20
Sep
2007

16
Sep
2007

Rolf Reuter +

Reuter1

Was für ein Charakterkopf - Rolf Reuter ist letzte Woche gestorben.

Rolf wer? Es gehört zur Tragik einer ganzen Generation von fantastischen Dirigenten des ehemaligen Ostblocks, das sie heute keiner mehr kennt. Siegfried Kurz, Rolf Reuter, Herbert Kegel, Heinz Fricke, Robert Hanell, Heinz Rögner, Max Pommer, in Prag Martin Turnowski (der kurze Zeit in Dresden Chef der Staatskapelle war und 68 aus Protest die DDR verließ, zusammen mit dem bekannteren Vaclav Neumann, der damals Gewandhaus-Chef in Leipzig war), die Liste kann fortgesetzt werden. Abseits der großen Medienmaschinen, die in Salzburg, Berlin, Bayreuth, bei der Deutschen Grammophon und anderswo Karrieren prägte, dirigierte im Osten eine Phalanx hochkarätiger Dirigenten, denen der Weg zum ganz großen Durchbruch zwar verwehrt blieb, von deren Arbeit heute jedoch fast ausnahmslos gechwärmt wird: die Abwesenheit der Gefahr, mit den neuen Medien dem schönen Schein zu verfallen, zeitigte eine Art der Interpretation, die zumeist von sauberem Handwerk, interpretatorischer Genauigkeit, künstlerischer Ehrlichkeit - im besten Fall durch Leidenschaft und durchaus nicht selten von Genialität geprägt war.

Reuter war unter den Erwähnten ein Schwergewicht in Sachen Interpretation. Seine Berliner MEISTERSINGER (mit Harry Kupfer und dem berühmten Riesenbaum auf der Bühne) sind mir als feuriger, transparent musizierter Wagner-Abend, die JUDITH von Matthus als beeindruckende Uraufführung in lebhafter Erinnerung! (Zum letzten Mal erlebte ich ihn als Dirigent in Rheinsberg mit einem FALSTAFF von Salieri, wenn ich das recht im Kopf habe.)
Mit großer Strenge verlangte er, die Viertel des letzten Taktes der Einleitung von Mozarts Es-dur-Sinfonie in die Ganzen des Allegros münden zu lassen - klare Grundsätze und eine geistige Durchdringung von großer Dichte prägten seine Vorstellungen.

"Erst kommt der Inhalt" lautete sein Credo, das er uns jungen Leuten in Seminaren mit auf den Weg gab. Ich selbst hatte das Vergnügen, 1988 an einem Kurs in Weimar teilzunehmen. Da ich bereits 4 Jahre als Kapellmeister und teilweise amtierender Chef in Altenburg hinter mir hatte, sah ich mich zwar mit der Tatsache konfrontiert, das Reuter mich fragte "...und was wollen Sie dann hier?" - dennoch, der Profit dieser 14 Tage war erheblich.

Denkwürdig für mich ein privates Mittagessen im Hotel Elefant: ich wollte Reuters Rat wegen der bevorstehenden Übernahme des Chefpostens in Greifswald - damals ein kleines Theater auf der Kippe: langjährige Rekonstruktionsarbeiten und Vakanzen ohne Ende hatten das Ensemble mürbe gemacht. Hilfe war nur zu bekommen, wenn die staatlichen Stellen den Neuanfang auch unterstützten, Wohnungen für junge Absolventen zur Verfügung stellten z.B. Reuter schien mir (damals GMD in der Komischen Oper Berlin und stets ein unbequemer Partner jener Ämter) als Ratgeber der Richtige. "Bestellen Sie mal schon", wies er mich an und setzte, leicht resigniert hinzu: "für mich Spiegeleier, was anderes haben die hier ja nicht." - Reuter war Vegetarier... Der eigentliche Rat Reuters war kurz und bündig: "Gehen Sie zu Frau Ragwitz" - mithin in die Höhle des Löwen: Ragwitz war die Kulturchefin des ZK der SED. Ich schrieb also einen Brief, teilte mein Konzept mit und wurde zu zwei Herren ins ZK geladen - Ragwitz selbst ließ sich entschuldigen, so wichtig war Greifswald nun auch nicht. Sie ließ mir aber beste Wünsche übermitteln, was immerhin hieß: 'machen Sie mal'. Die zwei Herren (nach meiner Erinnerung Müller und Hafrannek oder so ähnlich, der eine zuständig für Theater, der andere für Musik) waren äußerst zuvorkommend, beklagten inständig, daß sie ja so selten von der Basis etwas mitbekämen, lobten mein Bemühen und es wurde allerhand geredet. Irgendwann sagte ich da ziemlich unverblümt: "Machen Sie den Laden in Greifswald dicht oder nicht?" - einigen kleineren Theatern schien dieses Schicksal damals tatsächlich zu drohen, Greifswald gehörte dazu, war außerdem als Universitätsstadt doppelt gefährdet, denn wo renitente Studenten waren, stellte das Theater möglicherweise eine politische Gefahr dar (Jena weiß ein Lied davon zu singen). Da kam von den zwei Herren die recht klare Antwort: "Wo sich etwas tut, haben wir keine Veranlassung, dicht zu machen." Über das ZK ging offenbar eine Note an das Kulturministerium, von dort an die "Direktion Theater und Orchester", die uns mit jungen Absolventen etwas besser als vorher versorgte, die Wohnungsfrage konnten wir vor Ort lösen (auch das durch die Berliner Intervention befördert). Im Dezember 88 kam TITUS heraus, mit FIDELIO wurde 89 das Theater wiedereröffnet... Dazwischen allerhand interessante Konzerte sowie natürlich andere Produktionen.

Das Essen mit den Spiegeleiern ist daran nicht völlig unschuldig...

Zu den Vorwürfen der letzten Zeit gegen Reuter hat Werner Wolf hier Stellung genommen - eine Darstellung, die mir absolut glaubwürdig erscheint.

Die Musikwelt, die ihn erlebt hat, die Schüler, die ihn zum inspirierenden Lehrer hatten, werden ihn als einen der wichtigen, sehr aufrichtigen und ehrlichen Dirigenten, als künstlerisches Schwergewicht in Erinnerung behalten.

10
Sep
2007

neue Mailadresse

für alle Freunde, die ich möglicherweise per Mail nicht erreicht habe:

wegen der Spam-Überfülle habe ich meine Adresse geändert; sie lautet ab sofort wie dieser weblog mit den zwischengeschobenen letzten zwei Ziffern meines Geburtsjahres (3 Jahre vor dem Mauerbau; zwischen Namen und Verb); das Ganze ät Nordpol Gustav Ida Punkt Dora Emil, und alles klein

So, das kann nun hoffentlich jede/r verstehen und trotzdem keine Suchmaske entziffern...

26
Jul
2007

viel unterwegs

Die 6 letzten Vorstellungen von Schnebels MAJAKOWSKIS TOD, Nonos INTOLLERANZA und Terterians BEBEN sowie ein letzter vorangegangener IDOMENEO am Gärtnerplatz in München sind vorbei - und damit meine Tätigkeit für dieses Haus, das nun andere Wege gehen soll und wird: wieder mehr zur Unterhaltung hin, wenn ich das vom Kultusministerium geforderte Konzept des neuen Intendanten richtig verstehe.

Ich wünsche dem Haus Glück - allen Ernstes; kann aber nicht glauben, daß diese Linie über längere Dauer Erfolg haben wird. Im Bemühen um Besonderes, Vielfalt, Ungewohntes, Neues werden viele Fehler gemacht. Die sind nach Kräften gemacht worden - sicher. Aber die vielen Akzente gerade der letzten Zeit bis hin zu phantastischen Aktivitäten mit Jugendlichen (CINDERELLA von P. M. Davis in einer Produktion nur mit GymnasiastInnen) werden in München fehlen. Ob der MANN IM MOND von Bresgen, eine neue LUSTIGE WITWE oder der KÄFIG VOLLER NARREN sie ersetzen können? Ich melde Zweifel an.

DANKE an ein großartiges Publikum, das die letzten Abende mit neuer Musik feierte!

Nun mit den Studenten unterwegs: Dirigierseminar und Konzert in Schneeberg im Erzgebirge (morgen abend) mit Schumann (Genoveva), Bottesini, Mahler (Lieder) und Brahms (2. KK).

Danach in Bad Hersfeld, wo FIGARO neu herauskommt, ab 7. August immer an den ungeraden Tagen (bis 21.8.).

Hier melde ich mich erst im September wieder - um Vergebung.

25
Jun
2007

Arbeitsnotizen zur Missa solemnis

Beethoven-Skizze

Samstag/Sonntag kommender Woche erklingt in Thalbürgl und in Dresden Beethovens Missa solemnis mit dem Philharmonischen Chor Jena, der Singakademie Dresden und der Jenaer Philharmonie (mehr hier).

VON DER LUST DER AUSEINANDERSETZUNG...

...muß hier ein wenig berichtet werden, nicht, um unsere Zuhörer mit Details zu quälen, sondern um davon zu erzählen, wie das Ringen um die Details die Arbeit zur Lust werden lassen kann – spät vielleicht, aber mit Gewißheit.

"Selten hat es einen Menschen gegeben, der so stark und konzentriert wie Ludwig van Beethoven sein Werk als das schöpferische Andere dem allgemeinen Sein gegenübergestellt hätte."

So schreibt der Musikwissenschaftler Martin Geck über den Komponisten der "Missa solemnis", deren Bewältigung jedes Ensemble vor schier unüberwindbare Hindernisse stellt. Sie zu erarbeiten und aufzuführen heißt, Beethovens Intentionen zu folgen – den Menschen durch die enorme Herausforderung seiner Geistigkeit teilhaftig und die Welt dadurch bessern zu helfen!

Das ist auch der Grund, weshalb ich eine Aufführung durch qualifizierte Laienchöre nicht nur für möglich, sondern sogar für notwendig halte! Es ist jene Form existenzieller Auseinandersetzung mit Musik, die durch den Mainstream des Musikgeschäfts, durch das Starren auf die Charts, durch Opern-Galas, Pop-Events aller Art und vieles mehr konterkariert wird. Genau durch diese Art der Musik'ausübung' verlieren wir das Publikum, statt es zu gewinnen. Der Komponist Helmut Lachenmann spricht von der 'Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Apparat', die wahre Kunst hervorzubringen imstande ist: auseinandersetzen! – nicht bedienen.

Nun ist im Jahr 2007 eine Aufführung der Missa solemnis beileibe kein revolutionäres Ereignis mehr – für musikalische Laien indes ist es eine Grenzerfahrung. Bis zur letzten Probe muß um die Bewältigung der enormen Schwierigkeiten gerungen werden, jede/r wird an seine stimmlichen und musikalischen Leistungsgrenzen geführt.

Übrigens auch der Dirigent, der sich dem Werk das erste Mal nähert.

Die direkte Auseinandersetzung sieht dann z.B. so aus, wie sie in den Notizen für meine Jenenser Kollegin festgehalten ist – zweifellos keine Konzerteinführung für den gewöhnlichen Zuhörer, dennoch gilt auch hier, daß wir vom oberflächlichen Einerlei zurückfinden sollten zum existenziellen Detail. Deshalb hier einige Auszüge:

Kyrie

- Halbe zwischen 52 – 56, die "Kyrie"-Akkorde konsequent immer in 4
- bitte konsequentes sub. piano; ob ich "ri – e" machen lasse oder "ri – je", da bin ich noch am Experimentieren, letzte Variante war "ri – je" mit einem winzigen dim. nach einem forte angerissenen "ri", besser wäre aber abzusetzen, falls es danach nicht unsauber wird oder zu sehr knallt bei den Sopranen
- Takt 85 poco rit. (in 4 gehen) und dann das Tempo Halbe 88 – 92 vorbereiten
- im Christe bitte absetzen "Chri – ste" (das sind die Hammerschläge der Kreuzigung), dagegen "eleison" molto legato
- beim Wort "eleison" übrigens das i immer im letzten Moment, ggf. die kurze Note vor son
- Takt 209 und alle weiteren punktierten Stellen auch in den anderen Nummern: das sind die Trommeln der franz. Revolution, auch im piano und langsamen Tempo stets den Trommelrhythmus mitmusizieren, im Falle "Kyrie" also auch gut absetzen und nicht legato artikulieren


Gloria

- Viertel 152 oder schneller, ab 43 die piano-Stellen wenn möglich in Ganzen
- generell deutliche sforzati, wobei ein Entspannen nach dem Anreißen wichtiger ist als ein überzogenes fortissimo, um Gottes Willen nicht brüllen lassen
- 74 usw. gute Akzente auf "be – ne – di – ci – mus te"
- 131 etwas ruhiger in Ganzen
- 173 zurück in die 3 und wieder das erste Tempo
- 226 in Ganze wechseln und etwas Tempo nachlassen, um auf ein Verhältnis zu kommen ganzer Takt wird das kommende Viertel, das aber etwas ruhiger ist; also dann etwa Achtel 88 – 92, im Ganzen recht flüssig, so daß in 270 die Fanfaren der Revolution zu hören sind – im Sinne von: Christus sitzend zur Rechten Gottes ist der wahre Richter, nicht das Fallbeil der Jakobiner; ebenso geraten die Figuren 274 etc. zu verhaltenem Trommelwirbel als Hintergrundmusik zu "miserere nobis", das ständige Waffengeklirr der Menschen bleibt die Folie, auf der das "erbarme dich" erklingt
- 310 etwas mehr maestoso als am Anfang, also ca. 138 – 144 die Viertel
- 360 fast dasselbe Tempo, vielleicht etwas gebremst, keinesfalls zu schnell – es muß nach Arbeit klingen!!, noch nicht nach Jubel
- 459 dann etwa Halbe 96; in Abhängigkeit von den Soli
- für das Presto Viertel bleiben Viertel, das wären dann Ganze zwischen 62 – 66, womit der Tempokosmos dieses Stücks in sich stimmig wird – so hoffe ich...
- den Schluß ohne rit.!!

Credo

- meine im Moment noch unsicherste Nummer – ich neigte bisweilen zu Halben, es müssen aber Viertel sein, trotz aller Indizien für die Halben; die Fünfte hat im letzten Satz (Allegro C) Halbe 84 vorgezeichnet, ziehen wir 2 Einheiten für das non troppo ab und zwei bis drei dafür, daß es Kirchenmusik ist, kommen wir auf Halbe 69, das bedeutet Viertel 138 – und irgendwie fühle ich mich dabei am wohlsten
- ab Takt 86 sicher in Halben
- Adagio 124 in Viertel etwa 56; Takt 125 bitte alle Tenöre, nicht der Solist (ich habe die neue Henle-Partitur, die Auszüge und Stimmen sind wohl z.T. noch älteres Material)
- 144 wieder etwas flüssiger, Viertel ca. 72 – 76; 156 werden die Viertel zu Achteln
- Et resurrexit noch nicht zu schnell, eher eine sehr gefaßte Schnelligkeit, Viertel 144
- dann aber Halbe 126 – 132 beim Allegro molto
- 232 "Vi – vos" bitte sehr kurz (Keile im Orchester)
- Allegro ... maestoso wieder wie der Anfang, sogar etwas gehaltener, also eher 126 – 132, da jetzt kleingliedrigere Rhythmen kommen
- 296 "et" immer kurz, bitte keine Viertel halten
- "Et vi – tam ven – tu – ri" bitte immer alle Silben kurz, besonders achtgeben beim "tu", dort neigen alle zur Länge, Tempo etwa Halbe 100, aber eher pointiert langsam empfinden als zu schnell, es könnte gerade in den Kirchen ruhiger werden
- bitte genaue Dynamik, also nie zu schnell zu laut, es geht vieles im piano
- das con moto dann nur etwas rascher, also etwa auf 120 – 126 beschleunigen, alles andere wird undurchsichtig bei dem Nachhall und ist nicht auszuführen, ich strebe eher große Klarheit der Struktur als vordergründige Raserei an
- die Synkopen im Chor auch immer etwas trennen und dadurch plastisch machen
- 410 wieder recht kurz und knapp nehmen
- 432 ohne rit., die Halben werden zum Viertel, es geht in 6 weiter, ab 439 dann in Halben

...

Wir enden an dieser Stelle den Blick auf die interpretatorische Werkbank, die ein Resultat monatelangen Ringens ist und dennoch Werkbank bleibt: indem ich diese Notizen schreibe, hatte ich noch keine Orchesterprobe – alles ist bis hierher nur musikalischer Wille, der die Reibung der Praxis noch vor sich hat. Diese bringt nur zu oft große Überraschungen mit sich: eine unübersehbare Zahl von CD-Aufnahmen zeugt von den Leistungen, Erfolgen und auch vom Scheitern bedeutender Dirigenten. Da gibt es die durchgeistigte und alles in allem überzeugende Version des großen Beethoven-Kenners Michael Gielen, die fulminante von John Eliot Gardiner, der aber überraschenderweise viele der mechanischen Achtelketten der Streicher so breit spielen läßt, daß der 'Arbeitseffekt', das Motorische dieser Figuren gänzlich verschwindet; es gibt den ruppig rasenden Toscanini – in diesem Fall nicht so überzeugend wie in seinen Aufnahmen der Beethovenschen Sinfonien oder des FALSTAFF von Verdi, dennoch ist von ihm immer ein frischer Blick zu erheischen; es gibt den wundervollen David Zinman, transparent und klar im Klang mit dem Tonhalle-Orchester Zürich – während andere Passagen überrschend eilig wirken (Agnus Dei) ...

Auch Momente der völligen Irritation sind inbegriffen – denn das Hineinhören in die Interpretationen der Kollegen kann bestenfalls ein Verorten des eigenen Standpunktes sein und findet bei mir (wenn überhaupt) erst im letzten Stadium der Beschäftigung statt: nach dem Presto 3/4-Takt des ersten Osanna kommt ein als Präludium bezeichneter Überleitungsteil zum Benedictus (12/8-Takt). Diese Musik, noch immer im 3/4 – Metrum ist sostenuto ma non troppo überschrieben, was in etwa bedeutet "ruhig aber nicht zu sehr". Ich war mir völlig klar, daß diese Stelle lediglich eine Duchgangsstation vom Presto zum kommenden 12/8-Takt sein soll (Präludium!) – der alte Organist Beethoven (mit 14 bereits in Bonn tätig) 'erspinnt' eine orgeltypische Überleitung. Es sollte also das Presto etwas beruhigt und weiter in Ganzen musiziert werden. Was macht nun die versammelte interpretatorische Prominenz aus diesen Takten? Ein Stück Mysterium! Statt Ganze werden langsame Viertel zelebriert. Zweifellos gerät die Stelle damit zum harmonischen und instrumentatorischen (tiefe geteilte Streicher!) Juwel – vor dem Hintergrund des nachfolgenden (sehr!) langen Benedictus mit Violinsolo jedoch darf m.E. das Präludium nicht den Charakter eines eigenen lang dauernden Stückes erhalten. Ich bleibe bei flüssigen Ganzen als Überleitung zum nächsten Teil!

Es sind genau diese Details, die – wie unwichtig scheinend vielleicht – den Bogen des Zusammenhalts einer interpretatorischen Konzeption schließen können. Wobei ein kleines PS notwendig ist: keine der Tempo- , dynamischen oder Artikulationsentscheidungen dürfen für sich stehen, im ausdruckslosen Raum des nur Musikalischen. Es gibt keine nur musikalischen Entscheidungen – jede musikalische ist eine Ausdrucksentscheidung, die oben zitierten Notizen deuten es an. Zu beobachten ist im aktuellen Musik-Geschäft leider eine Dominanz des Ausdrucks gegenüber der musikalischen Struktur – heraus kommt falscher Ausdruck, mithin unehrliche Musik. Auf die Balance zwischen Struktur und Emotion käme es an – aus Struktur gerinnt Ausdruck, nicht umgekehrt. Das erwähnte Präludium scheint mir ein klassisches Beispiel zu sein. Gerade im Spannungsfeld des 'Erhabenen' – u.a. auch in Mozarts ZAUBERFLÖTE – schiebt sich recht schnell Pathos und Mystik in den Vordergrund, wo beide zumeist nichts zu suchen haben. Wir haben es mit Musik der Aufklärung zu tun, selbst wenn Beethoven "mit Andacht" o.ä. vorschreibt.

Stark genug sind seine Neuinterpretationen und besonderen Akzente des klassischen Messe-Textes allemal – und stets unpathetisch:

- das rhythmisch auf unbetonter Zeit beginnende "Kyrie" – ein HErr, der die normalen Gewichte der Musik vom ersten Ton an aus den Angeln hebt
- der vom Kyrie an geformte Kontrast zwischen Dreiklang und legato-Linie, der das
gesamte Stück prägend durchzieht, wobei der Dreiklang ("Kyrie") eindeutig semantisch verankert ist, während die Linie sowohl im Kyrie wie auch im Christe dem Wort "eleison" zugeordnet wird
- der in Terzen und Oktaven aufgespaltene Dreiklang als "Christe"-Ruf – die Nagelschläge der Kreuzigung!

- die raketenartig zum Himmel auffahrenden "Gloria"-Tonleitern, die leitmotivisch die Gesamtform des Gloria zusammenbinden
- die oben bereits erwähnten Anklänge an Trommelschläge, -wirbel oder französische Märsche – im Zusammenhang mit der Messevertonung in völlig neuem Licht
- die sensationelle Fuge "in gloria Dei patris", die in sforzato-Ketten justament die Moll-Figur des "eleison" aus dem Christe ins Dur wendet!! und die Masse der Ausführenden inklusive der Soli regelrecht 'arbeiten' läßt, ehe der Presto-Jubel im 3/4-Takt die aufstrebenden Linien des Beginns tempomäßig noch überhöht und zur Apotheose führt, die keinerlei Pathos kennt

- das zweifache "Credo", das einige Apologeten (Gielen) als Besonderheit betonen und als Bekräftigung des Zweiflers Beethoven interpretieren (im Unterschied zu Dahlhaus übrigens, für den eine solche Deutung "ins Leere" geht); auch dieses Motiv hält die Gesamtform des Credo ähnlich der Tonleitern im Gloria zusammen
- das dorisch beginnende "Et incarnatus"
- das atypische "Et resurrexit" – in vielen Messe-Kompositionen groß ausgeführt, hier nur vierstimmig in einem a-cappella-Satz dem "et ascendit in coelum" vorangestellt – wiederum ein 'verdächtiger' Akzent Beethovens: "secundum scripturas" wird zusätzlich mit sforzati versehen, als wenn der Komponist sagen wollte, "auferstanden nach dem Wort der Schrift" – aber es kommt auf viel wichtigere Dinge an...
- das Dreiklang und Linie zum Fugenthema verbindende "Et vitam venturi saeculi amen", das Allegretto beginnt, sich Allegro con moto steigert, im Grave schließlich gipfelt und – völlig überrschend – in einem wundervolle Spiel (im Himmel?) endet: der Chor singt pianissimo die Dreiklänge, während Soli und Instrumente mit Linien auf- und abwärts das "Amen" gleichsam umschlingen – religiöses Pathos? Fehlanzeige

- das zunächst ganz den Soli zugeordnete Sanctus mit zwei unterschiedlichen Osanna-Varianten, aus dem Staunen entstehend – nicht aus der Verherrlichung
- das nun wirklich – das Wort sei gestattet: - 'himmlische' Benedictus: "Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn" – das, was diese Aussage zusammenhält und thematisch führt, ist die Solo-Violine, das Instrument!; die singenden Menschen versuchen lediglich, sich dieser Vision anzunähern, umkreisen die Violine, kontrapunktieren, ergänzen oder spinnen fort... was für eine geniale Idee zur Vertonung dieser Worte

- schließlich das lastend und im seltenen h-moll daherkommende Agnus Dei, das 95 Takte lang Adagio bleibt, ehe es in den 6/8-Takt ("Dona nobis pacem") mündet, innerhalb dessen aber die eigentliche Sensation stattfindet: kriegerische Trompeten und Pauken zerreißen die bis dahin pastoral anmutende Atmosphäre, recitative Passagen der Soli bis hin zum Aufschrei irritieren bei der ersten dieser Unterbrechungen, ein Presto-Strudel fegt beim zweiten Mal durch das Stück und bringt die Musik an den Rand der Katastrophe; und noch kurz vor Schluß sind von fern die pianissimo und harmonisch 'unpassend' (Ton B in D-dur) gesetzten Pauken als bleibende Folie der "pacem, pacem"-Bitte zu hören

Das alles ist so visionär und groß ge- und erdacht, daß jede Qual der Einstudierung nach
der Aufführung vergessen sein wird!

Noch einmal Martin Geck: "Musik will nicht nur singen, tanzen, reden, darstellen,
abbilden, bauen; sie ist vielmehr Inbegriff gestaltender Kraft." Diese zu spüren wird die
Auseinandersetzung mit diesem schweren Werk zur Lust machen.

23
Jun
2007

Uraufführung am Sonntag

Herchet

Er galt mehreren Zeugnissen nach als der Lieblingsschüler von Paul Dessau: Jörg Herchet, der gläubige Mensch aus Weinböhla bei Dresden; der Kommunist aus Zeuthen hat ihn gemocht und gefördert wie andere Unbotmäßige auch. Herchet hat es in der DDR extrem schwer gehabt, seine Stücke - ohnehin als sperrig verschrien - wurden selten gespielt und die Orchester taten sich zusätzlich hart damit. Nach der Wende entspannte sich die Situation etwas. Udo Zimmermann holte die Opern NACHTWACHE und ABRAUM an die Leipziger Oper, aus dem Geheimtipp Herchet wurde ein ostdeutscher Avantgardist, der auch in Darmstadt und Donaueschingen 'vorzeigbar' schien.

Zu spät. Denn der mittlerweile 60-jährige ist weitergegangen und schert sich wenig um avantgardistischen Mainstream. Christfried Brödel, Chef der Dresdner Kirchenmusikschule, hat mit der Meißner Kantorei viele Werke des Zyklus "Das geistliche Jahr" aus der Taufe gehoben, zuletzt die großangelegte PFINGSTKANTATE. Im Kammerabend der Sächsischen Staatskapelle erklingt nun die "Kantate zum Fest des Apostels Jakobus des Älteren". Die bisherigen Proben versprechen ein intensives und räumliches Klangerleben in vielen Farben und Formen. Sonntag 20 Uhr, Semperoper.

31
Mai
2007

...

die Deutschen sind immernoch relativ normal und so wie immer: die Seiten der Stiftung Warentest werden am meisten abgerufen wegen

1. Digitalkameras - Stichwort Familie, Urlaub
2. Staubsauger - Stichwort Sauberkeit
3. Fernseher - ...
4. Matratzen

(lt. Rundfunkmeldung vom Abend)

29
Mai
2007

Konzert am Samstag

brundibar_hagibor

Der Abend mit Dr. Michaela Vidláková aus Prag, die als 6-jähriges Mädchen die obige Aufführung in den Mauern des Ghettos Theresienstadt miterlebt und uns am 22. Mai davon und über vieles andere berichtet hat, klingt noch in uns nach - hier ein kleiner Vorausblick für unser Programmheft:

Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer,


zu dem heutigen Konzert darf ich Sie allen Ernstes so begrüßen, denn seit langem wird es neben zu Hörendem auch etwas zu Schauendes geben: in der szenischen Einrichtung von Christiane Kapelle stellt der Kinderchor die Oper BRUNDIBAR von Hans Krása vor, ein Stück, dass in dieser Version auch schon auf der USA-Reise im Februar aufgeführt wurde. In vielen Proben und einigen Zusatzveranstaltungen haben sich die jungen Leute dem Stück und seiner besonderen Geschichte genähert: sie besuchten die Synagoge in Dresden und trafen in Michaela Vidláková eine Zeitzeugin, die als Sechsjährige Aufführungen des Werkes in Theresienstadt selbst miterlebt hatte.

Um junge Leute geht es uns heute abend ganz besonders. Neben dem Kinderchor begrüßen wir einige ehemalige Kruzianer, die die hohen Stimmen unserer älteren Mädchen zum gemischten Chor in Carissimis JEPHTE runden und teilweise auch Purcells DIDO mitsingen. Aber auch am Pult stehen heute die jüngeren Leute – fördern und fordern wollen wir nicht als Floskel benutzen, sondern ernst nehmen und den Weg des Dirigierseminars im letzten Herbst fortsetzen.

Der Kontrast der 3 Stücke hat uns besonders gereizt! In einer Zeit, in der Selbstmordattentäter Angst und Schrecken verbreiten und der SPIEGEL aktuell den Kreuzzug der neuen Atheisten beleuchtet (Titel: Gott ist an allem schuld) werfen wir den Blick

- auf einen alten biblischen Stoff, in dem eine erstaunlich brave Tochter den idiotischen Schwur des Vaters nicht in Frage stellt, dagegen der Komponist uns einiges mitteilt über seine Sicht
dieser alttestamentarischen Grausamkeit

- auf ein Stück, das Kindern und Erwachsenen vorgespielt wurde, die samt den Ausführenden anschließend fast ausnahmslos ins Gas geschickt wurden

- auf die ehemals phönizische Prinzessin Dido, die – leidgeprüft durch Krieg und Gewalt – ein letztes Mal sich verliebt: in einen Kriegsherren, der schließlich die Erfüllung seiner militärischen Pflichten über jene der Liebe stellt...

Und all das tatsächlich unter Berufung auf Götter oder Ideologien.

Die Musik erzählt uns nicht von Göttern und Ideologien, sondern von Menschen und deren Empfindungen, von Leid, aber auch von Hoffnung. Gerade aus dem finsteren Ghetto dringt die kraftvollste Ermutigung.

Ein Thema für junge Leute, ausgeführt und dargestellt von jungen Leuten. Aktueller können wir nicht sein – ich wünsche Ihnen einen interessanten Konzertabend!

Mehr unter www.singakademie-dresden.de.

Matthias Rust

Cessna

Was haben wir damals gelacht im Osten, als Rust auf dem Roten Platz landete - für uns noch sehr lange vor der Wende...

Kleine Pointe zu diesem Artikel der Frankfurter Rundschau: laut Rundfunk, so hörte ich, sei Rust heute - professioneller Pokerspieler.

Sind wir das nicht irgendwie alle?
logo

Weblog des Dirigenten Ekkehard Klemm, Dresden

Ansichten, Einsichten, Rücksichten, Aussichten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Archiv

April 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Uraufführungen seit 1998,...
Aus Anlass der morgigen (heutigen...) Uraufführung...
klemmdirigiert - 2016-10-01 00:30
Einojuhani Rautavaara...
Aus Anlass der Premiere der Oper DAS SONNENHAUS schickte...
klemmdirigiert - 2016-08-25 01:05
Einojunahni Rautavaara...
Programmhefttext für die deutsche Erstaufführung 1994...
klemmdirigiert - 2016-08-25 01:01
Einojuhani Rautavaara...
(Foto: Sini Rautavaara - bei meinem Besuch in Helsinki...
klemmdirigiert - 2016-08-25 00:54
...wuchernder Kanon mit...
Eine Einführung zum "Ricercar a 5,9", Uraufführung...
klemmdirigiert - 2016-08-24 23:34

Musikliste

Suche

 

Status

Online seit 7066 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-10-01 00:30

Mein Lesestoff