnt und einerseits vielleicht an das Klopfen des Juden Gurian erinnert, andererseits aber von den göttlichen Taten die Rede ist und somit die meditative Grundhaltung der metrischen Belebung weicht. Beim "Laudate Eum in virtutibus Eus" wird wieder das "Exaudi" des 1. Satzes zitiert – diesmal aber mit großer Sekunde statt mit kleiner. Die thematische Klammer könnte darauf verweisen, dass die Gebete (1. Satz) erhört und durch Gottes Taten (3. Satz) beantwortet worden sind. Immer stärker gewinnen die motorischen Kräfte die Oberhand, ehe bei dem Lob "mit Pauken und Reigen, Saiten und Zimbeln" sogar feine Ironie Einzug hält: in einer beinahe banalen Dreiklangsbrechung notiert der Komponist im Legato sogar die von Sängern oft fälschlich eingefügten Zusatzvokale und -konsonanten. "Lau- (hau)- da- (ha)- te- (he) Eum"… heißt es in der Partitur und wir können es uns nicht anders erklären, dass Strawinsky hier das ohnehin Unvermeidliche zum Stil macht und ausdrücklich mit komponiert. Der letzte Teil des Satzes greift wieder das 'Geläut' auf, über dem die Chorsoprane eine Dreitonmelodie (Trinität!) in unendlicher Langsamkeit zelebrieren (Viertel 72, rigorosamente, notiert Strawinsky).

In einer überlieferten Dokumentation probiert der Komponist als Dirigent genau jene Passage, fordert exakte Dynamik, deutliche Akzente und genaues Piano subito. Das Video ist ein wundervoller Beweis für Strawinskys Worte: "Ich habe oft gesagt, dass meine Werke gelesen, ausgeführt, aber nicht 'interpretiert' werden sollen! … ich finde nichts in ihnen, was eine 'Interpretation' erfordern würde!"

Seine Musik glüht gerade durch das Bemühen um die Reinigung des Denkens ("Reinige dein Denken, lös es vom Wertlosen, weihe es Wahrem", wird wenig später Schönbergs Moses zu seinem Bruder Aron sagen!) auch, um Bewusstheit der Form, um Disziplin und Ordnung, die zu neuer und größerer Freiheit führt und letztlich ein Stück göttliche Ordnung symbolisiert. Nach Temperament und Neigung habe er wohl eher wie Bach "für das Amt und für Gott schaffen sollen", so der Achtzigjährige – womit die Brücke zur einleitenden Messe in A-Dur evident wird.
Ich bin überzeugt: bei allen drei Werken auch die zur Advents- und Weihnachtszeit.
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