5
Jan
2006

http://www.taz.de/pt/2006/01/04/a0148.nf/text

Wer das Unglück hat, im Ausland entführt zu werden, darf erwarten, dass sich das Außenamt, das der deutsche Steuerzahler genau für diesen Zweck üppig finanziert und dessen Angehörige astronomisch hohe Gehälter beziehen, still und ohne orchestrierendes Politikergefasel um die Freilassung kümmert und dass es ihn nachhaltig vor journalistischen Nachstellungen schützt. Schließlich kann sich das Entführungsopfer nicht wehren. Und nach einer Freilassung geht das Opfer die Medien und Politiker nichts, aber auch gar nichts mehr an.

Ein sehr klarer und wütender Artikel eines Jony Eisenberg in der taz. Die Aussagen über die Beamten des AA teile ich nicht - diesen Job zu machen ist gewiß nicht einfach. Was aber die ferndiagnostizierenden Experten und ihre willigen Helfer in den Medien betrifft, so hat Eisenberg mit Sicherheit recht.

3
Jan
2006

Finanzen i.O.

Merkel-2005

Also das wissen wir nun seit der Neujahrsansprache: "die Finanzen in der EU haben wir in Ordnung gebracht". So ähnlich hat sie das gesagt, unsere Kanzlerin mit Brille (um an Harry Potter zu erinnern, wie ein Bösewicht formulierte). Der Text kommt im Feuilleton erstaunlich gut weg. Das Kindergartengetue ist wahrscheinlich selbst schon eine von den neuen Ideen, die Frau Merkel gern fördern - sorry: 'machen' will ("Deshalb machen wir Bürokratieabbau..."). Ist das die neue Schlichtheit? Aufrichtigkeit? Ehrlichkeit? Jetzt fängt Platzeck auch schon mit diesem protestantischen Quark an. Wer sooft davon redet, dem wird man bald nicht mehr glauben! Seid ehrlich, aufrichtig usw. - aber bitte hört doch auf, davon zu reden, es ist ja an Peinlichkeit nicht zu überbieten! Am Ende heißt es noch, die sind im Osten alle so.

Also ich finde, so 'ne tolle Idee war diese Ansprache nicht... Und über die Finanzen reden wir noch...

31
Dez
2005

Im Zusammenwirken von Chaos und Ordnung, Gefühl und Überlegung sollte die Hitze des Chaos durch die Ordnung zur Wärme reduziert werden. Diese Wärme erwärmt ihrerseits wiederum die Kühle der Ordnung.

Und hier noch wunderbare Auszüge aus einem Interview der nzz mit dem Pianisten Alfred Brendel:

Was ist schlimmer: Werkgerechtigkeit oder Selbstgerechtigkeit? Lassen wir Gerechtigkeit beiseite. Von den Werken sollten die aufregendsten Impulse ausgehen; der Pianist und schon gar die Pianistin sollten mit ihrer Hilfe geradezu aufblühen. Natürlich muss man junge Spieler zur Selbständigkeit erziehen. Anderseits muss man ihnen bis in die letzte Note nachweisen, wie genau eine Aufführung zu erarbeiten ist. Man kann das nur anhand seiner eigenen Vorstellungskraft und mit Hilfe seiner persönlichen Erfahrungen vermitteln: als Beispiel, aber nicht als die eine, endgültige Wahrheit.


Etwas weiter unten:

Ich selbst halte mich nicht für einen Intellektuellen, also für einen Menschen, den primär der Intellekt steuert. Ich bin ein Musiker und Schriftsteller, der auch denkt. Es gibt instinktive Musiker von grossem Format. Man darf nur nicht annehmen, allein diese öffneten das Herz. Das ist Unsinn. Im Zusammenwirken von Chaos und Ordnung, Gefühl und Überlegung sollte die Hitze des Chaos durch die Ordnung zur Wärme reduziert werden. Diese Wärme erwärmt ihrerseits wiederum die Kühle der Ordnung. Ob das bewusst oder unbewusst geschieht, hat kaum Bedeutung, solange das Resultat stimmt. Ein Resultat solchen Zusammenwirkens wäre «Gefühlsdeutlichkeit» - das Wort stammt von Robert Schumann.



Darauf der Frager:

Kompliment für dieses - dritte, Brendelsche - Gesetz zur Thermodynamik. Ich denke, dass es sich auch auf manche ausdrücklich «intellektuelle» Musiker anwenden liesse: sogar auf Glenn Gould, der zwar etwa in seinen Interviews jegliche Spontaneität bloss artifiziell herstellte, indem er gewisse Fragen auch noch selber formulierte und sie dann seinem Partner in den Mund legte, doch als Klavierspieler zugleich spontan gefühlswarm wirken konnte.



Und Brendel:

Ich enthalte mich der Stimme.

Das ist aufrichtig und konsequent: denn da hätten wir wieder das Problem mit Werk und Selbst - die Gerechtigkeit wollten wir ja außen vorlassen! Ich verneige mich vor Brendel!!! (Und hatte noch nie eine Vorliebe für GG - sorry, er war zweifellos ein begnadeter Pianist. Aber seine Interpretationen??)

Aber auch Brendel hat seine Grenzen:

Die Vorstellung von Himmel und Hölle hat etwas Kindliches. Isaiah Berlin hat in einem Aufsatz Schillers Idee des Naiven und des Sentimentalischen auf die Musik angewandt. Verdi war für ihn ein grosser Naiver. Sollte man im Paradies pausenlos Verdi hören, bäte ich um Urlaub und ginge von Zeit zu Zeit lieber ins Fegefeuer, vielleicht sogar in die Hölle.


Also, wenn da die ganze Zeit CARLO, OTELLO, FALSTAFF oder die QUATTRO PEZZI SACRI kämen - warum nicht? Außerdem hat Verdi SOOOO viel geschrieben, da gäbe es immerhin allerhand Abwechslung...

komplett zu lesen unter: http://www.nzz.ch/2005/12/31/li/articleDG57Y.html

"schlichte, warme Frömmigkeit"

Aus einem Beitrag der WELT von heute (http://www.welt.de/data/2005/12/31/824156.html?s=1) von Klaus Berger:

Das Christentum in Deutschland ist matt und müde geworden. Kann die Weltkirche von diesem Land noch irgend etwas erwarten?


Ja und nein. Für die wichtigste Gabe halte ich nach wie vor die Bibeltheologie, wie sie der Papst mittwochs praktiziert. Doch auf der anderen Seite gilt dies: Das Stichwort "Taizé" markiert eine ganz neue Art von Ökumene, eben nicht mehr Diskussionen und Streitgespräche, an deren Ende jeder Recht behält und nur für den nächsten Disput klüger wird, sondern eine schlichte, warme Frömmigkeit mit großer Ausstrahlung. So etwas gab es, genau genommen, bisher in Deutschland weithin nicht. Taizé aber liegt in jener Gegend, wo auch der Orden der Zisterzienser entstand


Werden "die Deutschen" diese Bewegung aufnehmen können? Es ist klar, daß es ohne Theologie auch in dieser Bewegung auf die Dauer nicht gehen wird. Aber es könnte ja sein, daß man eine Priorität der gelebten Nachfolge vor der Theologie wahrnimmt. Das wäre eine Chance, wild gewordene und oft genug auch reichlich unverständliche dogmatische Spekulation auf ein menschliches Maß zurückzuführen. Denn in der Tat sollten sich deutsche Theologen nicht nur als Lehrer der anderen verstehen, sie könnten auch häufiger - wie so oft im Mittelalter - dankend von anderen empfangen.



Wenn allerdings aus der mittwochs praktizierten Bibeltheologie nicht mehr entspringt als die gegenwärtigen Erlässe zum Umgang mit schwulen Priestern usw. usf., wage ich dennoch, starke Zweifel anzumelden, ob das nun zeitgemäß ist. Die Suche nach neuen (alten) Werten von der Dresdner Frauenkirche bis hin zur Sehnsucht nach der schlichten Frömmigkeit tobt sich auffallend oft an den Rändern aus: seien es die Schwulen oder die unverständlichen Aktionen einer deutschen Muslima im vorderen Orient. Ein selbstbewußter Staat könnte von der Bundeskanzlerin bis zu BILD doch auch einfach sagen: wir sind für sie als Bürgerin unseres Landes verwantwortlich, unabhängig davon, was sie sagt; sie hat eine Unmenge getan für den Irak, auch für den guten Ruf Deutschlands - laßt sie jetzt einfach in Ruhe; wir laden sie ein, um über ihre Projekte zu reden und sehen dann in Ruhe und ohne Medien weiter.

Hat die Kirche eigentlich dazu offiziell mal was verlautbaren lassen?

Schlichte, warme Frömmigkeit - okay: aber bitte auf der Höhe der Zeit, und nicht in moralinsaurem Mief mit den überholten 'Werten' von vorgestern. Demnächst müssen wir ja sogar noch Darwin gegen die Schöpfungsgeschichte verteidigen...

29
Dez
2005

Skeptiker

Seinem philosophischen Ursprung nach hält der Skeptiker vielmehr Ausschau nach der besten Lösung für das ihm vorliegende Problem. Sein kritisches Denken akzeptiert dabei durchaus nachvollziehbare Argumente, sein Handeln ist ebenfalls progressiv orientiert. Skeptiker wollen keineswegs zurück in eine verlorene Welt, in der alles besser und aus Holz war. Sie springen nur nicht durch den erstbesten Reifen, der ihnen vor die Nase gehalten wird.


Das ist eine schöne Definition von David Kleingers in
SPIEGEL-online.

Große Aufregung...

0-1020-559185-00

...herrscht in Österreich wegen Plakaten wie dem oben abgebildeten.

Zitat SPIEGEL:
"Keiner von uns hat ein derart negatives Echo auf unsere Kampagne erwartet", sagt Kurator Seidel. Die Reaktion zeige, dass von der Öffentlichkeit abgeschottete Kunsträume wie Galerien und Museen von den Menschen nur wenig wahrgenommen würden. "Sobald man mit Kunst auf die Straße geht, zeigt sich, wie sensibel und wenig liberal die Leute noch immer auf körperliche Sujets reagiert", so Seidel. Für die künstlerische Freiheit im Land sei dies ein trauriger Rückschritt. "Für uns ist das ein Aufruf an alle Künstler, noch radikaler zu arbeiten", erklärt der Kurator.

Es seien 500 000 Euro Fördergelder für die Aktion geflossen usw. usf. - wir kennen solche Diskussionen.

Aber mal ehrlich: von ein paar Kalauern, die sich mit dem Bild machen ließen, abgesehen - ist das nun avantgardistische Kunst oder ist uns jedes Gefühl für Ästhetik, Form und Inhalt, wie Gerhard Richter vermutet, nur abhanden gekommen, daß ich das jetzt als Kunst auch noch verteidigen müßte? Und weshalb die Aufregung: Rubens und Goya und viele andere malten ja genügend nackte Damen, hier sehen wir ja nicht mal den Kopf. Nur weil das an der Straße hängt, soll das ein Skandal sein? Wie prüde sind wir denn geworden!
Ziehen wir die Skandalisierung ab, bleibt wenig übrig: ein netter, nicht allzu neuer und gleich gar nicht besonders witziger Einfall, den sich der Künstler gern hätte von einem Unterwäsche-Hersteller hätte finanzieren lassen können. An künstlerischer Arbeit bleibt eigentlich nichts übrig: Apparat hinhalten und abdrücken. Die Dame vorher anziehen/ausziehen, je nachdem..., drapieren, na gut.

Nein, eigentlich bleibt nichts als das fade Gefühl, daß hier wiedermal eine Scheindiskussion um großen Käse geführt wird. Anderswo werden Gelder genehmigt für die bunte Beleuchtung großer Schornsteine usw., in den modernen Galerien gelten 5-Euro-Neonlampen als Kunst. Bin ich wirklich schon so hinterher, wenn ich das alles bloß als lächerlichen Blödsinn einstufen kann?

Nehmt's mir nicht übel!

28
Dez
2005

etwas Reklame in teilweise eigener Sache

nb_hofansicht_sm

So wird er etwa aussehen, der Neu-Anbau der Dresdner Hochschule für Musik, die 2006 150 Jahre alt wird. Ab 2008 soll es damit nicht nur neue Räume und eine neue Bibliothek geben, sondern auch einen neuen Konzertsaal mit ca. 400 Plätzen - ein für Dresden sehr wichtiges Vorhaben, da es in dieser Größe z.Zt. kaum akkustisch vernünftige Angebote gibt. Dresden besitzt keinen attraktiven Kammermusiksaal - wenn dieser hier gelingt, wäre das ein unheimlicher Gewinn. Und auch als Orchestersaal soll er nutzbar sein. Das Büro Brenner&Partner aus Stuttgart hatte den Wettbewerb gewonnen, der Beginn des Baus steht nun unmittelbar bevor. Das neue Jahr wird Klarheit bringen und die Zukunft deutlicher strukturieren.

nb_perspektive_sm

Max Reinhardt, Pop und Avantgarde...

In einem sehr lesenswerten Beitrag der taz (http://www.taz.de/pt/2005/12/28/a0177.nf/text --- irgendwie funktioniert das Einfügen eines Links bei mir mit mozilla nicht; und mit Explorer auch nicht) heißt es u.a.:

"Ich glaube, die Menschheit wäre glücklicher, wenn nicht Einzelne sie immer wieder um jeden Preis beglücken wollten - selbst um den Preis des Glücks", wird Reinhardt kurz vor seinem Tod 1943 in New York schreiben. In seinem Leben hat er die Weltverbesserer und Zwangsbeglücker massenweise emporwachsen sehen, und zwar in der Kunst ebenso wie in der Politik. Bekanntermaßen waren die Folgen für das Jahrhundert eher verheerend, und oft waren die Künstler blind dafür. Wollten die Welt verändern, selbst wenn sie dafür Niedrigkeiten begehen und Schlächter umarmen müssten, wie es Brecht in seinem Stück "Die Maßnahme" den Zeitgenossen empfahl.


Und etwas weiter unten:

Trotzdem wird sein wirtschaftlicher Erfolg bis heute als Argument gegen Reinhardt verwendet. Als sei es ein Verbrechen, mit Theater Geld zu verdienen und Massen zu begeistern. Dass Avantgarde und Masse durchaus kompatible Phänomene sein können, hat spätestens die Popindustrie unter Beweis gestellt.

Im Anti-Reinhardt-Ressentiment spiegelt sich von Anfang an der diskret-totalitäre Charme deutscher Kunstreligionen, aber auch die Tatsache wider, dass die deutsche Theatertradition höfisch, dass Theater als Kunstform ursprünglich für das Volk nicht vorgesehen war. Was bürgerlich an ihm war, hatte das Bildungsbürgertum beigesteuert, das vom Theater vor allem Vermittlung von Werten und Bildungsinhalten verlangte. Reinhardt hat damit ziemlich aufgeräumt und das Theater als Kunstform demokratisiert. Hat den Regisseur als selbstbestimmten Verwirklicher erfunden, sozusagen als Schmied des eigenen Glücks, von dem das Bürgertum seit der Aufklärung eigentlich träumte. Ein Glück, das allerdings nie mehr als reines Theaterglück sein wollte.

Bis heute hat man Reinhardt den Verweis der Gebundenheit aller demokratischen Theaterkunst an den Zuschauer, also an den Markt, nicht wirklich verziehen. Die meisten Theatermacher fühlen sich immer noch als Teil einer Elite mit diffusem Auftrag: Auftrag zur Aufklärung, zur Erleuchtung oder zur Wahrheit an sich. Max Reinhardt ist einen anderen Weg gegangen und deshalb für den subventionierten Kulturbetrieb immer noch eine Provokation.


"der diskret-totalitäre Charme deutscher Kunstreligionen" damit sind auch wir gemeint, die wir klassische und vor allem moderne Musik machen und lieben. Avantgarde und Masse aber ausgerechnet im Falle der Popindustrie als kompatibel zu erklären, ist m.E. fragwürdig: ist denn Pop Avantgarde??? Was überhaupt ist Avantgarde?

25
Dez
2005

IDOMENEO

Zum Mozart-Jahr hier ein Artikel, den ich für das Programmheft meiner IDOMENEO-Aufführung in München (http://www.staatstheater-am-gaertnerplatz.de) schrieb. Sie wird unterdessen von meinem Schüler Oleg Ptashikow dirigiert; nächste Aufführung am 27.01.06.

Ich glaube, im alten 20six-Blog hatte ich den Text auch schon mal stehen. Sorry für die Wiederholung aus aktuellem Anlaß. Die Notenbeispiele muß frau/man sich leider ergänzen, aber das Stück kennt ja eh jeder... - es ist eines der genialsten der Musikgeschichte.


IDOMENEO

- ein Held wird entwaffnet


Der Beginn der Ouvertüre setzt uns – dem Gesetz der Seria folgend – klar in Kenntnis: hier ist von einem König die Rede:

NB 1 Ouvertüren-Beginn


In der für solche Zwecke vorgesehenen Tonart D-dur führt eine martialische Fanfare aufwärts, selbstverständlich mit Trompeten und Pauken, den Insignien königlicher Macht. Doch weder läßt sich dieses aufstrebende Motiv als "Thema" im eigentlichen Sinne ansprechen noch paßt es in eine typisch klassische Phrasierung (was bereits Stefan Kunze beschrieb): mit unüblichen 7 Takten weist es eine merkwürdige Gliederung auf, die in eben jenem 7. Takt auch noch völlig ins Schleudern gerät – oder besser, vom Sturm erfaßt wird. Denn was nun folgt, ist nichts anderes als die musikalisch und formal großartig gefaßte Darstellung dessen, was vor der eigentlichen Opernhandlung auf dem Meere stattfand: Idomeneo, der König, der Krieger (!), gerät mit seinem großartigen D-dur ins Strudeln, wird stürmisch durch Motive und Tonarten gepeitscht, die seinem Stolz, seiner aufstrebenden Sicherheit entgegenstehen, doch ungleich tiefer loten.

NB 2 Seitenthema der Ouvertüre

Nicht ins dominantische A-dur, sondern in dessen Moll-Variante ist das zweite Thema getaucht, eingeleitet von einem "Gang von gewagter Anmut", der sich "wie ein plötzlich durchbrechender Lichtstrahl" ins Geschehen einmischt, aber nicht zum heiteren A-dur führt, sondern zu einer "Seelenlandschaft", die Kunze zutreffend als "leichtfüßig und doch von bohrendem Leid durchsetzt" charakterisiert..

Interessant ist der Fortgang des sinfonisch angelegten Stückes – sieht man von seiner schieren Schönheit ab - vor allem deshalb, weil eben jenes Seitenthema nicht mehr wiederkehrt. An seiner Stelle erklingen in der Reprise Abspaltungen sämtlicher anderer Motive der Ouvertüre, die von 2 Varianten des punktierten Hauptmotivs kontrapunktiert werden: der piano vorgebrachten Seufzer-Variante antwortet stets eine harsche und scharf punktierte im forte, wobei mehrere Tonarten im Abwärtsgang durchschritten werden, zunächst über dem Orgelpunkt A, dann über D – dem Grundton des Stückes, das an dieser Stelle zur Dominante der nächsten Szene wird, nämlich Ilias Recitativ und Arie in der Leidenstonart g-moll.
Mit diesem – musikalisch und formal motivierten, jedoch inhaltlich klar zu fassenden – Abgesang der Ouvertüre wird das Thema der Oper etabliert und vorgestellt: ein Held wird demontiert. Sein Tun hat nichts gebracht außer: Leid, viel Leid, Haß und Trauer. Denn neben Ilias Leid sollten wir Elettras Rache und Haß nicht vergessen – all dies Ergebnis einer zutiefst kriegerischen Gesellschaft.

Ilia ist die Lichtgestalt des ganzen Werkes: ihr Leid des Beginns wandelt sich über das Bekenntnis zum "neuen Vater" Idomeneo (Se il padre perdei, la patria il riposo, tu padre mi sei... – II. Akt) und ihre Zefiretti, lusinghieri (III. Akt) in das offene Liebesbekenntnis und die daraus resultierende Tat: sie fällt dem neu gewonnenen Vater in die Arme und verhindert das Entsetzliche, indem sie sich selbst als Opfer darbietet – eine Tat, zu der sich Idomeneo nicht imstande sah.

Elettra, eine Figur, deren bekanntere (und u.a. von R. Strauss vertonte) Legende vor ihrem hiesigen Erscheinen liegt, beginnt mit einer Rachearie, weiß sich im II. Akt (Idol mio) nur zu einer Liebe zu bekennen, deren Fragwürdigkeit ihr selbst sehr wohl bewußt ist und endet folgerichtig in der puren Raserei, mit der sie sozusagen die mythologische Bühne verläßt. Hat Mozart ihr deshalb ursprünglich jene furiose und großartige Arie komponiert, die dann zur Uraufführung am 29.1.1781 in München doch wieder gestrichen und durch einen kurzen Abgang ersetzt wurde?

Idomeneo selbst beginnt aufgewühlt vom abgelegten Schwur in C-dur (Vendrommi intorno, l'ombra dolente), schon jetzt verfolgt vom Schatten des Opfers, das sein eigener Sohn werden wird. Aber auch im berühmten Bravourstück Fuor del mar vermag er seine königlichen Insignien D-dur, Pauken und Trompeten nicht abzulegen. Nicht einen Augenblick ist von der Möglichkeit eines eigenen Rücktritts oder Opfers (Selbstmord?) die Rede. Erst am Ende des II. Aktes erhalten wir das eindeutige Schuldbekenntnis von ihm selbst, und gar im III. Akt erst die Namensnennung des Opfers gegenüber dem Volk.

Idamante schließlich ist mit zwei Arien im I. Akt vertreten, danach treibt er das Stück in Recitativen und vor allem als Partner weiter: er ist an allen drei Ensembles des Werkes beteiligt, am Terzett (mit Elettra und Idomeneo), am Duett (mit Ilia) und am berühmten Quartett (mit Ilia, Elettra und Idomeneo), dessen formale Struktur beinahe klassisch im Sinfonischen wurzelt, Idomeneos königliches Ouvertürenthema nach Es-dur wendet - aber in die Gegenrichtung, nach unten führt, während ein Seitenthema ihm und Ilia allein vorbehalten bleibt:

NB 3 Beginn Quartett

NB 4 Quartett, 2. Thema


Die fünfte Hauptfigur ist der Chor: in keinem anderen Werk mißt Mozart ihm eine solche Bedeutung, dramatische Kraft und ausdrucksmäßige Vielfalt zu. Zweifach geteilte Männerchöre (4-stimmig gegen 2-stimmig in Nähe und Ferne), Jubelchöre, ein zeitlupenhafter Siciliano in E-dur im II. Akt, der auf das "Winde-Terzett" der COSI verweist, schließlich die Sturmchöre in kühner Harmonik und mit dreifachen Fermaten (Poseidons/Nettunos Dreizack!) und im III. Akt das grandiose c-moll-Adagio Oh voto tremendo! sowie der groß ausgebaute Schluß.

Hinzu kommen Arbace und der Sacerdote als Gegenpole: der vertraute und (zu?) treue Freund auf der einen, der Chefideologe auf der anderen Seite.

Dies alles ist vom 24-jährigen Mozart in solcher Kühnheit entworfen und dennoch als Opera seria gedacht, daß unsere Aufführung versucht, jenen Zustand wiederherzustellen, der wahrscheinlich nie erklungen ist und nur ursprünglich in Mozarts Kopf existiert hat – gerade darin liegt der große Reiz. Während Nikolaus Harnoncourt (durchaus verständlich) die dramatische und kürzere Version der Uraufführung verteidigt, wagt unsere Aufführung den Test: was wäre, wenn Elettras große Arie doch gekommen wäre? Dann hätte Idomeneo auf alle Fälle mit Torna la pace antworten müssen! – das Stück heißt ja schließlich Idomeneo, nicht Elettra. Auch die Dreiteiligkeit des Chores Nr. 24 (Oh voto tremendo) wurde wiederhergestellt, ebenso die dreiteilige Cavatina con coro des Idomeneo im Anschluß daran.

Ein großes Problem bildet der Schluß des Werkes: Üblicherweise erklingt der marschartige Chor, oft genug sogar ohne Wiederholung – Fine. Jene kleine Coda mit fallenden (!) D-dur-Akkorden kann aber unmöglich der Schluß des Werkes sein. Das eigentliche Finale finden wir in einem groß angelegten (typisch Mannheimer, woher ja das Orchester kam) Crescendo am Ende des Balletts.
Zumindest diesen Teil als den eigentlichen Schluß anzuerkennen, war das Bemühen unserer Einstudierung. Es wird damit nicht zuletzt eine Brückenfunktion der D-dur bzw. d-moll-Teile der ganzen Oper ermöglicht, die mit der Ouvertüre beginnt, über das Intermezzo zwischen I. und II. Akt reicht, im Sturmchor am Ende des II. weitergeführt und mit dem ursprünglich geplanten Ballett instrumental zu Ende gebracht wird.

Der Bogen zur Ouvertüre ist somit wiederhergestellt, Idomeneo aber, der Held, der König und Krieger, ist entwaffnet. Sein Volk darf tanzen – oder wenigstens aufräumen, pflanzen und von vorn beginnen.

24
Dez
2005

...

zauberfloete_erstes_blatt_klein



Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freunde von MOZART, SCHUMANN, SCHOSTAKOWITSCH, FREUD, Dresdens, der Dresdner Musikhochschule und den sicher noch unzähligen anderen Jubilarinnen und Jubilaren des Jubeljahres 2006,

Ihnen und Euch allen mit diesen ersten Noten der ZAUBERFLÖTE friedvolle Festtage und ein gesundes, wundervolles und erfolgreiches neues Jahr, das ich lediglich mit einer kleinen Erkenntnis im Geiste Mozarts anreißen möchte:

"Mann und Weib und Weib und Mann"... - alle kennen die Stelle aus dem Duett Pamina-Papageno: sie erklingt zunächst in einer Version der Instrumente, ehe die Sänger antworten. Somit erklingt die aus einem 3-Klang gebaute Stelle 4 mal; die Oberstimme musiziert dabei 5 Töne, die Unterstimme 4 - macht 9, beim zweiten Mal (mit Auftakt) ist das Verhältnis 6:5 (macht 11), ehe das Ganze in die Abwärtstonleiter aus 7 Tönen mündet, die motivisch aus der Bildnisarie herrührt. Das Stück steht übrigens im 6/8-Takt. Eine vollkommene Spielerei?

In diesem Sinne: auf daß sich niemand verzähle beim JUBILOSO 2006.

Ihr/Euer

Ekkehard Klemm

21
Dez
2005

Nanga Parbat

Ein Abend über eine Expedition zum Berg aller Berge - aus Sicht von Künstlern, die mit waren und nicht ahnten, daß der Tod sie tatsächlich betreffen wird. Es ist eine dichte 70min.-performance geworden aus Bild-Text-Musik.
Merkwürdig der Kontrast: die Rückschau auf scheiternde Expeditionen im Himalaya enden dennoch meist als Denkmal für die tödlich Verunglückten. Ein Hauch Mystik liegt über dem Ganzen - dagegen die Banalität des Todes, wenn er direkt vor der Tür steht: "dem Günter gehts g'rad nicht so gut" usw. usf. Funksprüche und Interviewfetzen, die so gar nicht zur Mystik des Erlebnisses passen. Und doch wollen viele wieder hin, auch der selbst am Rande des Todes gewesene Jens, die Halluzination in 8000m Höhe verspricht ein anderes Freiheitserlebnis als der Alltag nahe dem Tharandter Wald...
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