Adventsstern 2010
Unter Zuhilfenahme des gut recherchierten Wikipedia-Artikels habe ich eine Einführung zu SHAPE von Josef Tal verfasst, die auf das Konzert am kommenden Sonntag 17 Uhr, Versöhungskirche Dresden, verweist. Dort erklingen außerdem Bachs Kantaten 4 und 6 aus dem Weihnachtsoratorium sowie 2 Werke für Doppelchor von Günter Raphael ("Im Anfang war das Wort" und "Glaubensbekenntnis".
„Abschiedszeremonien hatte ich nie sehr gemocht. Im März 1934 kam also der Tag, da die kleine Familie Gruenthal in Begleitung meiner Eltern zum Anhalter Bahnhof zog, um den Nachtexpress Berlin-München-Triest zu besteigen. Es war ein Sonderzug für jüdische Auswanderer. Endlos lang stand er in der riesigen Bahnhofshalle, die mit Tausenden und Abertausenden von Freunden und Verwandten angefüllt war. … Draußen vor unserem Coupé saßen die Eltern auf einer Bank. … Eine halbe Minute vor Abgang des Zuges begann die Menschenmenge die jüdische Nationalhymne Hatikwah zu singen. Im Echo der mächtigen Bahnhofshalle brach sich der Klang viele Male. Es brauste ein überwältigender Hymnus aus dem unendlichen Universum Gottes. Unter diesem Klangrausch setzte sich der Zug im Schritttempo in Bewegung. Die Eltern saßen auf ihrer Bank wie zwei Skulpturen. Sie sahen in eine unerreichbare Ferne. Wir fuhren am Bahnhofsvorsteher vorbei. Unter der roten Mütze lugten seine weißen Haare heraus. In der zitternden rechten Hand hielt er den Stab mit dem grünen Abfahrtssignal, über sein Gesicht rollte ein Strom von Tränen. Ich beugte mich aus dem Fenster und winkte meinen Eltern. Sie saßen regungslos und schauten ins Leere. Wir sollten uns nicht mehr wiedersehen.“
Es sind solche Geschichten aus Tals Autobiografie „Der Sohn des Rabbiners“, die gleichermaßen anrührend geschrieben sind, wie sie uns als Stachel im Fleische der deutschen Geschichte stecken. Nach dem Krieg erhält Tal von seiner wie durch ein Wunder nach langem KZ-Aufenthalt geretteten Schwester einen Brief: „Der Vater hat ein furchtbares Ende erlitten. Vergast – verbrannt. … Welch eine gütige Vorsehung, dass unser Mutterchen normal in ihrem Bett sterben durfte.“
Josef Tal kann als einer der Gründungsväter der israelischen klassischen Musik angesehen werden. Tal wurde 1910 in Pinne im heutigen Polen geboren. Bald nach seiner Geburt zogen die Eltern, Ottilie und Rabbi Julius Grünthal und seine ältere Schwester Grete nach Berlin, wo die Familie fortan ein privates Waisenhaus leitete. Rabbi Julius Grünthal war Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und spezialisiert auf die Philologie alter Sprachen.
Sohn Josef studierte an der Musikhochschule Berlin bei Paul Hindemith, Max Trapp (Klavier, Komposition), Heinz Tiessen (Musiktheorie), Max Saal (Harfe), Curt Sachs (Instrumentation), Fritz Flemming (Oboe), Georg Schünemann (Musikgeschichte), Charlotte Pfeffer and Siegfried Borris (Gehörbildung), Siegfried Ochs (Chorgesang), Leonid Kreutzer (Klaviermethodik) and Julius Prüwer (Dirigieren). Paul Hindemith – sein Kompositions- und Theorielehrer – machte Tal mit Friedrich Trautwein bekannt, der an der Hochschule ein Studio für Elektronische Musik leitete. Tal beendete seine Studien an der Hochschule 1931 und heiratete ein Jahr später die Tänzerin Rosie Löwenthal. Tal arbeitete als Klavierlehrer und begleitete Tänzer und Sänger, außerdem war er als Pianist in Stummfilmen tätig.
1934 verließ Tal als Jude mit seinem Sohn Re'uven und der ersten Frau Rosie das nationalsozialistische Deutschland und emigrierte nach Palästina. Dort arbeitete er kurze Zeit als Fotograf in Haifa und Chadera. Die Familie zog zunächst in den Kibbuz Beit Alpha und später in den Kibbuz Gescher, ließ sich aber bald in Jerusalem nieder, wo Josef Tal berufliche und soziale Kontakte knüpfte. Er trat als Pianist auf, gab Klavierunterricht und spielte gelegentlich Harfe im neu gegründeten Palestine Orchestra. 1937 war die Scheidung von Rosie Löwenthal.
Von 1937 an unterrichtete er auf eine Einladung von Emil Hauser hin Klavier, Musiktheorie und Komposition an dessen 1933 gegründeten Palestine Conservatory. 1948 wurde er zum Leiter der Jerusalemer Akademie für Musik und Tanz berufen, die er bis 1952 leitete. 1940 heiratete er die Skulpturen-Künstlerin Pola Pfeffer. 1951 wurde Tal zum Dozenten an der Hebräischen Universität Jerusalem ernannt, wo er 1961 das Center for Electronic Music in Israel gründete. Er veröffentlichte akademische Artikel und schrieb viele Einträge in der Encyclopaedia Hebraica. 1965 wurde er zum Senior Professor und später zum Leiter des Musikdepartements der Hebrew University ernannt, ein Posten, den er bis 1971 innehatte. Tal war ein begeisterter Lehrer. Er vertrat Israel in den Konferenzen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und nahm an Vorträgen und Symposien in der ganzen Welt teil. Tal war Mitglied der Berliner Akademie der Künste und des Wissenschaftskolleg zu Berlin. (zitiert nach Wikipedia)
1971 erklang im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper (Intendant: Rolf Liebermann) die Oper Ashmedai. Zwei Jahre später kam beim Israel-Fetsival Massada zur Uraufführung, eine Oper, in der Tal auch mit elektronischen Zuspielen arbeitet. Die Versuchung kam 1976 an der Bayerischen Staatsoper in München heraus. Bedeutende Dirigenten, darunter Gary Bertini und Zubin Mehta, dirigierten seine Stücke. Umso verwunderlicher ist es, dass nach der Wiederentdeckung von Komponisten wie Berthold Goldschmidt oder Walter Braunfels der 100. Geburtstag von Josef Tal keinerlei Spuren im Musikleben Deutschlands hinterlassen hat. Ein Ansporn mehr, zum Ende dieses Jahres, das für uns unter dem Motto „typisch deutsch“ stand, diesem Übelstand etwas abzuhelfen.
Das Ensemblewerk Shape (Gestalt, Form…) ist ein Stück absolute Musik. Es erwächst aus Geräuschklängen und Einzelfiguren, die sich zu rotierenden Gebilden verdichten, in die Höhe schrauben, einem Höhepunkt zustreben und wieder zusammenbrechen. Ein kammermusikalisch gearbeiteter Mittelteil stellt Piccoloflöte, Fagott, Harfe und Kontrabass in den Vordergrund. Immer wieder werden die schnelleren Passagen durch statische Klänge und Akkorde abgelöst, die einen Klangstrom erzeugen, der wie eine ‚ruhige Grundierung‘ wirkt: eine Matrix, aus der alles hervorgeht, in die alles wieder zurückfindet. Die rotierenden Figuren der Exposition kehren gegen Ende zurück, noch einmal gipfelt die Entwicklung in einem aggressiven Tutti. Übrig bleiben Klappen- und Klopfgeräusche aller Instrumente. In einem 4-stimmigen Blechbläserakkord erklingt ein letztes Mal die ‚Matrix‘, das Schlagwerk bäumt sich kurz auf, ehe das Stück verstummt.
Ein grandioses Werk, das uns an diesem Abend zwischen Bach und Günter Raphael einen wirkungsvollen Kontrast setzt und erinnert: Auch das – und vor allem das ist „typisch deutsch“. Typisch deutsch sind leider Geschichten wie die oben zitierte. Tal und Raphael im Kontext zu Bach können ein Stück schmerzhaft wirken – ein Schmerz, der indessen zur Heilung beitragen kann. Nicht geheilt werden kann die jüdische Wunde der deutschen Geschichte. Aber unsere Vergesslichkeit solchen Komponisten gegenüber kann behandelt werden... Wann, wenn nicht an Weihnachten und auf Augenhöhe mit dem, was uns am teuersten ist?!
Ich wünsche Ihnen allen ein interessantes Konzert, ein friedvolles, gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes und gesundes Jahr 2011!
klemmdirigiert - 2010-12-16 01:11
0 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks