30
Okt
2010

Sinfonisches Konzert mit Uraufführung von Friedrich Schenker

Konzertsaal1

Am Sonntag findet um 11 Uhr ein Konzert des Hochschulsinfonieorchesters statt. Programm:

Friedrich Schenker, 12 Charakterstücke für jugendliches Orchester (Uraufführung)
Antonin Dvorak, Cellokonzert
Robert Schumann, 2. Sinfonie
Solistin: Stella Lucia Dahlhoff-Nalepa (Klasse Prof. F. Milatz)
Dirigent: EK

Hier eine Einführung zur Uraufführung:

„Welch ein Werk ist der Mensch? Zur Hälfte doch hoffentlich ein Wesen, das sich selbst und seine Mitwelt heiter erfährt. Was aber ist Heiterkeit? Und wie kann Heiterkeit, Hohnlachen, Biss, Satire in moderner Musik funktionieren? Friedrich Schenker weiß die Frage strukturell wie kaum ein anderer auseinander zu nehmen. Die Devise des Komponisten und Posaunisten: Je unfröhlicher die Zeiten, desto abgefeimter, bissiger die Musik.“

Mit diesen Worten ehrte Stefan Amzoll 2002 den damals 60-jährigen Friedrich Schenker, am Tag vor Heiligabend 1942 in Zeulenroda in Thüringen geboren und in der DDR zum Avantgardekomponisten – sollen wir sagen: ‚gereift‘? Zunächst ließ er sich zum Posaunisten ausbilden, daneben studierte er Komposition bei Günter Kochan, befasste sich eher autodidaktisch mit der Dodekaphonie, erhielt eine Anstellung im Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig – damals unter Herbert Kegel ein Hort neuer Musik von Schönberg und Eisler über Dessau bis Henze, Lutosławski, Penderecki und Nono – und setzte seine Kompositionsausbildung bei Fritz Geißler fort. Gemeinsam mit dem Oboisten Burkhard Glaetzner gründete Schenker 1970 die „Gruppe Neue Musik Hanns Eisler“ – damals die ‚Speerspitze‘ avancierter Musik in der DDR, zu der auch Schenkers Bruder als Schlagzeuger gehörte. Eine Meisterschülerzeit bei Paul Dessau folgte und gab entscheidende Impulse. Freunde und Mitarbeiter Dessaus wurden auch Schenkers Partner, so u.a. der Dichter Karl Mickel, dessen Texte Schenker zum Ausgangspunkt mehrerer Kompositionen nahm. Lang ist die Liste der vertonten Texte, von Michelangelo über Hölderlin bis hin zu Brecht, Broch, Majakowski, Luxemburg und Liebknecht. Allein an den Stücktiteln lassen sich Themenkreise erkennen, die den Komponisten immer wieder umtrieben: Die Auseinandersetzung mit der menschlichen Schöpferkraft (Michelangelo-Sinfonie), mit dem Thema Revolution (Die Gebeine Dantons), das Thema J. S. Bach („Ach Bach“, „Goldberg-Passion“), das Thema Deutschland (Allemande I-III, „Traum…Hoffnung…Ein deutsches Requiem“ für Karl und Rosa). Höhepunkt des ersten biografischen Abschnittes war zweifellos die großformatig angelegte „Michelangelo-Sinfonie“ für Sprecher, Chöre, Orgel und Orchester, 1985 uraufgeführt im Leipziger Gewandhaus mit Kurt Masur am Pult, ein abendfüllendes Werk, das seither nie wieder erklungen ist. Frank Schneider schrieb darüber: „Es sind Fragen von heute, für morgen, gespiegelt durch entfernt-verwandte Vergangenheit, gefiltert aus den bildnerischen Kreationen und sprachlichen Expressionen eines wahrhaft profunden, genialen Geistes der italienischen Renaissance“ (Einführung zur Schallplattenaufnahme, NOVA 885 274-275, 1988)

Satyrspiele, Parodien, Paradoxien geisterten durch die Musikwelt des Komponisten Schenker, merkt S. Amzoll an und konstatiert ein "satanische(s) Lachen, das bange machen kann“. „Springt der Künstler mit Bildern, Texten, Noten, Figuren heiter um, dringt er gelaunt oder missgelaunt in die Zerrwelt des Fragments, um sie nach seinem Bild umzuformen, experimentiert er mit artigen und abartigen Phantasien, entscheidet er, wann was wo stimmig und unstimmig gerät, wann Wirklichkeit mitläuft und wann nicht, ob etwas kühn, idiotisch, sachlich, frivol, monumental, frech, barbarisch, kitschig, infantil, lachhaft, lustvoll, dämlich, schändlich ist, dann tut er das kritischen Herzens und wachen Auges. Scharf und ganz unsentimental schaut Schenker dabei und fragt, zu welcher Schande die Jetztwelt noch fähig ist und wie man ihr Lichter aufsetzen kann.“

In diesem Kontext sind auch die „12 Charakterstücke für jugendliches Orchester“ zu sehen. Schon der Titel verrät Ironie: denn natürlich sind die Anforderungen durchaus sehr hoch und keinesfalls von ‚Jugendorchestern‘ zu meistern. Eher ist wohl ein ‚jung gebliebenes‘ Orchester gemeint – eines, dass offen und neugierig auf Entdeckungssuche geht.

Voller Bezüglichkeiten streift Schenker in 12 Teilen durch die Musikgeschichte - vermeintliche Avantgarde wird dabei ebenso lustvoll persifliert wie Walzer, Impressionismus, Beethoven oder Marschmusik, die ins Straucheln gerät.

I „Anfang mit Schrecken“ – BEETHOVENS GEIST erscheint

- aus einer Geräuschkulisse mit verfremdeten Klängen und Aktionen schält sich das berühmte Motiv aus Beethovens
„Schicksalssinfonie“ heraus – kulminierend in einem pathetischen Tutti, in dem sich D-Dur und Es-Moll überlagern, die Musik gerät
ins Stottern

II „aufwärts – abwärts“

- Linien aller Art, langsame, schnelle (Glissandi im Schlagwerk bspw.), Akkorde und Tonskalen rasen, schreiten, ziehen, quälen sich
auf und ab…

III „Seltsamer Garten“

- ein Klanggarten voller exotischer Geräusche aus Luftstößen der Bläser, nur mit der Griffhand hervorgebrachter Töne der Streicher,
Gezirpe des Schlagwerks auf Eierschneidern, Bleistiftklängen im Klavier und Handytönen… - sehr zeitgemäß, endend in einer Art
‚ersticktem Choral‘ des Blechs

IV Mit höchstem Ausdruck

- ein schwungvolles Durcheinander emphatischer Gesten

V „Horch! Der Dichter spricht nicht.“

- dazu ist nichts zu sagen, denn der Dichter spricht ja – nicht

VI „Aus der Fauna“

- musikalische Blüten und Impressionen der Natur – wie dort höchst kompliziert rhythmisiert im 4/4-, ¾, aber auch 3/3-, 5/6-,
3/16- oder 5/16-Takt

VII „Marschierstolpern“

- wie der Titel ahnen lässt: ein Marsch gerät ins Stolpern, nicht ohne zuvor in einem Mittelteil ein ‚Grandioso‘ zu probieren, das
grandios daneben geht

VIII „Was nun?“

- eine parodistische Reminiszenz an Lenins „Was tun?“? – einem impressionistisch verhauchten, motorisch klappernden Dreiertakt
begegnet im Mittelteil ein wüstes Durcheinander diktatorisch sich behaupten wollender Instrumente – keiner hat Recht, keiner kann
so gehört werden; was nun?

IX „Im Parlament“

- „Meine Damen und Herrn!“ – es genügt, eines der Versatzstücke aus Wortfetzen zu zitieren – „Friedifreidiheidifrie“ – um der
Schlusspointe zuzustimmen: „Sie können nicht“

X „Es schlägt Dreizehn!“

- wie zu ahnen: 13 Tuttischläge zerteilen eine Kraterlandschaft der in unterschiedlichen Tempi musizierenden Orchestergruppen
XI „Im Nebel“

- …hat schon mancher herumgestochert: diesmal sind es das Akkordeon und Blockflöte spielende InstrumentalistInnen, die dieses
Instrument eigentlich nicht beherrschen…

XII „Hinaus!!!“

- wohlgemerkt: mit drei Ausrufezeichen

Vielleicht sollte ich noch etwas Persönliches anfügen.

Zum ersten Mal erlebte ich Schenker als leidenschaftlichen Diskutanten einer Debatte um Musiktheater – geleitet übrigens von Siegfried Matthus auf den letzten „Tagen des DDR-Musiktheaters“ im damaligen Karl-Marx-Stadt. „Frau K.“, schalt er eine bekannte Sängerin, die angenehmer zu Singendes einforderte, „Sie sind eine von den ewig Gestrigen!“ – der Saal brannte förmlich, es wurde händeringend gezetert, doch bitte „ohne Injurien“ zu argumentieren… Am Abend stellte Schenker in einer Werkstatt, singend, prustend, keuchend, Posaune blasend, gemeinsam mit einem Kollegen (Reinhard Schmiedel – singend auch er, ansonsten Klavier spielend), eine neue Oper vor. Die Szene glich einem Happening, fraglich, ob die Oper zur Uraufführung besser gelang als an diesem historischen Abend in einer für DDR-Verhältnisse durchaus subversiv zu nennenden Atmosphäre. Dann kam die ‚Wende‘. Mit Schrecken nahmen wir wahr, dass diesseits der Mauer eine detaillierte Kenntnis herrschte über Reimann, Rihm, Holliger, Lachenmann, Kagel, Nono und Schnebel – jenseits hingegen niemand die Namen, geschweige denn die Musik kannte von Schenker, Goldmann, Dittrich, Katzer, Schmidt oder Herchet. Dem Übelstand abzuhelfen veranstaltete ich 1996 (mit einem ‚West’intendanten – Florian Zwipf am Theater Vorpommern) „Tage des zeitgenössischen Musiktheaters“ tief in der ostdeutschen Provinz. Das Feuilleton kam tatsächlich, DIE ZEIT, Opernwelt, FAZ und FR berichteten enthusiastisch über Aufführungen von Rautavaara, Rihm, Dessau und ein nächtliches Happening mit Schenker, Schmiedel und Klemm: wir hatten Schenkers neue Oper Les Liaisons dangereuses (für Leipzig geschrieben, uraufgeführt in Ulm) mit 2 Klavieren und Posaune vorgestellt, singend, prustend, keuchend… Am Tag zuvor war Ruth Berghaus gestorben und der ihr gewidmete Einstein unter meiner Leitung letztmalig erklungen. Eine melancholische Stimmung lag über dem Abend. Der Kontakt zu Schenker stagnierte für einige Zeit.
2008 eröffneten wir den Konzertsaal der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden mit einem Werk Friedrich Goldmanns, eines engen Freundes von Schenker. Kurze Zeit später lagen die „12 Charakterstücke“ auf meinem Schreibtisch. Es war geradezu verpflichtend, sie aufzuführen, ebenso wie das „Orchesterkonzert“, das ich dieses Jahr bereits mit den Brandenburger Symphonikern aus der Taufe heben konnte.

Hinaus!!! – möge die klare Frische dieser Musik Orchester und Publikum 20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit jugendlich erhalten. Was nun? Was tun!
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