3
Dez
2008

Jörg Herchet, Kantate zum Sonntag nach Weihnachten; Einführung von José Luis Melchor Galindo

Herchet1

Jörg Herchet
DAS GEISTLICHE JAHR
Kantate zum Sonntag nach Weihnachten
Komposition für Alt, Kleinen Chor, Orgel und Schlagwerk
nach einem Text von Jörg Milbradt

omnipotens sermo de caelis a regalibus sedibus venit
(das allmächtige wort kam aus dem himmel vom königsthron)
Weisheit 18, 15a

derweil das vielgetön in den ursprung schläft
durchspringt er umfinstert lichtwort den nördlichen wendepunkt
fährt in unsern dunst geriebner tyrannei und blöße
verglimmt fast im wimmernden bündel ergibt sich
nun dem unvermeidlichen abtrieb nach süden
in das gelle getümmel der erbverfeilscher den völkermarkt
aber lautlos bellen während er gastet aufgeschreckte göttermeuten
da er urverschlämmten orakeln einsinnend seine kindsgestalt
bereits sich schickt zur thronbesteigung hinauf
ins knorrige bergdorf an das gereckte holz zur einigkeit
Jörg Milbradt

Evangelium des Sonntags: Matthäus 2, 13-15 (Flucht nach Ägypten)

Einführungstext von José Luis Melchor Galindo für das Programmheft

Die "Kantate zum Sonntag nach Weihnachten" gehört zum Kantatenzyklus DAS GEISTLICHE JAHR von Jörg Milbradt (Text) und Jörg Herchet (Musik). Der Zyklus ist ökumenisch angelegt, da er an Überlieferungen der westlichen wie der östlichen Kirchen anknüpft und zudem Anregungen aus außerchristlichen Religionen aufnimmt und zur christlichen Tradition in Beziehung setzt. Bislang liegen 16 Kantaten in unterschiedlicher Besetzung vor.

Die Texte dieses Zyklus spielen auf den jeweiligen Evangelientext des Sonntags oder Festtags an; Die lateinischen Zitate sind dem Introitus, dem Eingangspsalm in der überlieferten Gottesdienstordnung, entnommen. "Der deutsche Text indessen, dessen Anteil ja deutlich überwiegt, ist aus der Befindlichkeit eines Menschen von heute heraus gestaltet. Er stellt sich damit nicht nur den Verwerfungen zwischen Glaube und Kirche einerseits und modernem Leben andererseits, sondern auch dem Problem, wie in der modernen Welt, jenseits der Institution Kirche, ja jenseits religiöser Verbindlichkeit überhaupt, der Glaubensgehalt authentisch Gestalt zu gewinnen vermag. Zwar kommen die Fragen nach Sinn und Wert, nach Verantwortung und Wahrheit des menschlichen Daseins nur, wie es die mystische Tradition lehrt, im innersten Seelenfünklein zur Ruhe. Aber fassbar werden sie zunächst, wenn sie sich an den Glaubensgewissheiten prüfen lassen. Die von der Kirche vermittelten Gewissheiten aber sind auf dem Wege einer langen, oft verdunkelten Überlieferung undeutlich geworden, sodass es fraglich ist, welche Kraft zur Erhellung der Probleme unserer hochtechnisierten Gesellschaft sie haben; mehr noch, sie sind dadurch gebrochen, dass christliche Liebe und Opferbereitschaft im Lauf der Geschichte von institutioneller Machtausübung oft genug erdrückt wurden." (Brief von Jörg Milbradt vom 9. März 2003 an den Autor)

1992 gab der Schweizer Komponist und Organist Daniel Glaus den Auftrag zu dieser "Kantate zum Sonntag nach Weihnachten". Die Uraufführung erfolgte 1993 in einem Gottesdienst mit Daniel Glaus und seinem Gemeindechor in Biel.
Der Kantatentext nimmt Bezug auf das Evangelium von der Flucht Marias und Josephs mit dem neugeborenen Kind nach Ägypten (Matthäus 2, 13-15). Auch verwendet er Bilder aus den Legenden, die sich schon früh um diesen Evangelienbericht ranken (sie erzählen etwa vom Sturz der ägyptischen Götzenbilder, als das Jesuskind an ihnen vorbeikommt) und reflektiert auf dessen allegorische und spirituelle Deutung durch die Kirchenväter (Ägypten als Sinnbild der unerlösten Triebwelt).
In den Worten wie in der Musik dieser Kantate gewinn so ein Paradoxon Gestalt, das jeden Menschen betrifft, in Christus aber schon paradigmatisch aufgelöst ist: Jeder Mensch muss sich mit der Wirrnis der ungeordneten Welt, auf die er außerhalb seiner wie auch in sich selbst trifft, auseinandersetzen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich in der Kommunikation mit den Kräften und Gestalten dieser Welt selber zu kräftigen und zu gestalten und dabei an der Formung dieser Welt mitzuwirken. Zugleich aber soll er selbst- und weltvergessen in seinem Ursprung, in Gott, verharren, also sich nicht an sein Ich und an die Welt verlieren. Beides miteinander zu vereinen hieße, sich selbst in und mit der Welt rein aus Gott zu entfalten. Das ist ein schier unerreichbares, deshalb paradoxales Ideal. Aber Christus, aus Gott entsprungen umfasst und vervollkommnet die Welt schon als Neugeborenes: Er begibt sich hinab nach Ägypten, in die chaotische Finsternis der Welt, dort stürzt er die Göttermeuten, die Mächte der Verführung und Vereinzelung vom Sockel und klärt die aus dem Nilschlamm aufsteigenden Orakel, die dunkel und unverständlich schon immer auf ihn hingedeutet hatten. Von Ägypten her führt sein Weg wieder nach oben: zuerst in seinen heimatlichen Wirkungskreis im bergigen Galiläa, dann hoch hinauf ans Kreuz, an dem er mit ausgebreiteten Armen die ganze Welt umspannt, endlich außerhalb aller Zeit zurück in die unwandelbare Einheit des einen Gottes.

Wie in allen seinen Kantaten ist der Komponist auch hier von christlicher Zahlensymbolik ausgegangen: zu den drei Gestaltungsebenen (Trinität) tritt eine vierte (Welt). Der Orgelklang verkündet die Einheit auch in den Wandlungen vom Eintonklang zum Cluster und seiner Aufhellung zu einem Dreitonakkord, der zusammen mit dem Chorton einen viertönigen Allintervallakkord bildet. Er enthält potenziell alle Intervalle und bestimmt, als Symbol für Christus, den gesamten Kantatenzyklus. – Dem gegenüber steht hier die Altsolostimme; ihre Töne umschreiben den Allintervallakkord, lassen also alle Intervalle real erklingen. – Aus Cluster- und Geräuschchaos entfaltet der Chor, teils zwischen beiden Klangbereichen vermittelnd, teils im Kontrast oder als Ergänzung zu ihnen, diesen Strukturakkord bis zu seiner Spiegelung (Grundgestalt und Umkehrung zugleich) und deutet damit eine musikalische Kreuzfigur an, die in anderen Kantaten zur zentralen Gestalt wird. – Zu dieser geistlichen Dreiheit tritt die reale Welt quasi als vierte Dimension: der Schlagzeugrhythmus gibt der Flucht geradezu bildlichen Ausdruck, löst sich aber schließlich in einen vielfältig differenzierten, das gesamte Geschehen umfassenden Klang auf.

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