15
Jan
2008

Die irgendwelcher modernistischer Umtriebe sicher unverdächtige Neue Zürcher Zeitung bringt einen bedenkenswerten Artikel

"Dabei müsste die Rekonstruktionswelle ein Alarmsignal sein. Drückt sich im angstvollen Festklammern an einer idealisierten Vergangenheit in Form von regionalen Bau-Ikonen doch mitunter gar Revisionismus aus. Mit der architektonischen Vergangenheitsbeschwörung soll dabei die Verlorenheit der Menschen in einer kalt wirkenden globalisierten Welt gemildert werden. Unter dem Dach der Rekonstruktion wird – wie bei der Dresdner Frauenkirche – Gemeinschaft gestiftet. Doch darüber hinaus erweist sich die Rekonstruktionseuphorie als Spätwirkung einer humorlos gewordenen europäischen Postmoderne, in der sich das tiefe Misstrauen gegenüber der Moderne und ihrer Architektur, ja der Zukunft insgesamt manifestiert. So tief ist dieses Misstrauen gegen Architektur und Architekten in Deutschland mancherorts geworden, dass beim Bauen erlaubt ist, was sonst in der Kunst als verboten gilt. Nirgendwo sonst nämlich wird die Fälschung so goutiert wie hier. Hingen in den Museen so hemmungslos banale Nachahmungen, wie sie sich beim Blick in die Kuppel der Dresdner Frauenkirche zeigen, alle Welt würde zu Recht aufschreien. In Dresden aber herrscht stattdessen heiliges Staunen. Original und Imitation gleichen sich im Zeitalter der virtuellen Verfügbarkeit der Architektur immer mehr an. Stadt und Stadtkopie werden austauschbar."

in voller Länge hier zu lesen

2
Jan
2008

Partituren - empfehlenswerte Zeitschrift

Partituren

Das letzte Heft galt den - Dirigenten... Carlos Kleiber auf dem Titel, drinnen wirklich sehr gute Artikel ud insgesamt ein hohes Niveau. Die seit einiger Zeit vertriebene Zeitschrift scheint wirklich gut zu sein. Derzeitiges Thema: Nachtmusik.

29
Dez
2007

Kritik zu Voigtländers "MenschenZeit" aus dem ND om 21.12.07

Wagnis – ein fruchtbarer OrtLothar Voigtländers Oratorium »Menschenzeit« in Dresden
Von Stefan Amzoll

»Vorsicht hat noch nie einen Sieg errungen, Ungestüm schon oft!«
(Arnold Schönberg)

Neue Musik, umschifft sie die Bedrängungen des Lebens und frönt den Moden, ist meist tödlich langweilig. Das ist ein Jammer. In ihr steckt so viel. Hunderte formale, klangliche, technische Entdeckungen seit Schönberg schreien danach, zeitgemäß mobilisiert zu werden. Wo sind die Geister, die das Potential wie Lava hinausspeien?

Lothar Voigtländer, Jg. 1943, schuf ein Oratorium, das wahrlich brennendes Material hochwirft: »Menschenzeit« auf Texte von Eugéne Guillevic für vier Solisten, Chor und Orchester. Es kam am Dienstag in der Dresdner Lucaskirche zur Uraufführung, einem Raum mit hervorragender Akustik. Ein Stück, gehörig entfernt von der alten Oratoriumsmusik und doch irgendwie darin gebettet, ein 45-Minuten-Werk, das Gedanken entwickelt, das formal klug disponiert ist, das durchgängig Spannung hat. Ein Wurf, der den Sängern und Musikern Maximales abverlangt. »Unser Gesang weiß mehr als wir von der Erde, vom Tod...« – Worte des Dichter-Philosophen Eugène Guillevic, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr nicht nur in Frankreich begangen wurde. Lothar Voigtländer bewundert dessen Verse und Wahrheiten nicht nur, er komponiert sie auf bewundernswerte Weise. Sie spiegeln sich in vokalinstrumentalen und elektroakustischen Stücken, die Gesangsparts einbeziehen, und in einem Kammeroratorium mit dem Titel »Le temps en causa«, das 1990 entstand und in Paris und Liverpool erklang.

Was charakterisiert nun die neue Komposition? Zunächst: Sie beweist ungeheuren Mut. Guillevics Dichtung erzählt keine Geschichte. Sie besingt symbolhaft die Zeit, die dem Einzelnen bleibt. Was in ihr sich widersprüchlich vollzieht: Schönheiten, Schrecknisse. Zeit läuft unerbittlich, bleibt stehen, dreht zurück, ruft, brüllt. Zeit, die singt und schweigt. Die Uhren ticken in »Menschenzeit« anders. »Die Zeit, die einen Vogel hinsiechen lässt im Sand und zum Schweigen bringt reines Wasser.«
Mixturen fallen ins Gewicht, Collagen, Montagen. Was immer passiert, es ist mehrschichtig angelegt. Linearität hat zu schweigen. Stimmen zweier Chöre, eine Gruppe Chorsolisten und ein großer gemischter Chor, verwoben mit orchestralen und instrumentalen solistischen Parts, auch mit freien improvisatorischen Teilen. Posaunensoli – so verrückt wie die von Jericho – lassen »Mauern aus Stein und Erde« erzittern. Jede Gesangsstimme, vom Sopran bis zum Bass, darf, selten unbegleitet, die Expressiva ihrer Anmut, ihrer Traurigkeit, ihres Zorns widerspruchsvoll aussingen. Instrumente und Instrumentengruppen treten aus ihrer Begleitrolle heraus. Markante Choreinwürfe zerklüften die komponierte Landschaft. Polyphonie ist deren Hauptmerkmal. Nichts geht glatt durch. Die Aufmerksamkeit des Ohres ist gefragt, seitens der Aufführenden wie der Hörer. Textmaterial kommt stellenweise französisch und deutsch (Nachdichtung Paul Wiens).

»Menschenzeit« vertraut Eugène Guillevics humanen poetischen Spiegelungen, attackiert sie aber auch, das heißt, die Musik löst sich vom Text und bringt vollkommen neue Gedanken. Wie bei Bach fahren Chöre und Instrumente im Forte Fortissimo drein, sie fordern ihr Recht, sie wollen handeln, schreien, schlagen: »Steine und zuschlagen, zuschlagen, die Steine zur Hand«, ruft das Vokalensemble zusammen mit dem Sopran. Die Kraft des vollen Klangkörpers kündigt schon die Eröffnung an: »Die Zeit – nicht die Zeit«. Der Bogen spannt sich im Finale. Es lässt alle Schwellenängste hinter sich und begehrt auf wider diese Zeit: »LES HOMMES – PAS LES HOMMES!« kommt scheinbar in einer Molltonart. Aber nichts ist mit moll. Es genügt nicht zu raunen, zu trauern, zu seufzen. Der Schrei muss raus wie die Kugel aus dem Gewehrlauf. Ganz zuletzt brodelt es nur noch wie die glühende Lava. Ein einzigartiger Tumult.

Wahnwitz einer Philharmonie, wie ihn vielleicht nur Bernd Alois Zimmermann und Friedrich Schenker komponieren konnten. Vorsicht hat noch nie einen Sieg erringen können. Das Wagnis ist der fruchtbare Ort. Lothar Voigtländers »Menschenzeit« ist ein Meisterwerk. Hohe Anerkennung allen Ausübenden. Den jungen Musikern der Sinfonietta Dresden. Den hochmotivierten Chören der Singakademie Dresden. Dem Solistenquartett, das anspruchsvollste Aufgaben zu bewältigen hatte. Dem Dirigenten Ekkehard Klemm, dem eine starke Gesamtaufführung zu danken ist. Sie erhielt viel Beifall.

007

...nun muß ich wohl den Klingelton meines Handys ändern...

007 ("Gold finger" röhrt mir mein Nokia noch immer entgegen) war ein gutes Jahr. Nicht nur, weil 2 und 7 9 ergibt und durch 3 teilbar ist, jene göttliche Zahl der Vollkommenheit, wie die Schriftstellerin J. Zeh recht überzeugend be- bzw. nachweist, nein ich meine das jetzt ganz persönlich und gemessen an meinen künstlerischen Herausforderungen, die ich mir schöner nicht hätte denken können. Die Höhepunkte waren zunächst die Werke der Zeitgenossen: die UA von Voigtländers "MenchenZeit" erst kürzlich (eine der Kritiken hier); die INTOLLERANZA von Nono in München, Schnebels MAJAKOWSKIS TOD ebenda und seine Schubert-Phantasie im Konzert des Dresdner Hochschulsinfonieorchesters; außerdem die UA von Herchets Jakobus-Kantate im Kammerabend der Sächsischen Staatskapelle und im vierten Jahr nacheinander Terterians DAS BEBEN (letzteres wieder in München); nicht zu vergessen die UA eines Werkes des Hamburger Komponisten W. A. Schultz ("Archaische Landschaft mit heilender Trauer") mit den Dresdner Kapellsolisten, die UAen zweier Werke von Studenten (Nina Shenk und Jae Hyun Park).

Im sinfonischen Bereich waren die Höhepunkte die 4. Bruckner sowie die 4. Brahms und Bergs Violinkonzert - sämtlichst mit dem Hochschulsinfonieorchester. In der Oper ferner mit Wehmut der Abschied vom Münchner IDOMENEO und ein FIGARO in Bad Hersfeld, wo es neue Aufgaben gibt in den nächsten Jahren.

Und dann die chorsinfonischen Großprojekte: Missa solemnis von Beethoven sowie die Auseinandersetzung mit Mendelssohn und seiner Schwester Fanny Hensel. Die Erträge sind hier, hier und hier zu lesen gewesen.

Einige meiner Studenten stehen gut in Lohn und Brot, eine Schülerin ist ins Dirigentenforum des deutschen Musikrates aufgenommen worden, die ersten von Anfang an unterrichteten werden nun bald absolvieren...

Doch: 2+7=9:3=3, das war schon ganz ordentlich. Wie rechnen wir uns 2+8 schön?

Alles Gute!

PS: wobei eben erst am Ende abgerechnet wird - die Lage in Pakistan und so manch andere Dinge auch im eigenen Land (wobei mir die inländischen Kriminellen nach wie vor stärker auffallen als Herrn Koch die ausländischen - unfaßbar, dieses Geschwätz angesichts andauernder Überfälle von Nazis, Hooligans, die für ein Fünftligaspiel 1200 Polizisten brauchen und toter bzw. schwerverletzter Farbiger, die sich in keine deutsche Disko mehr trauen!) geben selbst 2007 noch ein recht dramatisches Finale. Wir merkeln uns die (für mich trotz allem oft zweifelhaften) Erfolge der Kanzlerin und hoffen, daß die Liga von der Leyen, Zypries, Münterfering dankbaren Angedenkens, Steinmeier nicht zerkocht wird vom Alltagsgeschäft oder in weiteren Bushbränden dahingeht... .

Broders Prophezeihungen auf SPIEGEL-online sind sehr düster, man mag von ihm halten, was man will. Er trifft in vielem den Nagel auf den Kopf.

16
Dez
2007

Konzertreihe ADVENTSTERN

lully


Die Programme der Reihe ADVENTSSTERN der Singakademie - das sage ich nicht ohne Stolz - verdienen es, hier noch einmal festgehalten zu werden: sie dürften für einen Laienchor nahezu ohne Beispiel sein im alljählichen Wettbwerb der Weihnachtskonzerte.

2004 Pärt, Arbos; Franck, Motetten; Bach, Kantate 2 aus dem WO; Britten, Kantate St. Niclas; Bach, Kantate 5 aus dem WO; Eccard, Motetten; Pärt, Arbos

2005 Armenische Sharakans; Bach, Kantate 1 aus dem WO; Terterian, 6. Sinfonie; Bach, Kantate 3 aus dem WO; armenische Sharakans

2006 Bach, Magnificat (mit weihnachtlichen Ergänzungen); Weiss, "Confessio saxonica" (Uraufführung)

2007 Charpentier, Messe de Minuit; Voigtländer, "MenschenZeit" (Uraufführung); Lully, Te deum

2008 (geplant) Bach, Messe A-Dur; Herchet, Kantate zum Sonntag nach Weihnachten (deutsche EA); Stravinski, Psalmensinfonie

Wer immer also am Dienstag 18.30 Uhr (Einführung) oder 19.30 Uhr (Konzertbeginn) in die Dresdner Lukaskirche findet - es gibt ein großes, besonderes, ein festliches Konzert zu hören, das über Weihnachten etwas anders reflektiert als nur durchs Absingen bekannter Nummern...

Daß die Singakademie diesen unbequemeren Weg so engagiert mitgeht, nötigt mir tiefen Respekt ab!

12
Dez
2007

"MenschenZeit", Oratorium von Lothar Voigtländer; Uraufführung am 18.12.07 durch die Singakademie Dresden und Sinfonietta Dresden mit den Solisten Eiko Morikawa, Barbara Schmidt-Gaden, Falk Hoffmann und Andreas Scheibner; Konzertbeginn 19.30 Uhr, Einführungsvortrag 18.30 Uhr, Lukas-Kirche Dresden

Guillevic

(Eugène Guillevic)

"…unter unserm Gesang, der mehr davon weiß als wir,
der sein wird unser Gesetz…"

Reflexionen aus Anlass der bevorstehenden Uraufführung – anstelle einer Einführung

I
Es gehört zu den spannendsten und schönsten Aufgaben, Werke von Komponisten uraufzuführen – 'aus der Taufe zu heben', wie es so sinnig heißt und welche Formulierung so viele Deutungsmöglichkeiten zulässt… Besonders aufregend ist diese Tätigkeit, wenn es sich um Stücke handelt, deren inhaltliche Dimension bedingt durch Größe oder Länge bereits vorher klar ist und die im Oeuvre des Komponisten zweifellos eine bedeutende Rolle einnehmen werden. Es bleibt ebenso das Privileg wie die ungeheure Verantwortung von Dirigenten, die erste Interpretation – das Wort kommt von: dazwischenschieben… – musizieren zu dürfen. Stets bedeutet diese Lust und Last, auf Entdeckungsreise zu gehen, Hochgefühl und tiefe Verzweiflung wechseln einander schockartig ab; dicht nacheinander können Vorfreude, Enthusiasmus, Ergriffenheit, aber auch Ärger über Notationsprobleme, Druck- oder Schreibfehler, über Verstehensprobleme dem Gegenstand gegenüber oder schlicht über einen ungenügenden Probenstand stehen. Spät erst schält sich ein Gesamtbild heraus. Das wohlfeile Urteil der Kritik – top oder Flopp – oft nach einmaligem Hören gefällt, es erscheint dem bis dahin überdies mit Betriebsblindheit gesegneten Interpreten nur wenige Stunden vorher.
Es gibt Stücke wie Tarnopolskis "Wenn die Zeit über die Ufer tritt" (UA München 1999), die sind 3 Wochen vor dem Termin noch nicht fertig (ein ganzer Akt fehlte noch, es drohte das Chaos) – alles ist in Bewegung, völliges Scheitern nicht ausgeschlossen; solche wie Terterians "Das Beben" (UA München 2003), die über 20 Jahre auf ihre 'Taufe' warten müssen und deren sensationeller Erfolg vielleicht einzig dem schon längst verstorbenen Komponisten klar war… (noch zur Hauptprobe bat ich den Intendanten um Vergebung, das Stück empfohlen zu haben); solche wie Krätzschmars "Schlüsseloper" (UA Dresden 2006), deren Üppigkeit und schiere Länge einen zur Verzweiflung treiben oder solche wie Weiss' "Confessio Saxonica" (UA Dresden 2006) oder Herchets "Kantate zum Fest Jacobus des Älteren" (UA Dresden 2007), deren große Klarheit und strukturelle Dichte sofort für sich einnehmen. Ein Sonderfall ist das eigene Stück ("3 in 1", UA Dresden 2006) – hier dominiert der schwankende Boden unter den Füßen…

Das für Lothar Voigtländer reservierte Blatt in der Liste der von mir dirigierten Uraufführungen trägt stark vegetative Züge, ist beschrieben mit grellen Farben ebenso wie mit pastellenen Tönen. Es gibt sehr dunkle darunter, schwarze Löcher, die alles zu verschlingen drohen und auch mit kantigen Materialien hervortretende Rauheiten. Was ich als Dirigent nie vorhersehen kann, sind die Reaktionen der Ausführenden und des Publikums: große Emotionalität habe ich sich in Nichts auflösen sehen, und abgesicherte Strukturen können umgekehrt nicht für kraftvollen Ausdruck bürgen… Es bleibt das Geheimnis jedes Werkes und das seiner Schöpfer, warum es existiert und wie es uns anspricht. Als Interpreten haben wir die Pflicht, diese Geheimnisse zu suchen – eine Garantie, sie zu finden gibt es nicht. Aber der Verzicht auf das Suchen bedeutete den Tod der Musikgeschichte. Krisen, Unwägbares gehören zum Normalfall von Uraufführungen, sind das kreative Potenzial, das zu bewältigen zu tieferem Verständnis, zur überzeugenden Kraft einer Aufführung gerinnen kann. Die Möglichkeit des Scheiterns lauert auf dem weißen Blatt Papier wie im Konzert der Uraufführung. Weiterleben heißt immer: Neues wagen – der Tod der Kunst wäre die Kapitulation vor dem Ungewohnten, Unerhörten.

"Erde, es kommt der Tag, da wir dich kennen werden, da wir eintreten dürfen uns dir zu vermählen, schauernd zu sehn, wie sich öffnen für uns Arten von Türen, Arten von Mauern, unter unserm Gesang, der mehr davon weiß als wir,
der sein wird unser Gesetz."


Unser Gesang weiß mehr als wir von der Erde, vom Tod… – und er wird sein unser Gesetz! Schöner als Eugène Guillevic und sein Übersetzer Paul Wiens kann man das kaum treffen.


II

"Weil es ein Ende gibt für diese Tage vor dir"

Wie heißt es bei Brahms? "Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor dir…".

Zwei wichtige Spannungslinien bilden den Humus, aus dem das neue Oratorium wuchs. Eine davon ist Voigtländers tiefe Verwurzelung und Verbundenheit mit der großen Chortradition, seine Nähe zum Gesang. Kreuzchor, Rudolf Mauersberger, Schütz, Bach, Brahms waren die Eckdaten des beginnenden Künstlerlebens, das über die Kapellmeisterlaufbahn bald ins Komponieren, ins eigene schöpferische Tun fand und sowohl vor als nach 1989 wichtige Akzente der zeitgenössischen deutschen Musik beifügte.

Innerhalb dieses bedeutsamen Weges stößt Voigtländer 1975 auf einen Gedichtband von Eugène Guillevic (der seinen Namen nach Voigtländers Erzählung mit einem deutlichen Anklang an ein nicht so stubenreines deutsches Wort ausgesprochen haben wollte…). Guillevic war "befreundet mit Louis Aragon, von Éluard sichtbar gebrannt… vielleicht(in) Beziehung zu Mallarmé zu setzen... Namenloses, Unerhörtes, Ungeheures zur Sprache zu bringen…." – so charakterisiert Paul Wiens ihn, einer seiner deutschen Übersetzer. Guillevic selbst übersetze Hölderlin und Trakl. "Nichts von den Symbolisten, nicht von den Surrealisten. Bei Guillevics Art zu beten werden die Hände schmutzig: er arbeitet."
"Steine, Felsen, das Meer, die Stille, die Zeit, die Menschen in der Zeit – und immer wieder: die Menschen – sie sind der Gegenstand seiner poetisch-philosophischen Untersuchungen. Er sucht 'das Geheimnis der Dinge' in den Dingen, hinter Dingen" – so der Komponist Voigtländer. Und weiter: "Ängstlich (als junger Mann) trat ich (etwa 1978) seinerzeit Guillevic, dem großen alten Mann der französischen Poesie gegenüber, ob er mir eine solch freie, ja fast gewalttätige künstlerische Einmischung in sein Leben erlauben werde. Erst verwundert über solche Kühnheiten der dramaturgischen Zuordnungen seiner Worte, gab er mir dann später in einem Brief die schriftliche und unumwundene Einzel-Erlaubnis, dass ich seine Worte, seinen Geist handhaben dürfe. Er hatte unendliches Vertrauen, da er meinte, dass ich seine Philosophie, sein Innerstes verstanden habe… auf eine sehr deutsche Weise, wie er schmunzelnd anfügte …er nannte mich 'seinen deutschen Komponisten' … Daraus folgt, dass ich die Texte (besser: die Worte) also nicht 'vertonte', vielmehr komponierte ich die Philosophie, den darinnen wohnenden Geist." Guillevic wird für Voigtländer zur Obsession, die Texte nennt er seine 'philosophische Bibel'.

Diese Erinnerungen des Komponisten beziehen sich zunächst auf ältere Werke, auf die "Meditations sur le temps" von 1975, auf "Hommage à un poète" von 1985 oder "De savoir la menace" aus dem Jahr 1987. All diese Werke sind gewissermaßen Vorstufen für die großen Auseinandersetzungen, die im neuen Oratorium kulminieren: 1990 entsteht das Kammeroratorium "Le temps en cause", schließlich 2001/02 das KammerSzenario "Visages" für Sopran, Sprecher, 9 Instrumente und elektroakustische Zuspiel-Bänder. Beiden Werken ist gemeinsam, dass sie von keiner Handlung getragen sind. Brigitte Kruse notiert in der Einführung zur CD des KammerSzenario: "Der Gegensatz könnte größer nicht sein: der Lyriker, der in äußerster Reduktion jedes Wort wie einen wertvollen Diamanten von jeder Seite betrachtet, und der Komponist, der für das Theater, multimedial und in großen expressiven Bögen denkt. Lothar Voigtländer macht die Texte 'bühnentauglich', indem er Worte, Verse und ganze Strophen aus den Gedichten nimmt, zerhackt und neu montiert."

2006 legt Voigtländer mir die Partitur des Kammeroratoriums auf den Schreibtisch, ein Stück, das bereits in Paris und Liverpool erklungen ist. Er will wissen, was ich davon hielte, es zu einem großen Oratorium zu erweitern. Wer soll da widersprechen? Wer wagte es, den leidenschaftlichen Blicken eines längst von der Idee entzündeten Komponisten ein 'nein, vergiss es' entgegenzuhalten? Das kann man bei allen Fragen und bevorstehenden Schwierigkeiten nicht ernsthaft wollen. Ich ermutige und stelle die Uraufführung in Aussicht.
Was folgt, ist eine großangelegte Erweiterung, Umarbeitung, Einarbeitung, Neubearbeitung… - letztlich eine völlige Neuschöpfung. Die Chorteile sind teilweise dem Kammeroratorium von 1990 entnommen, jedoch völlig neu gefasst unter Verzicht auf die damalige Aufteilung auf 16 Vokal- und Instrumentalsoli. Nunmehr gibt es 4 Gesangssoli, kleinen Chor, großen Chor und Orchester. Völlig neu sind die eingefügten Abschnitte der Soli, lediglich Teil VI (Steine) – das Solo des Soprans – ist in "Visages" vorgeprägt.

Hier nun begegnen sich die beiden Spannungslinien: die vom klassischen Oratorium bekannte Gegenüberstellung Chor – Arie wird dem für Guillevics Texte vom Komponisten gefundenen Kompositionsprinzip der Textcollage unterworfen. Heraus kommt ein Werk, dessen Textbehandlung in der Oratoriengeschichte der jüngeren Zeit mit Werken wie den "Trois Poèmes d'Henri Michaux" von Lutoslawski (pikanterweise auch nach französischen Texten!) vergleichbar ist. Der Musikwissenschaftler Matthias Hermann schreibt: "Die dem Oratorium 'MenschenZeit' zu Grunde gelegten Texte von Eugène Guillevic sind von seltener Tiefe und Schönheit. Ihr Grad der Verallgemeinerung ist für die Gattung Oratorium ein Gewinn, dominierte doch mitunter bei oratorischen Werken vor allem des 20. Jahrhunderts zu sehr das Konkrete." Voigtländer verzichtet auf theologische Implikationen – sein Nachdenken über den Menschen und seine Zeit wurzelt in der verinnerlichten oratorischen Tradition, findet jedoch mit Guillevic einen Weg, der den lieben Gott zunächst nicht beim Namen nennt: "Es erscheint künstlerisch legitim, dass ich dies mit meinem eigenen Wissen, Glauben, Zweifel anreicherte, in musikalische Semantik setzte, was ich über Dinge, Menschen etc. empfinde, denke. Ich hoffe, dass Guillevic dies auch in dieser im Oratorium so text-exegetischen Weise mit getragen hätte wie er das zu Lebzeiten mir auszudeuten gestattete." Und dann doch der Bezug zu den geistlich geprägten Vorfahren: "das umschreiben, was uns hier auf Erden bewegt, zusammenhält, umbringt, - das schien mir geradezu biblisch geeignet für ein Oratorium (Requiem)… Was bei Guillevic atheistische Suche nach dem Geist in den Dingen, ja, im Menschen ist, das wird bei mir ergänzt durch religiöse, pantheistische, dramatisch zugespitzte und ins Verzagen (auch Ironie) geführte musikalische Diktionen. Den (fast unheimlichen) Glauben an den Menschen eines Guillevic respektiere ich, frage aber sehr aggressiv nach und verhöhne durchaus gnadenlos" (Voigtländer in einem Brief an den Autor).

III

"Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat"

Zu Voigtländers Wissen, Glauben, Zweifel gehört zweifelsohne die Auseinandersetzung mit dem Thema DDR und Deutschland. Der Blick des jungen Komponisten aus dem ostdeutschen Berlin ins damals sehr ferne Paris mag von großer Sehnsucht getragen gewesen sein. Nicht zufällig bricht sich die bis dahin bedeutendste Auseinandersetzung mit Guillevic in "Le temps en cause" 1990 Bahn, einer Zeit, wo Aufführungen in Paris, Liverpool, Manchester, diesseits wie jenseits der "Mauer aus Stein und Erde" möglich wurden. Voigtländer, mit seinem Engagement innerhalb der Internationalen Gesellschaft für elektroakustische Musik auch über die Grenzen bekannt, wachsen nach der Wende wichtige Aufgaben zu. Federführend und als Vorsitzender ist er bei der Fusion der Komponistenverbände Berlin Ost und West dabei. Im Werkausschuss der GEMA ist er Stellvertretender Vorsitzender. Voigtländer mischt sich ein, moderiert, inspiriert, leitet Kurse, Musikfeste, Studios, Konzertreihen… Kein zurückgezogen meditierender Tondichter – obwohl auch das!

…und ist also wie wir alle nicht vor den Eruptionen der Gefühle gefeit: "Eins zwei drei – bei Nacht den König umgebracht" – ein Echo des Herbstes 1989? Voigtländer hierzu: "Ein kreuzige, kreuzige ihn – Pöbel-Chor!" Bereits im Kammeroratorium von 1990 sind die Zeilen und die dazugehörige Musik zu finden. Brutal hämmernd, gerufen statt gesprochen – geradezu lustvoll wird der König gestürzt, "Eins zwei drei – wie bald ist der König kalt"; mit diabolischer Freude wir das Wörtchen "froid" wiederholt.
Und alles steht unter der Überschrift "Die Spiele – nicht die Spiele". Mehr noch als im Kammeroratorium von 1990 wird im neuen Werk von 2007 die geheimnisvoll seltsame Gegenüberstellung des Wortspiels thematisiert, die Brechung zum entscheidenden Stilmittel. Der brutal zuschlagenden Musik des "Un deux trois" antwortet nach dem zweiten Erklingen das fragile "palotte fleur", dem französischen Original ist durch das ganze Stück hindurch der auch in Wiens Übersetzung literarisch gleichermaßen wundervolle deutsche Text gegenübergestellt – die gesamte Komposition damit bilingual strukturiert.

Die dem KammerSzenario entlehnte Arie des Soprans (Teil VI) folgt der nackten Gewalt von Teil V, danach fügt der Komponist nunmehr ein da capo ein (Beginn von Teil VII), Teil V, VI und VII verschmelzen somit zur groß angelegten ABA-Form mit Coda ("Palotte fleur…", der Schluss des Teiles VII). Was 1990 in kleineren Dimensionen angelegt war, wird nun zum dramaturgischen Kern, zum Kraftzentrum und Mittelpunkt des Oratoriums. Hierhin führen alle Gedankenlinien, von hier aus werden sie wieder neu geordnet und zusammengesetzt. Der Stimme der Gewalt antworten Guillevic/Voigtländer vieldeutig: "Blässliche Blume, was davon bleibt. Der Wind, der Regen, an Rücksicht so wenig." – Text und Musik brechen auch hier die Exzesse rhythmischer wie dynamischer Kraftentfaltung mit Zartheit und klanglichem Raffinement.

Der möglicherweise unmittelbare Bezug zum politischen Geschehen der Zeit im Werk von 1990 gerinnt im größer angelegten Stück von 2007 zur philosophisch weiter gefassten Auseinandersetzung. Ist sie abgeklärter? Milder? Ganz im Gegenteil. Entfesselter noch sind die Geräusche, Rufe, Schreie, das Poltern von Schlägen und Steinen. Kein Zurückziehen eines nun 17 Jahre älteren Autors. Urwüchsig wie eh prallen Rauheit und Sensibilität aufeinander. Und doch überwiegen danach ganz andere Gedanken, die folgenden musikalischen Teile erfahren eine deutliche Erweiterung.

IV

"Va, fleur avance"

Von großer Klarheit, Übersicht und Ökonomie ist die Form des Oratoriums. Erscheint das Werk von 1990 noch vegetativ brodelnd, ungeduldig – es scheint dem entscheidenden Satz "Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit", in seinem zügigen Vorangehen beinahe zu misstrauen! – nimmt sich der Komponist zur Ausformulierung seiner Ideen nun deutlich mehr Zeit.

Das Werk ist gegliedert in 12 Teile, Teil XII beginnt mit Reminiszenzen an Teil I und rundet somit eine Bogenform, in deren Mitte die bereits erwähnten Teile V bis VII stehen.
Voigtländer hat entlang der Verse Guillevics den Teilen Überschriften gegeben, Schlagworte, von denen die Texte erzählen: Zeit, Tod, Menschen, Dauer, Spiele, Steine, Erde, Feuer… Teil I – III bilden eine Art Exposition: zwei großangelegte Chöre umrahmen das Solo des Baritons "de la mort", der in Teil III mit dem Chor verwoben ist. Vom Ton H aus entwickeln sich Impulse, Schwingungen, Klangflächen, Harmonien, Improvisationen der Instrumente, stammelnde Worte oder Ausrufe der Soli und des Chores.

Teil IV sinniert und spottet über die Träume. Die Ironie des Tenorsolos, geräuschvoller Klänge und extremer Posaunensoli mündet crescendierend in den Fanatismus des Teiles V. In Teil VI sind den Eskapaden, Schreien und aberwitzigen Sprüngen der Sopranistin das "Zuschlagen" symbolisierende perkussive Elemente zugeordnet. Erst bei den Worten "Es ist nicht ohne Grund, dass wir gezittert haben" findet die Musik zu neuer Ruhe, die von der Reprise "Un deux trois…" (Teil VII – da capo von Teil V) wieder zerbrochen wird. Mit den Worten "Palotte fleur" des kleinen Chores beginnt die Coda des Mittelabschnittes, damit rundet sich der zweite große Entwicklungsbogen.

Den dritten bilden die Teile VIII – X, beginnend mit dem Alt-Solo, weitergeführt mit dem bis zur Zwölfstimmigkeit aufgefächerten Chor ("Le feu – pas le feux") und der erneuten Verquickung von Solo und Chor in Teil X, dessen Ende sich weitet in den Choral "Va fleur avance" (Teil XI): mehrschichtig sind Soli (vierstimmig), kleiner und großer Chor übereinander montiert und bilden den meditativen Höhepunkt des Werkes.

Teil XII knüpft an den Beginn des Oratoriums an, retardiert nochmals, führt weiter und zu Ende. Unisono-Linien des Chores und gar ein opulent scheinendes D-Dur beenden das Werk, in dessen Finale gleichwohl Geräusche, Dissonanzen, grelles Blech und donnerndes Schlagwerk gemischt sind – ein 'schmutziger, dreckiger Kitsch', den Voigtländer hier inszeniert und die Szenerie durch Überhöhung wieder kippen lässt.

Den einzelnen Teilen sind Tonzentren zugeordnet, die in aufsteigenden Terzen von h über d (Teil III), f (Teil V), gis (Teil VIII) wieder zurück zu h führen (Teil XII). Der übergreifenden Struktur indess haftet nichts Schematisches an: der Choral des Teiles XI bspw. erklingt völlig überraschend in g-Moll, dem in Teil IV noch andauernden Tonzentrum d wird – vorgreifend auf Teil VIII – bereits der Tritonus gis zugesellt usw. usf.

Ausgesprochen farbig und vielgestaltig sind Chorführung, Behandlung der Soli und namentlich die Instrumentation. Das keinesfalls große Orchester reizt alle Möglichkeiten der Klangerzeugung, rhythmisch fest gefügter wie aleatorischer Strukturen voll aus: hier schreibt ein Komponist auf der Höhe seiner Kraft, seines Könnens mit Souveränität und großer Meisterschaft – so viel kann bereits jetzt klar und deutlich gesagt und erkannt werden.

"Die Zeit ist da – auf halbem Weg…" – nein, möchte ich entgegnen: Voigtländer ist mit seinem neuen Stück den ganzen Weg einer langen, wunderbaren, sicher auch quälenden Auseinandersetzung mit dem Werk Guillevics gegangen. Die Partitur lässt eine Musik erwarten, die in uns nicht schnell verstummen wird.

Avance!

24
Nov
2007

Musik zur Weihnachtszeit

Voigtlaender1

(der Komponist Lothar Voigtländer)

Ich muß mich in letzter Zeit häufiger rechtfertigen, warum die Singakademie Dresden im weihnachtlichen Konzert - ich habe es bewußt "Adventsstern" genannt, das beinhaltet Vielfalt der Musik, Vielfalt der Inhalte, Kontraste in einer Zeit der Erwartung, des Hoffens, Sehnens... -nichts 'richtig weihnachtliches' musiziert: ausgerechnet im Dezember singen wir eine Uraufführung, letztes Jahr ein Oratorium von Manfred Weiss, dieses Jahr das Oratorium MenschenZeit nach Eugéne Guillevic (zu dessen 100. Geburtstag) von Lothar Voigtländer. Ein schweres, rauhes, unbequemes - ein schönes Werk!! Dazu zwei französische Barockkomponisten: Charpentier mit seiner Messe de minuit und Lully mit seinem Te deum - beide eigentlich sehr weihnachtlich. Warum also der zeitgenössische Kontrast?

Darum unter anderem:

"Als sie zur Klinik kam, trug die Frau eine Plastiktüte. In ihrem Dorf hatte sie längere Zeit zwei ihrer kleinen Mädchen vermisst, erzählte sie. Sie ging zum Milizenchef des Dorfes, und fragte ihn, ob er die Kinder gesehen habe. Der lachte sie aus. "Du hast jetzt jeden Tag Fleisch gegessen", erklärte er ihr. "Denkst du, wir haben Ziegen geschlachtet?" Die Knochen schenkte er ihr. Seitdem trägt sie in ihrer Tüte zwei kleine Schädel herum - die Reste ihrer Töchter."

Die Welt zu Weihnachten 2007. Advent im Kongo. Zu finden in einem grauenerregenden Text der heutigen taz .

die Zeit ist da, - auf halbem Weg.../Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit./Weine ich über mich - oder über uns alle?/Sind das Tränen über meine Tränen - oder über unsere Tränen?/Aber ich weine übrigens nicht, ich schreie./LES HOMMES - PAS LES HOMMES - LES HOMMES

Doch, ich glaube, das Stück paßt zum Weihnachtfest - es ist eine andere Art von Besinnung, die es fordert.

Infos zum Konzert hier.

21
Okt
2007

ELIAS - eine Einführung aus Anlass der Aufführung der Dresdner Singakademie mit dem Orchester der Landesbühnen Sachsen sowie der Solisten Olaf Bär, Anja Zügner, Marlen Herzog und Falk Hoffmann; Sonntag, 28.10., 17.00 Uhr, Kreuzkirche Dresden

Elias-klein


"…die Musik bekam eine Art von liebenswürdigem Ausdruck, über den ich noch heute toll werden möchte…"

Mendelssohns ELIAS - Anmerkungen zu einem demokratischen Komponisten und seinem Oratorium des
interreligiösen Dialogs


Birmingham am Morgen des 26. August 1846: von London kommend treffen Hunderte Sängerinnen und Sänger, Musiker und viele andere Teilnehmer eines der damals typischen Musikfeste mit dem Sonderzug ein. Ein Chor aus 271 Sängern (79/60/60/72 in der Stimmverteilung) sowie 125 Orchestermusiker bestreiten vor 2000 Zuhörern die triumphale Uraufführung eines der bedeutendsten Oratorien des 19. Jahrhunderts, dessen Strahlkraft heute mehr denn je fortdauert.

Mendelssohn und Wagner, demokratischer und autoritärer Ansatz des Komponierens?

Weder Wagners antisemitische Äußerungen noch das Aufführungsverbot in der Nazi-Zeit konnten an der Popularität des ELIAS rütteln – gleichwohl ist die Mendelssohn-Rezeption durch beides stark beeinflusst worden und noch heute müssen wir uns fragen, ob der gelegentlich vorgebrachte Vorwurf von 'Glätte' oder 'mangelnder Tiefe' nicht Spätfolge der zu wenig erfolgten Auseinandersetzung mit den äußerst fragwürdigen Argumenten Wagners sind, die im übrigen fast völlig auf ihn selbst zurückfallen. Bereits 1869 schreibt Gustav Freytag in seiner Schrift "Der Streit um das Judentum in der Musik": "Die Effecthascherei, das prätentiöse und kalt überlegte Streben nach Wirkungen…, die übergroße, nervöse Unruhe, Freude am Seltsamen und Gesuchten…, ein abenteuerlicher Sinn, der im Ungeheuerlichen Befriedigung sucht… Diese Beschaffenheit seines merkwürdigen und für unsere Musik verhängnißvollen Talentes scheint uns gerade eine solche zu sein, welche in seinem Sinne als eine dem Judenthum eigenthümliche aufgefaßt werden müßte. Da nun Herr Wagner keineswegs der Meinung sein wird, daß er selbst zu dem Judenthum in der Musik gehöre, so haben wir Andern zuverlässig alles Recht verloren, von Beschränktheiten der jüdischen Musiker zu sprechen. Und das scheint uns der Humor bei diesem langen Streit um des Kaisers Bart." – ein Humor, der spätestens 1933 bitterster Ernst wurde und von dem sich Deutschland hinsichtlich der Beurteilung Mendelssohns lange nicht erholte. Wulf Konold ("Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit", Regensburg 1984) beschreibt, wie sich Wagners Vorurteile bis in die Musikschriftstellerei des ausgehenden 20. Jahrhunderts fortsetzten.

Arnd Richter weist in seinem Buch "Mendelssohn – Leben Werk Dokumente" (Zürich/Mainz 2000) nach, dass Wagners Vorhaltungen vor allem dem Neid auf das Talent des teilweise überaus verehrten Kollegen entsprangen, der sich sogar für den 4 Jahre jüngeren Wagner eingesetzt hatte. Umgekehrt führte Wagner auch Mendelssohn auf. Ebenso sind mehrere Anklänge Mendelssohns bei Wagner nachweisbar, angefangen von Zitaten aus Mendelssohns Ouvertüren im RHEINGOLD über das 'Dresdner Amen' der Reformations-Sinfonie (zitiert im PARSIFAL) bis hin zur idiomatischen Nähe des Elias-Beginns zum Wotan des Rings. Und völlig emotionslos kann heute festgestellt werden, dass der frühreife Mendelssohn ungleich begabter, tiefer und formal sowieso perfekter komponierte als bspw. der Wagner des LIEBESVERBOTs – ein sehr talentiertes, jedoch recht exaltiertes Werk des 23-jährigen Magdeburger Kapellmeisters, das zwar eine auf den HOLLÄNDER vorausweisende Arie (des Friedrich) und eine wundervolle Hommage an Weber (die kleine Arie der Mariana im Finale) enthält, ansonsten aber stilistisch diffus wirkt und mit Mendelssohns Werken unvergleichbar ist: Felix war in diesem Alter ein fertiger und ausgereift schaffender Künstler auf der Höhe seines Könnens, Richard allenfalls ein junger Draufgänger. Mendelssohns größte und bedeutendste Werke sind die Sinfonien, Ouvertüren, Schauspielmusiken und namentlich die Oratorien – sämtlich Leistungen in Genres, die untrennbar mit der Entwicklung der bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert verbunden sind. Gerade diese Tatsache hat Wagner zusätzlich der Oper zugetrieben, die er im Konzept des Gesamtkunstwerks auch tatsächlich zur Vollendung brachte – eine Pointe der Musikgeschichte, dass ausgerechnet der beschimpfte Mendelssohn daran erheblichen Anteil hatte.

Musikfeste, Singvereine, Konservatorium – Initiativen eines für Gleichheit Streitenden

1829, also bereits mit 20 Jahren, führte Mendelssohn die Matthäus-Passion Bachs auf und leitete damit einen Prozess ein, der letztendlich im bürgerlichen Konzertbetrieb mündete und als dessen entscheidender Anstoß gesehen werden kann. (Übrigens begann damit auch die 'Erbepflege' – mit den Konzerten unter Mendelssohn beginnen die Konzertprogramme, sich an Musik vergangener Generationen zu orientieren.)
1836 kommt es zur Uraufführung des PAULUS und kurze Zeit später schreibt Mendelssohn an seinen Freund Klingemann: "Und jetzt im Augenblick sind die Singvereine gut und sehnen sich nach Neuem" – der auslösende Impuls zur neuerlichen Beschäftigung mit einem Oratorium. Martin Geck ("Von Beethoven bis Mahler", Reinbek 2000) bestreitet indes, dass Mendelssohns Interesse für die Singvereine einzig dem Erfolg galt und konstatiert: "Indem er das Chorwesen fördert, will er der Gesellschaft dienen. Wie er einem Leipziger Beamten im Zusammenhang mit der Gründung des dortigen Konservatoriums am 8. April 1840 darlegt, haben Künstler die Aufgabe, der 'vorherrschend positiven, technisch materiellen Richtung der jetzigen Zeit' den 'ächten Kunstsinn', das heißt den 'Sinn für das Wahre und Ernste' gegenüberzustellen. Im gleichen Zusammenhang sind die meisten der Initiativen Mendelssohns zu sehen, angefangen von den in Berlin im elterlichen Haus veranstalteten Hauskonzerten (mit teilweise beinahe 300 Gästen) über die dirigentische Tätigkeit und die Leitung vieler Musikfeste in Berlin, Düsseldorf, Aachen, Köln, Frankfurt, Leipzig, London und anderswo bis hin zum Einsatz für das Leipziger Konservatorium oder die Berliner Akademie der Künste – letzteres ein Traum, der nicht in Erfüllung ging. Bei all diesen Plänen, Ideen und ungezählten Auseinandersetzungen ging es um Öffnung, Liberalisierung und Demokratisierung der Kunst.

Bis in die Kompositionen hinein lässt sich dieses Bemühen verfolgen. Rainer Riehn notiert in Band 14/15 der Musik-Konzepte (München 1980): "Ohne die so harmlos, selbstverständlich wirkenden, manchem als zu glatt (sic!) erscheinenden formalen Experimente Mendelssohns in seinen Ouvertüren, die sicher zum Avanciertesten seiner musikalischen Produktion zählen, wäre vieles in der Folgezeit kaum denkbar…" Der Komponist hebe gerade hier die herrschaftsabbildende Dichotomie zwischen melodieführender Stimme (als Träger des Diskurses) und Begleitung auf. "Mendelssohn bringt das 'Unterdrückte' – hier durchaus in mehrfacher Interpretation des Begriffs, zumindest politisch sowohl als psychoanalytisch zu verstehen – nach 'oben': das, was früher nur Folie war. Es gibt in seinem Orchestersatz keine Stereotypen, keine bloßen Füllsel mehr, er ist vielmehr aufgebrochen, so kunstvoll die sekundäre Politur ihn wiederum glättet." Gerade dort, wo Mendelssohns Musik am sanftesten ist, etwa in den Chören Nr. 9 ("Wohl dem, der den Herrn fürchtet") und Nr. 29 ("Siehe der Hüter Israels") ist just dieses Kompositionsverfahren auch im ELIAS zu beobachten: im ersten der beiden Chöre sind Begleitung und Hauptthema direkte Verwandte und werden in verschiedenen Tempi musiziert, der zweite Chor ist eine veritable Doppelfuge, deren triolische Begleitfigur motivisch sich an das erste Thema kettet. Es ist Musik wie diese, die Prinzgemahl Albert aus Anlass der Uraufführung zu seiner enthusiastischen Reaktion animiert haben mag, wenn er Mendelssohn als Genius wahrer Kunst, nachahmender Empfindung und gesetzmäßiger Harmonie preist, als den "grossen Meister, der alles sanfte Gesäusel, wie allen mächtigen Sturm der Elemente an dem ruhigen Faden seines Gedankens vor uns aufrollt."

Oratorien entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem im Auftrag und Zusammenhang großer Musikfeste und der sie prägenden Chöre. Um die Oper hat Mendelssohn lange gerungen, scheiterte aber vor allem an fehlenden Sujets. Schwester Fanny hatte gar die Nibelungen vorgeschlagen. Heinrich Heine dagegen rühmt die Ernsthaftigkeit und Verstandesschärfe des komponierenden Künstlerkollegen, traut ihm aber kein Bühnenwerk zu, da dies der Boden sei, "wo zunächst Wahrheit und Leidenschaft verlangt wird". Martin Geck führt den Gedanken weiter: "Er, der doch so virtuos und modern zu komponieren vermag, läßt sich fesseln von den Erwartungen seiner Auftraggeber, denen es kaum nach Ausdruck von Wahrheit und Leidenschaft gelüstet, sondern nach Selbstdarstellung im Sinne musikalischer und ästhetischer Reinheit." Es fehle das Moment der Besessenheit – etwa der KREISLERIANA von Schumann oder des TRISTAN von Wagner. Geck scheint diesen – mit den Vorhaltungen der 'Glätte' und 'Oberflächlichkeit' beinahe korrespondierenden – Argumenten selbst zu misstrauen und vermutet viel Angestrengtes, Widersprüchliches unter der glatten Oberfläche.

Mendelssohn – ein Komponist jenseits von Wahrheit und Leidenschaft???

Widersprüche unter der Oberfläche

Überdeutlich werden diese Widersprüche beim Blick auf Mendelssohns Verhältnis zum jüdischen Glauben, wie es sich einerseits in der Vorgeschichte seiner Ahnen und andererseits in seiner möglichen Widerspiegelung im ELIAS darstellt. Großvater Moses, der Philosoph, der Lessing zur Ringparabel inspirierte und die Emanzipation der Juden in Preußen einleitete, wurde – von Dessau kommend – in Berlin noch als Jude registriert, der neben soundso viel Ochsen und Schweinen das Tor passierte. Von dort bis zum ersten im europäischen Maßstab erfolgreichen jüdischen Komponisten (einzig Meyerbeer hatte noch ähnliche Berühmtheit) war ein zeitlich ebenso kurzer wie dennoch steiniger Weg, der in den 1840-er Jahren eher schon wieder ins Schlingern geriet. Die Mitte dieses dünnen Pfads stellt die protestantische Taufe der Kinder Fanny, Felix, Rebecca und Paul im Jahr 1816 dar sowie der Übertritt des Vaters Abraham (des Sohnes von Moses) und seiner Frau Lea im Jahr 1822. Im guten Glauben, den Kindern das Beste getan zu haben und durchaus in der kritischen Distanz zum zurückgebliebenen, dem Mittelalter verhafteten Judentum der Zeit ermahnt Abraham Felix 1829: "Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn heißen." Felix hatte in London den seit dem Übertritt angenommenen Zusatznamen Bartholdy auf Plakaten weggelassen und so den Zorn des Vaters erregt. Seine Antwort auf die väterlichen Ermahnungen ist erst in den letzten Jahren teilweise wieder rekonstruiert worden – alles in allem hat Felix sehr kühl reagiert und ist nicht weiter darauf eingegangen.
Im gleichen Brief äußert sich Abraham zu seinen Erziehungsprinzipien und schreibt: "…ich hatte gelernt, … , daß die Wahrheit nur Eine und ewig, die Form aber vielfach und vergänglich ist, und so erzog ich Euch, solange die Staatsverfassung unter der wir damals lebten, es zugeben wollte, frei von aller religiösen Form…" Die jüdische bezeichnet er dabei als die veraltete, verdorbene und zweckwidrige, die christliche als die gereinigte.

Es ist hier weder der Platz noch kann es Aufgabe sein, nachzuweisen, dass Felix möglicherweise gegen Ende seines Lebens den Weg wieder rückwärts gegangen ist – hin zur Rückbesinnung auf jüdische Identität. Auffällig hingegen sind mindestens vier sehr entscheidende Dinge, die ein Bild des ELIAS prägen, das eindeutig zur 'aufgerauten Oberfläche', zum Offenlegen der immanenten Widersprüche tendiert und darüberhinaus fast das Bild eines 'interreligiösen Dialogs' im Stück evoziert:

1. die Wahl des Stoffes
2. die Auseinandersetzungen um den neutestamentlichen Schluss
3. die Zitate jüdischen Melodienguts
4. die dramatische Intention des Stückes

Der Prophet der Gotteswende

Schon bald nach dem Erfolg des PAULUS (1836) will Mendelssohn ein weiteres Oratorium in Angriff nehmen und setzt sich auch selbstkritisch mit dem gerade vollendeten Werk auseinander. Von Anfang an ist dabei eine Tendenz zum Propheten Elia aus dem Buch der Könige zu erkennen: die alttestamentarische Wucht, die Stärke der Person und die bildgewaltigen Schilderungen des Regenwunders sowie der feurigen Himmelfahrt faszinieren den Komponisten.

In seiner Einführung zum ELIAS schreibt Andreas Eichhorn (Kassel, 2005): "Der biblische Elias bleibt als Figur auffällig unpersönlich und holzschnittartig. … Für Mendelssohn hatte Elias neben aller religiösen Bedeutung auch eine zeitaktuelle Seite. In der monolithischen Gestalt des Elias sah er das Beispiel einer großen, charakterstarken und authentischen Persönlichkeit, nach der er sich für seine Zeit sehnte." Neben dem Elias stand auch die Figur des Petrus längere Zeit als Thema zur Disposition. Der Korrespondenz ist insgesamt aber eine deutliche Präferenz des alttestamentarischen Stoffes anzumerken.

Der Theologe Heinz Zahrnt beschreibt Elias als den Propheten einer Gotteswende um die Zeit, als die israelitischen Nomadenstämme in Kanaan sesshaft und mit den Gottheiten Baal und Astarte konfrontiert wurden, für deren Anhänger diese nicht zuletzt einen starken Hang zum Fruchtbarkeitskult und zur Mythisierung des Sexuellen verkörperten. König Ahab (873 – 853 v.u.Z.) hatte große phönizische Gebiete eingegliedert und sogar die tyrische Prinzessin Isebel geheiratet, für die eigens ein Baalstempel in Samaria errichtet wurde. Elias – der Name 'elijjah' oder 'elijjahu' bedeutet etwa: "mein Gott ist Jahwe" – geht den Weg vom eifernden Fundamentalisten zum neuen Gottesbild des leisen, sanftmütigen Gottes, der nicht im Donner und Erdbeben erscheint, sondern im leichten Säuseln. Mit Elias neuem Gottesbild, zu dem auch die Integration des Schöpfungsgedankens gehört, vollziehe der Prophet – so Zahrnt – einen dritten Weg: keine fundamentalistische Abgrenzung, auch keine totale Öffnung, sondern "Kontinuität durch Wandlung". "Die Gottesgeschichte Israels begann jetzt nicht erst mit dem Auszug aus Ägypten und dem Bundesschluß am Sinai, sondern bereits mit der Erschaffung der Welt." – ein Tribut an die Fruchtbarkeitsriten der Baalsleute. Mit Elias wird Jahwe auch zuständig für den Regen und die Natur.

Inwiefern Mendelssohn derlei theologische Überlegungen nahelagen, sei dahingestellt. Dennoch geht seine Titelfigur genau jenen Weg. Die Krise des Propheten zu Beginn des zweiten Teils kann ja durchaus als Folge des blutigen Tuns im ersten Teil gedeutet werden: dort werden die Baalspriester grausam hingeschlachtet – auf Elias Befehl hin. Mit fulminanter Wucht lässt der Komponist seinen Elias eifern ("Ist nicht des Herrn Wort wie ein Feuer") und die Blutopfer rechtfertigen, um ihn beim "Es ist genug" in die Tiefe der Resignation zu stürzen, die dem eigenen gewalttätigen Handeln entspringt. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Die entscheidende Theophanie auf dem Berg Horeb rundet das Bild erst ab und lässt das neue Gottesverständnis hervorbrechen, das übrigens in der Witwenszene schon einmal aufscheint.

Kein protestantischer Schluss

Von diesem Verständnis bis zum Lukasevangelium ist es kein allzu weiter Weg: "Der Menschensohn ist nicht gekommen, Menschenleben zu verderben, sondern zu retten." (Lk. 9, 55 ff.) Die Freunde Klingemann und Schubring, die hinsichtlich des Librettos von Mendelssohn kontaktiert wurden, konnten beide den Komponisten nur schwer zufriedenstellen. Waren es bei Klingemann z.T. auch berufliche Gründe, die eine intensivere Zusammenarbeit verhinderten – er war Diplomat der hannoverschen Gesandtschaft in London – , so lag das Problem beim Dessauer Pfarrer Schubring eindeutig im konzeptionellen Bereich. "Ich erkenne jetzt mit der bestimmtesten Klarheit, daß das Oratorium keinen anderen als neutestamentlichen Schluß haben darf, …. Elias muß den alten Bund zum neuen verklären helfen, das ist seine große geschichtliche Bedeutung.", schreibt Schubring am 15.6.1846. Mit diesem Brief bricht die Korrespondenz zwischen Komponist und Dichter ab.
Auch eine Frage nach dem Umgang mit Chorälen findet sich in Schubrings Zeilen: Mendelssohn beantwortet sie im Stück recht eindeutig – er verzichtet weitgehend darauf. Zwar gibt es mehrere choralartige Passagen, doch können diese nicht wie im PAULUS als Choräle im Sinne Bachscher Tradition gewertet werden, als Gesänge der andächtigen Gemeinde. In der in Birmingham erklungenen Erstfassung gab es mit "O Gott du frommer Gott" ein direktes Choralzitat (in Nr.15), das Mendelssohn bei der Umarbeitung verschleierte und damit letztlich als lutherischen Choral eliminierte ("Wirf dein Anliegen auf den Herrn"). Diese Abkehr von einer Grundfeste des Protestantismus korrespondiert mit mehreren Dokumenten, die u.a. von Eric Werner und Rainer Riehn als Beleg gewertet werden, dass Mendelssohn "die politische und gesellschaftliche Entwicklung, das Anwachsen des Antisemitismus, mit wachem Verstand verfolgte" und eben kein lediglich apolitischer und gleich gar kein erzprotestantischer Komponist war, als den ihn viele Biografien sehen.

Auf Mendelssohns enge Bindung zur Gruppe des 'Lukasbundes', bald spöttisch die 'Nazarener' genannt, weist Martin Geck hin. Die Künstlergruppe um Overbeck, Cornelius, Schnorr von Carolsfeld, Veit und Schadow beriefen sich auf die Ideale von Dürer, Giotto, Fra Angelico und dem frühen Raffael. Ideengeschichtlich sind sie von der katholischen Romantik und von Friedrich Schlegel inspiriert, wenden sich gegen Entheiligung und Zersplitterung und suchen nach einem Weg zur naiven Frömmigkeit der vorreformatorischen Zeit.

Wulf Konold diagnostiziert darüberhinaus die Nähe zur 'Gefühlstheologie' Schleiermachers ("Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern") und den Gedanken Thibauts ("Über Reinheit der Tonkunst") – beides wichtige Anregungen für Mendelssohn und seine Erneuerung der Kirchenmusik: "Jede Art von Orthodoxie mißtraut letztlich der Macht der Musik, wo sie nicht vollständig im Dienste des Wortes und der Verkündigung steht; und so tendierte geistliche Musik, die sich nicht unterordnete, im bürgerlichen Zeitalter hinaus aus der Kirche, in den Konzertsaal…" Dabei ginge es aber durchaus um das Erwecken andächtiger Gefühle – nur jenseits des Kirchenraumes, und sei es auf dem Musikfest.

Monotheistischer und dreieiniger Gott in einer Person

Rainer Riehn sieht im Eröffnungsteil des ELIAS den Grundkonflikt Mendelssohns festgehalten. Abgesehen davon, dass dieses Bekenntnis des Elias vor der Ouvertüre ohnehin alle Konventionen sprengt, wird hier der monotheistische Gott Israels mit den Dreiklangschritten des dreieinigen christlichen Gottes angerufen und zusätzlich noch der 'diabolus in musica', der Tritonus, zitiert – im fortissimo zerschneidet dieser das piano begonnene Stück und gehört damit von Beginn an formend zum Ganzen. Riehn verweist auf den Theologen Theodor Reik, der belegt, dass das Böse im präexilischen Judentum von Jahweh ausginge.

Weiterhin sind im Stück mehrere Kadenzen zu finden, jeweils dreiklangartig von oben fallend, die Eric Werner als jüdischen Melodien entlehnt entdeckt: "Und da ist niemand der sie tröstet" (Nr. 2, Duett mit Chor – eine Nummer, die von der auf CD versammelten interpretatorischen Prominenz zumeist in flotten Vierteln musiziert wird, während die vorgeschriebenen MM 100 für die Achtel einen wirklich dringlichen Bittgesang erzeugen) – auf das Wort 'tröstet' fällt die Kadenzierung erstmals auf und kehrt sowohl in Nr. 21 (Sopran-Arie "Höre Israel") als auch in der großen Elias-Arie (Nr. 26, "Es ist genug") wieder. Die Verwendung des fallenden Motivs gerade an dieser Stelle ist nicht ohne eine gewisse musikgeschichtliche Pointe, beruft sich doch in dieser Arie Mendelssohn eindeutig auf Bachs Johannes-Passion. Wenn er nun dem verehrten und protestantischen Bach mit einer jüdisch geprägten Melodie nach runden einhundert Jahren zuruft "Es ist genug", so mag an Zufall glauben, wer immer mag…

Seit dem 15. Jahrhudert war es in deutschen Synagogen üblich, an hohen Festtagen das ADONAI, ADONAI, ELRACHUM anzustimmen. Diese Weise findet sich in Nr. 34 des ELIAS ("Der Herr ging vorüber") ganz eindeutig zitiert, wie Eric Werner entdeckt hat und Rainer Riehn mitteilt, der fernerhin darauf verweist, wie Mendelssohn in Briefen dem Unterbewussten und dem 'Zuviel' der Empfindungen das Wort redet.

Ist es also der jüdische Gott, der hier vorübergeht? Nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, auch nicht im Feuer, sondern im leichten Säuseln?

Vielleicht – aber auch Freund Schubring, dem protestantischen Pfarrer, wurde in gewisser Weise entsprochen: die Arie des Tenors (Nr. 39, "Dann werden die Gerechten leuchten") zitiert das Matthäus-Evangelium; und von den letzten 3 Nummern weist mit dem Text aus Jesaja ("Aber einer erwacht von Mitternacht") die mittlere auf die eschatologische Bedeutung des Propheten Elias hin und wirft den Blick – allerdings, ohne ihn beim Namen zu nennen! – auf Christus, dessen Oratorium Mendelssohn noch schreiben wollte, aber nicht vollendet hat.
Es griffe also zu kurz, ELIAS nun zum jüdischen Oratorium zu stempeln – es ist vielmehr ein Werk des religiösen Dialogs! Und es wirkt möglicherweise gerade durch die eigene Biografie des Komponisten ganz im Wortsinne 'verzweifelt authentisch'.


ELIAS – eigentlich eine Oper?

NEIN, zu klar sind alle bisherigen Befunde, die das Werk ganz klar als auch vom Komponisten beabsichtigtes geistliches Oratorium klassifizieren. Es stellt sich in die Tradition Bachs, Händels und Haydns, diese ebenso aufgreifend wie erneuernd. 'Kontinuität durch Wandlung'… sh.o.

Und doch ein Stück weit auch JA!

Anders als im PAULUS verzichtet Mendelssohn auf einen Erzähler, es gibt nur handelnde Personen im Stück. Der Chor kann in den meisten Teilen als Volk eingeordnet werden, abwechselnd die Propheten Baals oder auch die Israeliten darstellend. Die dramatische Wucht der Musik ist unüberhörbar und auch deutlich intendiert!
Im einleitenden Zitat über die Sopranistin der Uraufführung ("…die Musik bekam eine Art von liebenswürdigem Ausdruck, über den ich noch heute toll werden möchte…") ist viel enthalten von Mendelssohns grundsätzlich dramatischem Ansatz für das Werk. Auch die Masse der Aufführenden spricht deutlich dafür.
Von Schubring kamen die Mahnungen sie "müßten noch neuen Fleiß anwenden, um das Dramatische herunterzudrücken und das Kirchliche zu heben und immer wieder darin zurückzulenken". Dies nun passte Mendelssohn gar nicht und er antwortet: "Mit dem dramatischen Element scheint mir noch irgend ein Differenzpunkt zwischen uns zu sein; bei einem solchen Gegenstande wie Elias … muß das Dramatische vorwalten"

Das tut es hoffentlich auch in unserer Aufführung, die nicht ganz die Zahlen von Birmingham erreicht, den Gedanken und Geist des Schöpfers und seiner vielen Initiativen um das Musikleben aber weiterzuführen sucht, in dem bspw. der Kinderchor (statt einer solistischen Besetzung) den Part der Engel übernimmt und junge Solistinnen und Solisten mit Rollendebüts sich vorstellen.

Sie verdeckt dabei hoffentlich nicht die von Martin Geck formulierte zweite Seite eines Mendelssohn-Bildes, eine dem Bild des konfliktlos komponierenden christlichen Künstlers entgegenstehende: "Es ist die des Einsamen, nicht Versöhnten, …. Volksbildung ist für Künstler von höchsten Graden eben doch ein zermürbendes Geschäft, kaum weniger entbehrungsreich als künstlerische Selbstverwirklichung."

Und sie mag einem Wort Abraham Mendelssohns, dessen Andenken Felix verteidigte und ehrte, zu neuerlicher Kraft zu verhelfen. An Fanny schrieb er aus Anlass ihrer Konfirmation: "Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Theil unserer Selbst ewig sei und, nachdem der andere Theil vergangen fortlebe? und wo? und wie? – Alles das weiss ich nicht und hab Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein ich weiss, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen giebt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen. Ich weiss es, ich glaube daran, lebe in diesem Glauben und er ist meine Religion…. Die Form, unter der es Dir Dein Religionslehrer gesagt, ist geschichtlich und wie alle Menschensatzungen veränderlich. Vor einigen tausend Jahren war die jüdische Form die herrschende, dann die heidnische, jetzt ist es die christliche" –

- wie oben gezeigt, hat Felix diese Worte ähnlich gekannt. Sie lassen tief in das Herz eines weisen Menschen blicken und beschreiben gleichermaßen die fundamentalen Probleme einer Zeit und ihrer Menschen.

In den Strom dieser Auseinandersetzungen stellt Felix Mendelssohn Bartholdy seinen Propheten Elias und mit ihm sich selbst. Das Werk kann als sein Testament verstanden werden.


Literaturnachweis:
Eichhorn, Andreas: "Felix Mendelssohn Bartholdy – Elias", Bärenreiter, Kassel 2005
Geck, Martin: "Von Beethoven bis Mahler", rororo, Reinbek b. Hamburg, 2000
Kleßmann, Eckart: "Die Mendelssohns", Artemis Verlag, Zürich und München 1990
Konold, Wulf: "Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit", Laaber-Verlag, Regensburg, 1984
Musik-Konzepte, Band 14/15: "Felix Mendelssohn Bartholdy", edition text+kritik, München ,1980
Pilkington, Michael: (Einführungstext zum ELIAS), Booklet zur CD-Aufnahme mit K. Masur, elatus, 1992
Richter, Arnd: "Mendelssohn – Leben Werke Dokumente", Atlantis-Musikbuch Verlag, Zürich und Mainz, 2000
Todd, R. Larry: Vorwort zur Kritischen Ausgabe des ELIAS, Carus-Verlag, Stuttgart, 1995
Wehner, Ralph: "Elias", Booklet zur CD-Aufnahme mit Ph. Herreweghe, harmonia mundi, 1993
Zahrnt, Heinz: "Das Leben Gottes" , Piper, München, 1997

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