9
Jan
2009

zum Jahr 2009

bot sich bisher noch kein rechter Anknüpfungspunkt für gute Wünsche an. P. Hagmann von der Zürcher Zeitung aber schreibt heute über Bruckners Fünfte mit B. Haitink - und man möchte ausrufen: es gibt noch richtig gute Kritiken!

Wissenschaft und Kraft gehen in dieser Auslegung eine ungeahnte Verbindung ein – wobei an der Kraft nichts Grobes ist. Aus einem fast unhörbaren Pianissimo-Abstieg heraus entsteht der Kopfsatz. Dem Leisen stellt sich alsbald die herrliche Kraft des Tutti entgegen – die aber in jedem Augenblick gezügelt und kontrolliert bleibt, so dass etwa die Streicher durchaus zu hören und die einzelnen Akkordlagen gut wahrzunehmen sind. Auch die Nebenstimmen treten heraus, wenn auch nie skelettiert, sondern stets, so ist es bei Haitink, harmonisch eingebunden.

Über allem herrscht, ungeachtet der packenden emotionalen Ausstrahlung, eine Rationalität, die den Kunstcharakter dieser Musik unprätentiös herausstellt. Anders als bei Interpretationen älterer Provenienz werden die Tempi nicht um des Ausdrucks willen verändert, sie bleiben vielmehr streng (aber eben stets atmend) den Bauplänen der Sinfonie unterworfen.


Dass Rationalität und emotionale Ausstrahlung eine gute Synthese eingehen - das wäre wirklich ein Wunsch für 2009! Vielleicht nicht nur im musikalischen Sinne...

3
Dez
2008

Jörg Herchet, Kantate zum Sonntag nach Weihnachten; Einführung von José Luis Melchor Galindo

Herchet1

Jörg Herchet
DAS GEISTLICHE JAHR
Kantate zum Sonntag nach Weihnachten
Komposition für Alt, Kleinen Chor, Orgel und Schlagwerk
nach einem Text von Jörg Milbradt

omnipotens sermo de caelis a regalibus sedibus venit
(das allmächtige wort kam aus dem himmel vom königsthron)
Weisheit 18, 15a

derweil das vielgetön in den ursprung schläft
durchspringt er umfinstert lichtwort den nördlichen wendepunkt
fährt in unsern dunst geriebner tyrannei und blöße
verglimmt fast im wimmernden bündel ergibt sich
nun dem unvermeidlichen abtrieb nach süden
in das gelle getümmel der erbverfeilscher den völkermarkt
aber lautlos bellen während er gastet aufgeschreckte göttermeuten
da er urverschlämmten orakeln einsinnend seine kindsgestalt
bereits sich schickt zur thronbesteigung hinauf
ins knorrige bergdorf an das gereckte holz zur einigkeit
Jörg Milbradt

Evangelium des Sonntags: Matthäus 2, 13-15 (Flucht nach Ägypten)

Einführungstext von José Luis Melchor Galindo für das Programmheft

Die "Kantate zum Sonntag nach Weihnachten" gehört zum Kantatenzyklus DAS GEISTLICHE JAHR von Jörg Milbradt (Text) und Jörg Herchet (Musik). Der Zyklus ist ökumenisch angelegt, da er an Überlieferungen der westlichen wie der östlichen Kirchen anknüpft und zudem Anregungen aus außerchristlichen Religionen aufnimmt und zur christlichen Tradition in Beziehung setzt. Bislang liegen 16 Kantaten in unterschiedlicher Besetzung vor.

Die Texte dieses Zyklus spielen auf den jeweiligen Evangelientext des Sonntags oder Festtags an; Die lateinischen Zitate sind dem Introitus, dem Eingangspsalm in der überlieferten Gottesdienstordnung, entnommen. "Der deutsche Text indessen, dessen Anteil ja deutlich überwiegt, ist aus der Befindlichkeit eines Menschen von heute heraus gestaltet. Er stellt sich damit nicht nur den Verwerfungen zwischen Glaube und Kirche einerseits und modernem Leben andererseits, sondern auch dem Problem, wie in der modernen Welt, jenseits der Institution Kirche, ja jenseits religiöser Verbindlichkeit überhaupt, der Glaubensgehalt authentisch Gestalt zu gewinnen vermag. Zwar kommen die Fragen nach Sinn und Wert, nach Verantwortung und Wahrheit des menschlichen Daseins nur, wie es die mystische Tradition lehrt, im innersten Seelenfünklein zur Ruhe. Aber fassbar werden sie zunächst, wenn sie sich an den Glaubensgewissheiten prüfen lassen. Die von der Kirche vermittelten Gewissheiten aber sind auf dem Wege einer langen, oft verdunkelten Überlieferung undeutlich geworden, sodass es fraglich ist, welche Kraft zur Erhellung der Probleme unserer hochtechnisierten Gesellschaft sie haben; mehr noch, sie sind dadurch gebrochen, dass christliche Liebe und Opferbereitschaft im Lauf der Geschichte von institutioneller Machtausübung oft genug erdrückt wurden." (Brief von Jörg Milbradt vom 9. März 2003 an den Autor)

1992 gab der Schweizer Komponist und Organist Daniel Glaus den Auftrag zu dieser "Kantate zum Sonntag nach Weihnachten". Die Uraufführung erfolgte 1993 in einem Gottesdienst mit Daniel Glaus und seinem Gemeindechor in Biel.
Der Kantatentext nimmt Bezug auf das Evangelium von der Flucht Marias und Josephs mit dem neugeborenen Kind nach Ägypten (Matthäus 2, 13-15). Auch verwendet er Bilder aus den Legenden, die sich schon früh um diesen Evangelienbericht ranken (sie erzählen etwa vom Sturz der ägyptischen Götzenbilder, als das Jesuskind an ihnen vorbeikommt) und reflektiert auf dessen allegorische und spirituelle Deutung durch die Kirchenväter (Ägypten als Sinnbild der unerlösten Triebwelt).
In den Worten wie in der Musik dieser Kantate gewinn so ein Paradoxon Gestalt, das jeden Menschen betrifft, in Christus aber schon paradigmatisch aufgelöst ist: Jeder Mensch muss sich mit der Wirrnis der ungeordneten Welt, auf die er außerhalb seiner wie auch in sich selbst trifft, auseinandersetzen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich in der Kommunikation mit den Kräften und Gestalten dieser Welt selber zu kräftigen und zu gestalten und dabei an der Formung dieser Welt mitzuwirken. Zugleich aber soll er selbst- und weltvergessen in seinem Ursprung, in Gott, verharren, also sich nicht an sein Ich und an die Welt verlieren. Beides miteinander zu vereinen hieße, sich selbst in und mit der Welt rein aus Gott zu entfalten. Das ist ein schier unerreichbares, deshalb paradoxales Ideal. Aber Christus, aus Gott entsprungen umfasst und vervollkommnet die Welt schon als Neugeborenes: Er begibt sich hinab nach Ägypten, in die chaotische Finsternis der Welt, dort stürzt er die Göttermeuten, die Mächte der Verführung und Vereinzelung vom Sockel und klärt die aus dem Nilschlamm aufsteigenden Orakel, die dunkel und unverständlich schon immer auf ihn hingedeutet hatten. Von Ägypten her führt sein Weg wieder nach oben: zuerst in seinen heimatlichen Wirkungskreis im bergigen Galiläa, dann hoch hinauf ans Kreuz, an dem er mit ausgebreiteten Armen die ganze Welt umspannt, endlich außerhalb aller Zeit zurück in die unwandelbare Einheit des einen Gottes.

Wie in allen seinen Kantaten ist der Komponist auch hier von christlicher Zahlensymbolik ausgegangen: zu den drei Gestaltungsebenen (Trinität) tritt eine vierte (Welt). Der Orgelklang verkündet die Einheit auch in den Wandlungen vom Eintonklang zum Cluster und seiner Aufhellung zu einem Dreitonakkord, der zusammen mit dem Chorton einen viertönigen Allintervallakkord bildet. Er enthält potenziell alle Intervalle und bestimmt, als Symbol für Christus, den gesamten Kantatenzyklus. – Dem gegenüber steht hier die Altsolostimme; ihre Töne umschreiben den Allintervallakkord, lassen also alle Intervalle real erklingen. – Aus Cluster- und Geräuschchaos entfaltet der Chor, teils zwischen beiden Klangbereichen vermittelnd, teils im Kontrast oder als Ergänzung zu ihnen, diesen Strukturakkord bis zu seiner Spiegelung (Grundgestalt und Umkehrung zugleich) und deutet damit eine musikalische Kreuzfigur an, die in anderen Kantaten zur zentralen Gestalt wird. – Zu dieser geistlichen Dreiheit tritt die reale Welt quasi als vierte Dimension: der Schlagzeugrhythmus gibt der Flucht geradezu bildlichen Ausdruck, löst sich aber schließlich in einen vielfältig differenzierten, das gesamte Geschehen umfassenden Klang auf.

Adventsstern der Singakademie 2008

strawinski

"Komponieren bedeutet für mich, eine gewisse Zahl von
Tönen nach gewissen Intervallbeziehungen in Ordnung
zu bringen ... Wenn der Aufbau vollendet, die Ordnung
erreicht ist, so ist alles gesagt."

Igor Strawinsky

"er bestrebt sich, das Großartig-Objektive des Glaubens zur Darstellung zu bringen."
Albert Schweitzer (über J. S. Bach)

Die beiden Sätze könnten als Motto über dem ADVENTSSTERN 2008 der Singakademie stehen – dem nun schon fünften Versuch, ein Weihnachtsprogramm mit etwas Reibungsfläche zu musizieren:

2004 Pärt – Franck – Bach – Britten (Kantate St. Niclas) – Bach – Eccard – Pärt
2005 Sharakans aus Armenien – Bach – Terterian (6. Sinfonie) – Bach
2006 Bach – Weiss (Confessio Saxonica, UA)
2007 Charpentier – Voigtländer (MenschenZeit, UA) – Lully

Die Namen Bach – Herchet – Strawinsky setzen diesen Weg fort. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Idee zu diesem Programm aus meiner Kreuzchorzeit unter Martin Flämig stammt: eines der eindrücklichsten Konzerte mit der Dresdner Philharmonie verknüpfte Bachs Magnificat mit einer Uraufführung von Udo Zimmermann (Ode an das Leben nach Neruda) und Strawinskys Psalmensinfonie – ein Erlebnis, das für mich eine Initialzündung darstellte.

Die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, dass es zwischen den Problemen der Finanzwelt und denen auf dem 'Klassikmarkt' durchaus Parallelen gibt: in beiden Fällen wird auf billigen Gewinn spekuliert. Dort auf Geldwerte, die nicht wirklich existieren, hier auf besinnliches Wohlempfinden, für das die Töne nicht gedacht sind. Ob Bach, Herchet oder Strawinsky - Musik ist Form, Struktur, ist Geist, aus dem Ausdruck erwächst. Der Musikwissenschaftler Wolfgang Burde schreibt in Bezug auf Strawinsky. "Die Musik, die auf solche Weise entsteht, versucht eine musikalische Ordnung zu gestalten, die sich im engen Kontakt mit der ontologischen Zeit entfaltet. … Erlebbar ist aber auch ein anderer Zeitbegriff, der als Erlebniszeit Realität besitzt. Langeweile oder Angst, Schmerz oder Freude vermögen im erlebenden Subjekt ein Zeitgefühl entstehen zu lassen, das sich beschleunigt oder verlangsamt und das den Gang der ontologischen Zeit also womöglich tiefgreifenden Störungen unterwirft." Strawinsky selbst bemerkt, solche Musik hafte nicht am tönenden Augenblick, sondern eile ihm voraus, sie richte sich "im Unbeständigen ein, was sie befähigt, die Gemütszustände ihres Autors wiederzugeben. Alle Musik, in der der Ausdruckswille vorherrscht, gehört dem zweiten Typus an." In seinen biografischen Notizen zur Psalmensinfonie heißt es u.a.: "Die meisten Leute lieben die Musik, weil sie in ihr Gemütsregungen finden wollen, Freude, Schmerz, Trauer, Begeisterung an der Natur, einen Anlass zum Träumen oder schließlich noch ein Vergessen des 'prosaischen Lebens'. Sie suchen in ihr ein Rauschmittel, ein 'Stimulans'. … Wenn diese Leute doch lernen wollten, die Musik um ihrer selbst willen zu lieben!"

Der 'Ausdruck' ist der Gewinn, auf den wir so gern spekulieren: der eigentliche Wert der Aktie aber sind die Ordnung und der Inhalt der Töne. Oder, mit den Worten Albert Schweitzers in Bezug auf die h-Moll-Messe: "er (Bach) bestrebt sich, das Großartig-Objektive des Glaubens zur Darstellung zu bringen." In diesem Sinne artikuliert unser Programm heute Musik des "ersten Typus", um bei Strawinskys Terminologie zu bleiben. Das "Großartig-Objektive des Glaubens", die Ordnung der Töne beschäftigen auch unsere Zeitgenossen Jörg Milbradt und Jörg Herchet, deren Kantaten-Zyklus "Das geistliche Jahr" eine moderne Antwort auf Bachs Kirchenkantaten darstellt. In seiner Einführung gibt José Luis Melchor Galindo deutlich zu erkennen, dass auch hier Form, Struktur und Inhalt eine besondere Synthese eingehen und der Auffassung Bachs und Strawinsky zumindest ähneln.

Es wäre völlig falsch, hinter dieser Haltung elitäre Kunst um der Kunst willen zu vermuten – wenn, dann Kunst 'um Gottes willen', um der göttlichen Ordnung willen. Das verbindet die Werke und ihre Schöpfer am heutigen Abend.

Bachs Kurzmessen (fünf an der Zahl, jene in h-Moll wird später zur vollständigen Messe erweitert) entstanden in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts, BWV 234 in A-Dur und 236 in G-Dur datieren von 1738/39. Martin Geck vermutet, dass das hier wie überall bei Bach anzutreffende Parodieverfahren darauf zurückzuführen ist, dass er seine zeitgebundenen Kirchenkantaten 'retten' will: "Vielleicht will sich Bach in der Zeit ihrer Entstehung nicht mehr damit abfinden, dass seine Kirchenkantaten mit ihren Libretti veralten und tendenziell unbrauchbar werden." (Schweitzer merkt an, die Messen seien das Ergebnis Bachscher Beflissenheit nach der Ernennung zum Hofkompositeur und unterstellt sogar, der Komponist habe sich nicht um die Bedeutung seiner Musik gekümmert. Dem hält Geck (mit einem Zitat Friedhelm Krummachers) entgegen:
    "Als Vorlage des Gloria der A-Dur-Messe BWV 234 hat Bach den Satz 'Friede sei mit euch' aus der Kantate 'Halt im Gedächtnis Jesum Christ' BWV 67 gewählt, auf den die originäre Bezeichnung Arie kaum zutrifft, da er 'eine Szene von opernhafter Drastik dar(stellt), die bei Bach Ihresgleichen sucht'. Nach einem neuntaktigen Instrumentalvorspiel setzt die Vox Christi in gemessener Rede mit dem Segenswunsch 'Friede sei mit euch!' ein; der Chor antwortet lebhaft: 'Wohl uns, Jesu, hilf uns kämpfen und die Wut der Feinde dämpfen, Hölle, Satan, weich'. Es folgt eine vielgliedrige Wechselrede von Vox Christi und Chor. Dass ein Satz solcher Struktur als Parodievorlage für ein Gloria Gedient hat, wäre dem Auge vielleicht des scharfsinnigsten Parodieforschers entgangen, wenn das Originalwerk nicht erhalten wäre. Indessen können wir die Verfahrensweise Bachs im Einzelnen nachvollziehen. Dieser nutzt das neun Takte lange Orchestervorspiel der Arie, um den einleitenden Chorabschnitt Gloria in excelsis Deo' unterzubringen. So steht für die Worte 'et in terra pax hominibus voluntatis' in passender Weise der Abschnitt zur Verfügung, dem im Original die Vox Christi 'Friede sei mit euch' unterlegt ist. Danach setzt der Chor mit 'Laudamus te' statt mit 'Wohl uns, Jesu, hilf uns kämpfen' ein."
Interessant ist in diesem Zusammenhang noch eine weitere Verbindung, die Bach knüpft: er beginnt das Kyrie mit einem punktierten Rhythmus im 3/4 -Takt, den Schweitzer mit einem eigenen Kapitel würdigt, ihn in Verbindung mit "Feierlichkeit" bzw. "Majestät" bringt und darauf hinweist, dass auch die schwerfällige Bewegung des Ganges zum Kreuz ('Komm süßes Kreuz', Bass-Arie in der Matthäus-Passion) und die Geißelhiebe damit gekennzeichnet sind. Eben diesen Rhythmus nutzt Bach aber nicht nur im Kyrie, sondern zitiert ihn erneut im langsamen Teil 'et in terra pax' des Gloria. Im Letzteren ist der punktierte Rhythmus adagio e piano notiert, während der Grundgestus im Kyrie eher fester und schärfer sein muss. Aus der Polonaise des Kyrie (bei Bach häufig anzutreffen und möglicherweise ein Tribut des Komponisten an das sächsische Königshaus, das ja auch Polen befehligte) wird beim 'in terra pax' eher eine ruhigere Sarabande: die Geißelhiebe des angerufenen Heilands sind somit motivisch wie rhythmisch untrennbar mit dem Frieden auf Erden verbunden – das zumindest legt die motivische Brücke nahe! (Dass die Polonaise zum Text "Herr erbarme dich" darüberhinaus eine recht bittere Pointe sein könnte, wollen wir an dieser Stelle nicht weiter verfolgen.)

Im Christe eleison greift Bach auf einen Topos der Matthäus-Passion zurück, das streicherbegleitete accompagnato der Christus-Worte. Hier allerdings wird der rezitativisch-improvisatorische Gestus völlig anders ausgestaltet, statt eines Solos erklingen deren vier in doppelt fugiertem Kontrapunkt und mit kompliziertesten Harmonien und Verzierungen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Bach beim zweiten Kyrie (in das nochmals die Worte 'Christe eleison' integriert sind!) auf einen fast ausgelassenen 3/8-Takt zurückgreift.

Zum Gloria wurde oben schon geschrieben. Vor den 3 Arien endet der chorische Teil, der in den langsamen Teilen sicher von Soli gesungen wurde, wiederum langsam. Wir haben in unserer Version auch diesen Teil den Soli anvertraut, wodurch die Parallele zum 'Christe eleison' besonders deutlich wird. Die Tonarten Fis-moll hier und A-Dur dort tun das Ihre, die Beziehung zu unterstreichen.

Weitere Parodien sind die Arie des 'Qui tollis', entnommen der Kantate BWV 179 und dort mit dem Text 'Liebster Gott, erbarme dich' unterlegt, die Arie des 'Quoniam', entnommen der Kantate BWV 79 Gott der Herr ist Sonn und Schild' sowie auch das abschließende Cum sancto spiritu', das in der Kantate 'Erforsche mich Gott, und erfahre mein Herz' als Eingangschor komponiert wurde. Langsame 3/4 - sowie rasche 3/8, 6/8 oder 12/8 -Takte dominieren in der A-Dur-Messe. So nimmt es nicht wunder, wenn das Werk auch mit einer ausgelassenen Gigue schließt, die Chor und Soli ausdrücklich miteinander abwechseln lässt.

Die Psalmensinfonie von Strawinsky ist wie einige seiner Werke "zur Ehre Gottes" geschrieben und – in diesem Fall – dem Boston Symphonie Orchestra zugeeignet, das sein 50. Jubiläum mit der Komposition schmückte. Kussewitzky, der legendäre Leiter des Orchesters, wollte eine Sinfonie, Strawinskys Verleger riet zu "etwas Populärem", in der Wahl der Mittel hatte der Komponist volle Freiheit. "Mir schwebte eine Sinfonie mit großer kontrapunktischer Entwicklung vor … Ich entschloss mich daher, ein Ensemble zu wählen, das aus Chor und Orchester zusammengesetzt ist und bei dem keines der Elemente dem anderen übergeordnet, beide also völlig gleichwertig sind…. Auch (die alten Meister) behandelten Chor und Orchester gleich und beschränkten weder die Rolle des Chors auf homophonen Gesang noch die Funktion des Orchesters auf die Begleitung." Bei der Wahl des Textes geriet Strawinsky schnell an die Psalmen – für ihn "Gedichte der Verzückung, aber auch des Zorns und des Strafgerichts, ja sogar der Flüche". Den zum Tanz vor der Bundeslade gehörenden 150. Psalm wollte der Komponist von Anfang an "auf eine eher gebieterische Art" behandeln, hatte sich dabei von vielen Vorbildern abzusetzen, die eher einen jubelnden Ton anschlagen und fand schließlich im Kontrast die Lösung: langsamstes Zeitmaß, piano statt forte in den Außenteilen, im Mittelteil dagegen motorisches Hämmern und fast rhythmisches Sprechen.

Strawinsky lehnt alle Bezüge zu Gemütsbewegungen, ja sogar zu inhaltlichen Anregungen ab. So sahen einige im Chorbeginn des ersten Satzes phrygische Modi (die Melodie kreist um die Töne E und F), erblickten einen Rückgriff auf gregorianische Gesänge und Byzantinismen. Der Komponist schimpft in diesem Zusammenhang über die "haarspalterischen Vielschreiber" – er habe den 1. Satz "in einem Zustand religiöser und musikalischer Verzückung" geschrieben. An dieser Stelle zeigt sich die wundervolle Widersprüchlichkeit des Strawinskys, der einerseits geradezu hochmütig über Leute schreibt, die in der Musik Gemütsregungen erwarten, andererseits gesteht er ein, eins seiner bedeutendsten Werke im Zustand der Verzückung komponiert zu haben. Ähnliches zeigt sich auch bei der 15 Jahre später entstandenen Sinfonie in drei Sätzen, zu der er im New Yorker Programmheft der Uraufführung mitteilt. "Der Sinfonie liegt kein Programm zugrunde, es wäre vergeblich, ein solches in meinem Werk zu suchen. Allerdings mag es sein, dass die Reaktion, die unsere schwierige Zeit mit ihren heftigen und wechselnden Ereignissen, ihrer Verzweiflung und Hoffnung, ihrer unausgesetzten Peinigung, ihrer Anspannung und schließlich Entspannung bei mir ausgelöst hat, seine Spuren in dieser Sinfonie hinterlassen hat." In den Gesprächen mit Robert Craft benutzt Strawinsky für die Sinfonie in drei Sätzen sogar den Terminus "Kriegs-Sinfonie".

1930, zur Zeit der Entstehung der Psalmensinfonie, ist davon noch wenig zu ahnen. Das Spiel mit Formen, Intervallen, Rhythmen prägt das Werk. Mit den Mitteln der "Analogiebildung", der "Anstrengung des spekulativen Willens" befeuert er seinen kompositorischen Prozess und zwingt so eine Ordnung herbei innerhalb der irritierenden Mannigfaltigkeit: "Wenn die Mannigfaltigkeit mich anlockt, dann bin ich beunruhigt über die vielen Möglichkeiten, die sie mir bietet, während die Analogie mir Lösungen vorschlägt, die zwar schwieriger sind, dafür aber auch Resultate in Aussicht stellen, die infolge ihrer Solidität mehr Wert für sich haben."

Der erste Satz ist geprägt von drei Elementen: kurzen Akkordschlägen, rotierenden Akkordfiguren und melodischen Linien. Dabei schwingen sich die Linien im Verlaufe immer stärker und kraftvoller auf und führen die Entwicklung vom herben e-Moll des Beginns ("Erhöre mein Gebet") schließlich zu geradezu enthusiastischem G-Dur ausgerechnet bei den Worten "Lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe ich dahinfahre und nicht mehr bin." Die überraschende Dur-Tonart indessen entpuppt sich sogleich als Dominante zum folgenden zweiten Satz, einer Doppelfuge in c-Moll, deren erste Themendurchführung die Holzbläser übernehmen (aufwärts, Achtelnoten und bewegte Sechzehntel); die zweite Durchführung bringt das Thema des Chores – abwärts gerichtet und mit doppelt so langen Notenwerten (Viertel und Achtel), jedoch weiter begleitet vom Holzbläserthema. Durchführung 3 ist eine Engführung des Chorthemas als a-cappella-Satz, worauf Durchführung 4 (wieder im Orchester) einen Zwischenspielcharakter im Piano darstellt. Mit großer Wucht folgt eine Coda, bei der das erste Thema der Holzbläser u.a. in der Pauke im Fortissimo erklingt. Hierzu hören wir die Worte: "Er hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott. Das werden viele sehen und sich fürchten" – erst beim abschließenden "et sperabunt in DOMINO" ("und auf den Herrn hoffen") verlässt die Musik den aufrüttelnd-dissonanten Gestus und kehrt zum einstimmigen Gesang auf dem Ton Es zurück, während in den Orchesterbässen letztmalig das Thema der Holzbläser zitiert wird.

Im Zusammenhang mit dem "Alleluja" des letzten Satzes erzählt der Komponist von seiner Erinnerung an den jüdischen Kaufmann und Kosmopoliten Gurian, der in St. Petersburg unter ihm lebte und an religiösen Festtagen in seiner Wohnung ein Gebetszelt errichtete. Das Hämmern habe sich Strawinsky eingeprägt wie ein eigenes religiöses Erlebnis. Interessanterweise muten die 3 Akkorde, die die 4 Silben des "Alleluja" (Trinität plus Welt! – sh. auch die Einführung zu Herchets Kantate) in sich aufnehmen, geradezu romantisch an, ehe eine Art archaisches Geläut beginnt, das jüngere Musikwissenschaftler (Gerd Rienäcker) an Wagners Parsifal erinnert – ob zutreffend oder nicht, sei dahingestellt: als kritischer Kommentar zu Wagner lässt sich das mögliche Zitat durchaus hören. In seiner Musikalischen Poetik notiert Strawinsky: "Wagners Musik ist im streng musikalischen Sinn mehr Improvisation als Konstruktion." Oder, etwas drastischer: "…ich behaupte, dass zum Beispiel in der Arie La Donna è mobile (aus Verdis Rigoletto, EK), in der jene Elite nur klägliche Oberflächlichkeit sah, mehr Substanz und mehr wahre Erfindung steckt als in dem rhetorischen Redeschwall der Tetralogie. Ob man es will oder nicht: das Drama Wagners leidet an chronischer Aufgedunsenheit." Strawinskys 'Geläut' wechselt beständig zwischen c-Moll und C-Dur, ehe nun der schnelle Mittelteil des dritten Satzes beginnt und einerseits vielleicht an das Klopfen des Juden Gurian erinnert, andererseits aber von den göttlichen Taten die Rede ist und somit die meditative Grundhaltung der metrischen Belebung weicht. Beim "Laudate Eum in virtutibus Eus" wird wieder das "Exaudi" des 1. Satzes zitiert – diesmal aber mit großer Sekunde statt mit kleiner. Die thematische Klammer könnte darauf verweisen, dass die Gebete (1. Satz) erhört und durch Gottes Taten (3. Satz) beantwortet worden sind. Immer stärker gewinnen die motorischen Kräfte die Oberhand, ehe bei dem Lob "mit Pauken und Reigen, Saiten und Zimbeln" sogar feine Ironie Einzug hält: in einer beinahe banalen Dreiklangsbrechung notiert der Komponist im Legato sogar die von Sängern oft fälschlich eingefügten Zusatzvokale und -konsonanten. "Lau- (hau)- da- (ha)- te- (he) Eum"… heißt es in der Partitur und wir können es uns nicht anders erklären, dass Strawinsky hier das ohnehin Unvermeidliche zum Stil macht und ausdrücklich mit komponiert. Der letzte Teil des Satzes greift wieder das 'Geläut' auf, über dem die Chorsoprane eine Dreitonmelodie (Trinität!) in unendlicher Langsamkeit zelebrieren (Viertel 72, rigorosamente, notiert Strawinsky).

In einer überlieferten Dokumentation probiert der Komponist als Dirigent genau jene Passage, fordert exakte Dynamik, deutliche Akzente und genaues Piano subito. Das Video ist ein wundervoller Beweis für Strawinskys Worte: "Ich habe oft gesagt, dass meine Werke gelesen, ausgeführt, aber nicht 'interpretiert' werden sollen! … ich finde nichts in ihnen, was eine 'Interpretation' erfordern würde!"

Seine Musik glüht gerade durch das Bemühen um die Reinigung des Denkens ("Reinige dein Denken, lös es vom Wertlosen, weihe es Wahrem", wird wenig später Schönbergs Moses zu seinem Bruder Aron sagen!) auch, um Bewusstheit der Form, um Disziplin und Ordnung, die zu neuer und größerer Freiheit führt und letztlich ein Stück göttliche Ordnung symbolisiert. Nach Temperament und Neigung habe er wohl eher wie Bach "für das Amt und für Gott schaffen sollen", so der Achtzigjährige – womit die Brücke zur einleitenden Messe in A-Dur evident wird.
Ich bin überzeugt: bei allen drei Werken auch die zur Advents- und Weihnachtszeit.

1
Nov
2008

Eröffnung des neuen Konzertsaales

Ich glaube, das war das anstrengendste Konzert meiner Dirigentenkarriere: in Anwesenheit von meinem Lehrer GMD Prof. Siegfried Kurz, meinem zeitweiligen Lehrer GMD Prof. Hartmut Haenchen, von Peter Schreier, Theo Adam, Peter Damm, Ludwig Güttler, von vielen Hochschulkollegen und Studenten - dirigierenden wie musizierenden ein Programm mit Werken von Schumann, Goldmann (UA), Weber und Strauss zu drigieren... und das alles noch in Dresden, wo jede noch so kleine Panne argwöhnisch notiert wird und nichts gut genug sein kann (was ja an sich nicht schlecht ist...). In dieser Atmosphäre und Szenerie einigermaßen ungeschoren und teilweise sogar mit anerkennenden Worten den Ring zu verlassen, kann durchaus als Erfolg gelten.

Vor allem aber herrscht Einigkeit: der neue Saal ist gelungen! Chor, Soli und Orchester haben Großes geleistet und einen spannenden, wundervollen Abend gezaubert, bei dem wir alle die Nerven behalten haben...

Am 3.11. wird man sich 20.00 Uhr in MDR Figaro davon überzeugen können.

31
Okt
2008

mein neuer Arbeitsplatz

von innen:

Konzertsaal-innen

und recht einladend auch von außen:

Konzertsaal-aussen

Herzlich willkommen! Mehr zu den Veranstaltungen auf www.hfmdd.de.

1
Okt
2008

Festkonzert zur Eröffnung des neuen Konzertsaals der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden

Konzertsaal

Das Konzert wird eingeleitet vom dritten Teil der Faust-Szenen von Schumann. Ein Einführungstext:

"Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte."

(Goethe an Eckermann)

"Das Ergriffensein von der sublimen Poesie gerade jenes Schlusses ließ mich die Arbeit wagen."

(Schumann an Mendelssohn)

Im Jahr 1849 jährte sich der Geburtstag Goethes zum 100. Mal. Aus diesem Anlass fand ein musikgeschichtlich seltenes und interessantes Ereignis statt – eine Ringuraufführung. Der (spätere) dritte Teil von Schumanns FAUST-Szenen erklang gleichzeitig unter Julius Rietz in Leipzig, unter Franz Liszt in Weimar und im Palais des Großen Gartens unter Schumanns eigener Leitung in Dresden, wo die Familie fünf Jahre gelebt hatte, bevor sie nach Düsseldorf zog. Die Dresdner Aufführung, bei der auch Mendelssohns Erste Walpurgisnacht erklang, mündete in eine Art Volksfest, "an verschiedenen Punkten des Gartens" wurde "gesungen, musiziert und jubiliert".
Dresdner Musikfestspiele anno 1849...?!

Das Werk muss demnach als ein Stück originäre Dresdner Musikgeschichte angesehen werden. Nicht nur die Uraufführung des letzten Teiles fand hier statt: wichtige Nummern wurden auch in Dresden entworfen, konzipiert und im Detail niedergeschrieben. Etwa 10 Jahre arbeitete Schumann an der Komposition, zuletzt entstand im Jahr 1853 die Ouvertüre. Clara Schumann hielt es für eines der wichtigsten ihres verstorbenen Mannes; Joseph Joachim, der bedeutende Geiger und Freund von Brahms befand kurz. "Und dann das Herrlichste – Faust."

Wenn Heine vom "Riß der Verzweiflung" sprach, den er durch die Welt gehen sah, meinte Schumann, diesen durch die Kunst heilen zu können und bezog sich dabei explizit auf die Literatur und den Humor Jean Pauls sowie auf die Musik Beethovens.

Erst gegen Ende seines Lebens und mit wachsendem persönlichen Misserfolg (zunächst in Leipzig, dann in Dresden, zwischenzeitlich in Wien, zuletzt in Düsseldorf) dominieren düstere Gedanken und Ahnungen. Die politischen Ereignisse tun das Übrige: vom Geschehen im revolutionären Mai 1849 wenden sich die Schumanns angesichts der Leichen in den Straßen Dresdens ab und fliehen nach Maxen. Ausgerechnet in diesem Revolutionsjahr also erklingt in Dresdens Großem Garten die wahrscheinlich poetischste, lyrischste und kongenialste Musik, die zu Goethes Dichtung erdacht wurde und erzählt uns von der Hoffnung, die zerrissene Welt durch Poesie und Kunst heilen zu können. Von einer Chorsängerin ist der Satz überliefert: "Bei dem Studium dieser herrlichen Musik vergaßen wir die trübe Außenwelt."

Der Musikwissenschaftler Armin Gebhardt setzt sich vehement für eine Neubewertung der Dresdner Jahre Schumanns ein und hält diese Zeit für eine ebenso bedeutende im Leben des Komponisten wie jene in Leipzig. Klavierkonzert op. 54, Manfred-Musik, Konzertstück für 4 Hörner, 2. Sinfonie, Faust-Szenen, verschiedene Fantasiestücke u.v.a.m. gehören von der entscheidenden Entstehungsgeschichte her nach Dresden. Hinzu kommen zahlreiche wichtige Begegnungen, zu denen jene mit Richard Wagner als nur eine von vielen zu nennen ist: Schumann erlebte die Einstudierung des TANNHÄUSER und die Entstehung des LOHENGRIN aus nächster Nähe. Demgegenüber existiert das Bild des schweigsamen Sonderlings (Wagner: "sonderbar wortkarg", Hebbel "unangenehmer Schweiger"), der durch seine Art auch in den von ihm geleiteten Ensembles Mühe hatte. Dies war wohl in Dresden ebenso der Fall wie später verstärkt in Düsseldorf. Auseinandersetzungen mit der Künstlergattin Clara, die zudem unter den ständigen Schwangerschaften und dem Tod eines Kindes litt, mögen hinzugekommen sein.

Vor diesem Hintergrund trägt die Beschäftigung Schumanns mit FAUST sicher auch autobiografische Züge, interessanterweise wohl vor allem in jenen später komponierten Teilen, die nach der "Dritten Abtheilung" entstanden sind. In dieser blicken wir mit Schumann in den 'anschaubaren Himmel' Goethes, den er am Ende seiner Dichtung vor uns ausbreitet. Dieses letzte Drittel der Vertonung war zuerst beendet und stellt den geschlossensten Teil des Gesamtwerkes dar, der aufgrund seiner Aufführungsgeschichte jederzeit auch die alleinige Wiedergabe rechtfertigt.

In vollendeter Lyrik schwingt der 9/8-Takt (in der Haupttonart F-dur) "Waldung sie schwankt heran" – ein Stück, das 60 Jahre später von Gustav Mahler ins bizarr Schauerliche geführt wird (in seiner "Sinfonie der Tausend").
Liedhafte Strukturen prägen den Gesang des Pater ecstaticus, den nachfolgenden des Pater profundus und des Pater seraphicus mit dem Chor seliger Knaben. Auffallend sind ständige Wechsel duolischer und triolischer Strukturen, die bereits in den ersten beiden Teilen des Werkes das Verhältnis Faust – Gretchen prägen und nun wiederkehren in neuem Gewand.

In warmtönendem As-Dur hebt danach zunächst hymnisch der große Chor

Gerettet ist das edle Glied der Geisterwelt vom Bösen

an und geht über die Stationen der 'Rosenmelodie' – eine der wohl zauberhaftesten Einfälle im ganzen Opus – , über die harmonisch wie rhythmisch unbestimmt huschenden Triolen des

Nebelnd um Felsenhöh' spür ich soeben
regend sich in der Näh' ein Geisterleben


hin zum Ges-Dur-Chor der seligen Knaben. Anschließend greift Schumann – anders als Goethe – erneut auf den Anfangstext zurück und schließt den Kreis zum hymnischen Beginn durch ein Fugato, das an die ausgiebigen Kontrapunktstudien Claras und Roberts aus dem Jahr 1845 erinnert. Der Abschnitt beschwört deutlich die oratorische Tradition Händels oder Haydns herauf.
Neben dem punktierten Hauptmotiv dominiert eine aufstrebende Tonleiter bei

wer immer strebend sich bemüht...

die gegen Ende auf den Eingangstext "Gerettet..." chromatisch wieder abwärts geführt wird.

Damit ist der 'Held' nun tatsächlich gerettet – A. Gebhardt verweist auf die Tatsache, dass der Rest des Werkes der Rettung des Paares Faust-Gretchen gilt und die entscheidenden Worte nicht Gott der Herr (analog dem Prolog im Himmel) spricht, sondern die Mater gloriosa.

Es kann hier nur spekulativ erinnert werden, dass die Künstlerehe zwischen Robert und Clara – wie glücklich oder bisweilen belastet auch immer – nicht nur eine Liebesheirat war, sondern als Beziehung Mitte des 19. Jahrhunderts wohl eher eine Seltenheit darstellte. Wie viel autobiografische Züge Schumann deshalb gerade der Verklärung des Paares gegeben hat, darüber kann nur hörend gemutmaßt werden. Wir hören: – ein bestrickend lyrisches Stück Musik, mündend in die flehentliche Bitte des Dr. Marianus (Faust)

Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin bleibe gnädig!


Dem folgt mit dem Chorus mysticus einer der großartigsten zusammenhängenden Chorentwürfe der gesamten Romantik! Allein die langsame Einleitung stellt ein tönendes Universum dar, dominiert vom doppelt fallenden Quintmotiv, begleitet von Oktaven auf und ab, von chromatischen Gängen (bei den Worten "das Unzulängliche, hier wird's Ereignis"!) und auch von den das Stück prägenden Triolenstrukturen. Das Ganze wird kontrapunktisch als Fugato geordnet, schwingt sich hymnisch auf und führt den 8-stimmig gesetzten Chor in die Soli hinein, die den Doppelchor des Finales vorbereiten.

Es ist eine Ironie der Entstehung des Werkes, dass Schumann mit dem folgenden Finale unzufrieden war und einen weiteren Schlusschor entwarf, der dem ersten, wie er schrieb, vorzuziehen sei. Clara scheint um den ersten Schluss gekämpft zu haben, fand ihn gelungener, was eine wundervolle Pointe ist: Clara mag die lebhaft-kräftigere – die 'männliche'? – Robert dagegen bevorzugt die lyrisch-verhaltene – die 'weibliche'? – Schlussversion!
In der Aufführungstradition des Werkes erhielt Clara recht – die 1. Fassung hat sich durchgesetzt. Ist diese womöglich 'effektvoller', so ist die nachkomponierte auf alle Fälle 'wertvoller': sie ist formal größer strukturiert (ABA plus Coda) und arbeitet mit diffizilen kontrapunktischen Finessen (u.a. der Augmentation eines der Hauptthemen). Die Doppelchörigkeit ist subtiler, die Soli sind stärker in die Kontrapunktik eingebunden. Ein lyrischer Schleier liegt über dieser Version.
Nachdem in einer Aufführung des Gesamtwerkes durch die Singakademie Dresden 2005 die erste Fassung erklang, haben wir uns aus Anlass der Eröffnung des neuen Konzertsaals im Sinne Robert Schumanns für die zweite entschieden – sie rundet die alleinige Aufführung des dritten Teils in besonderer Weise und symbolisiert wohl am deutlichsten das, was Schumann mit dem eingangs zitierten "Ergriffensein von der sublimen Poesie gerade jenes Schlusses" meint.

Das Unbeschreibliche, hier ist's getan.

Friedrich Goldmann - Wege Gewirr Ausblick; Uraufführung aus Anlass der Eröffnung des neuen Konzertsaals der Dresdner Hochschule für Musik Carl Maria von Weber

Goldmann

Wege Gewirr Ausblick Friedrich Goldmann
Auftragswerk der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden zur Eröffnung des Konzertsaales 2008

Was ist "sozialistischer Realismus", wurde Friedrich Goldmann 2003 in einem Interview des SWR gefragt: "Schlechter Geschmack", war die ebenso knappe wie bündige Antwort – vorgetragen mit einem wunderbar trockenen Humor, der dem Komponisten eigen ist und im Übrigen korrespondiert mit dem nicht zu verleugnenden Sächsisch seiner Heimat Chemnitz. Dort – genauer: in Siegmar-Schönau, heute ein Ortsteil im Westen der Stadt – wurde Goldmann 1941 geboren, kam mit 10 Jahren nach Dresden und wurde Mitglied des Dresdner Kreuzchores. Schon 1959 begegnete er bei den Darmstädter Ferienkursen Karlheinz Stockhausen – folgerichtig kam es bereits innerhalb des Studiums in Dresden (bei Johannes Paul Thilman) zu Auseinandersetzungen.

Goldmann war unbequem. Er ging nach Berlin, auf Empfehlung Paul Dessaus in die Meisterklasse zu Rudolf Wagner-Régeny. Von dort gab es erste Kontakte zum Berliner Ensemble, zu Heiner Müller, Helene Weigel, Adolf Dresen, Thomas Brasch, Ruth Berghaus, Karl Mickel, Luigi Nono, Dieter Schnebel u.v.a.. Goldmann schlug sich "frei schaffend" durch. Im Gespräch heißt es dazu, die Miete für das Zimmer hätte 22,50 Mark betragen, Brötchen waren billig, für den Kaffee reichten einige Abende Skat mit befreundeten Musikern, und sonst wären nur Zigaretten nötig gewesen. Später hätte er Geld vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, durch Dirigieren verdient – Notenpapier gab es beim Verband der Komponisten umsonst…

Goldmann gehörte zu denen, die in der DDR für Öffnung und Avantgarde im Komponieren standen – immerhin wurde er trotz aller Schwierigkeiten mit verschiedenen Preisen geehrt. Für mich selbst waren die musikalischen Begegnungen mit seinen Werken der 70-er und 80-er Jahre waren elementar. Oboenkonzert und Violinkonzert sog ich aus dem Äther von Radio DDR 2, eine Aufführung des Klavierkonzertes erlebte ich live in Berlin, jene von "Inclinatio temporum" (für die Dresdner Staatskapelle) in Dresden – es waren richtungsweisende Musikerlebnisse. Goldmann – darin möglicherweise sogar 'dresdentypisch' handwerklich geprägt – schrieb eine vor allem formal und klanglich überzeugende Musik: intensiv, mit großem Bogen und Atem, virtuos, ausgehört bis in die letzten Verästelungen, hoch sensibel, doch stets auch emotional aufrüttelnd, teils sogar aggressiv.

Inzwischen ist Friedrich Goldmann im vereinten Deutschland einer der führenden Köpfe der avancierten Musikszene. 1990 wurde er - noch vor der offiziellen Vereinigung der Akademien - zum Mitglied der Westberliner Akademie der Künste und zum Präsidenten der Deutschen Sektion der IGNM gewählt. Nach der Wiedervereinigung war Goldmann bis 1997 Präsident der Gesellschaft für Neue Musik für die Sektion Bundesrepublik Deutschland. 1991 übernahm er eine Professur für Komposition an der Hochschule der Künste, Berlin (heute Universität der Künste). Er leitete dort das "Boris-Blacher-Ensemble". Viele Schüler wie etwa Johannes Wallmann, Nico Richter de Vroe, Jakob Ullmann, Enno Poppe, Sergej Newski, Steffen Schleiermacher und Ellen Hünigen haben von seinem Unterricht profitiert, als Dirigent mit inzwischen internationaler Reputation hat er sich verstärkt für sie eingesetzt. Umgekehrt wurden Goldmanns Werke von den bedeutendsten Orchestern und Dirigenten musiziert, von denen die Sächsische Staatskapelle, die Berliner Philharmoniker, das Gewandhausorchester Leipzig und die Namen Blomstedt, Barenboim oder Eötvös nur eine kleine Auswahl darstellen.

Das neue Werk – Wege Gewirr Ausblick – ist ein ca. 15-minütiges Orchesterstück, das in seinem Titel bewusst auf die Gedankenstriche verzichtet. Keinesfalls soll der Eindruck erweckt werden, es gehe über Wege ins Gewirr und am Ende gäbe es einen neuen Ausblick – kein vordergründiges per aspera ad astra also, wenngleich auch eine solche Deutung als Variante nicht ausgeschlossen bleibt. Persönliche Eindrücke, Empfindungen, sogar bestimmte Ortserlebnisse stehen hinter dem assoziativ gemeinten Titel, der suggeriert, dass Wege, Gewirr und Ausblick sehr oft durchdrungen und verschlungen sind. Ein neuer Ausblick kann auch wirr sein, ein Gewirr sich zum Weg lichten, ein Weg den Ausblick versperren…
So beginnt die neue Partitur mit scharfen pizzicati der Streicher, die vom Schlagwerk und tiefen Klarinetten verstärkt werden. Eine staccato-Figur der Holzbläser setzt die Szene fort und erscheint im Verlauf des Stückes in verschiedenen Tempi. (Goldmanns Denken in Szenen hat sich bis in die Stücktitel fortgesetzt: seine "Klangszenen 1-3 wurden vom SWF-Orchester, den Berliner Philharmonikern und dem Konzerthausorchester aufgeführt.) Auf- und Abschwünge des Tuttis forcieren oder bremsen die Entwicklung. Dazwischen erklingen virtuose und sehr kammermusikalisch besetzte "Trios" (in formalem Sinne) im 3/8-Takt. Zunächst Klarinetten plus Schlagwerk und Harfe, später gedämpfte Trompeten plus Schlagwerk und Harfe oder (beim dritten Mal) recht apart mit Violen, Celli, Harfe, Klavier, Schlagwerk und Solo-Piccolo besetzt. Diese beinahe barocken Elemente im Stile eines concerto grosso sind zwischen die sich vielschichtig und vielfarbig entwickelnden Flächen und Linien 'geschnitten' – Weggabelungen, Sackgassen, vielleicht auch neue Hinweisschilder… Ein tiefes fis der Pauke und tiefer Bläser schiebt sich drohend in den Vordergrund und führt zum Kulminationspunkt, nachdem sich eine neue Szene öffnet: ein Synthesizer und zwei im Saal spielende Violinen erschließen eine klanglich und räumlich neue Dimension. Dissonante wie diatonische Klangblöcke durchdringen sich, werden erneut mit Elementen des ersten Teiles kontrapunktiert und enden schließlich im pianissimo eines tickenden Holzblocks…

Es ist dem Hochschulsinfonieorchester und ganz besonders mir selbst eine Ehre, das neue Werk zur Uraufführung zu bringen. Die in einer CD-Rezension von Hartmut Lück in der Neuen Zürcher Zeitung diagnostizierte "konstruktive Architektonik" Goldmanns zeigt hier durchaus impressionistische Züge und verrät damit auch ein Vorbild der Dresdner Studienjahre des Komponisten: Debussy.
Möge das neue Werk den neuen Raum der Hochschule und den symbolischen der Musikwelt erobern und zum Klingen bringen. Danke – Friedrich Goldmann!

Ekkehard Klemm

27
Sep
2008

Konzert in Hellerau

hellerau

Im Rahmen der Tage der zeitgenössischen Musik in Dresden habe ich kurzfristig die Leitung eines Konzertes des Ensembles Msica viva Dresden übernommen, u.a. mit "Hollywood extra" von David Sawer und der Kammersinfonie von Hanns Eisler.

Datum: 5.10.08, 20.00 Uhr im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau

Und hier noch ein interessanter Link zur Kammersinfonie als Filmmusik: die Seiten der Hanns-Eisler-Gesellschaft

Eisler1943DVD

"Mariengesänge" - a-cappella-Programm des Kammerchores der Singakademie Dresden

SAD

MARIENGESÄNGE
Chormusik a-cappella zum Thema "Maria"

Josquin Desprez Ave Maria (um 1497)
ca. 1440 – 1521
Giovanni Pierluigi da Palestrina Ave, mundi spes, Maria (ohne Angabe)
ca. 1525 – 1594
Heinrich Schütz Meine Seele erhebt den Herren
1585 – 1672 Deutsches Magnificat, 4-st. (1657)
Arvo Pärt Magnificat (1989)
*1935
Henry Purcell Magnificat (vor 1683)
(um 1659 – 1695) My soul doth magnify the Lord
Bohuslaw Martinů Jungfrau Mariens Bild (aus Vier Lieder
1890 – 1959 über Maria; 1934)
Svatý Lukaš, maléř Boží
Giuseppe Verdi Ave Maria (aus Quattro pezzi sacri 1898)
1813 – 1901
Johann Eccard Übers Gebirg Maria ging
1553 – 1611 aus "Preußische Festlieder" (1598)
(nach dem Magnificat der Maria)
Michael Praetorius Es ist ein Reis entsprungen (1609)
1571 – 1621
Johann Eccard Maria wallt zum Heiligtum
1553 – 1611 aus "Preußische Festlieder" (1598)
(nach dem Nunc dimittis des Simeon)
Heinrich Schütz Deutsches Magnificat zu acht Stimmen auf
1585 – 1672 zwei Chören (1671)


"MusikTheoLogie" ist das Motto, welches die Konzerte der Singakademie 2008 prägt: Musik, Gottesverständnis und verkündigtes oder literarisches Wort stehen im Zentrum der Betrachtung. Die Figur der Mutter Jesu Christi hat die Evangelisten und Apostel, die Liederdichter und Komponisten zu allen Zeiten zu besonders andächtigen, auch prachtvollen, stets aber vor allem eindringlichen Werken inspiriert. Ihr einen ganzen Abend zu widmen, ist eine spannende Reise durch die Geschichte von Musik, Theologie und Wort.

Ausdrucksmusik vor 500 Jahren

Im vorliegenden Programm schlagen wir einen Bogen über 5 Jahrhunderte und beginnen bei Josquin Desprez, einem franko-flämischen Komponisten der Frührenaissance. Seine vierstimmige Komposition des "Ave Maria" ist von kanonischen Imitationen geprägt und folgt strengen Kontrapunktregeln. So sind Auf- und Abwärtsbewegungen klar festgelegt, nicht zu viele Stufen in jede Richtung durfte es geben, ebenso wenig konnte bei der Aufwärtsbewegung einem großen Intervall (z.B. der Quarte) ein noch größeres folgen. Stattdessen folgt dem Sprung die Stufe oder die Gegenbewegung. Ähnlich strengen Vorgaben folgt die Handhabung der Dissonanz und ihrer Auflösung. Josquin beherrschte diese Kompositionsweise so virtuos, dass er sich zahlreicher Freiheiten bediente, die seiner Musik ein besonderes Ausdruckspotential verleihen. Luther bezeichnete sie als "vom heiligen Geist inspiriert".

Musicae princeps

Ca. 70 Jahre später greift Giovanni Pierluigi da Palestrina auf diese Kompositionstechnik zurück, verfeinert und 'glättet' sie. In seinem mittlerweile als Standardwerk geltenden Buch "Kontrapunkt" schreibt Diether de la Motte: "Palestrinas weltmännische Souveränität machte diese Sprache gerade dadurch zu einer gleichsam dialektfreien Weltsprache". Josquins ungestümer Expressionismus sei zurückgenommen – "Reife durch Zurücknahme extremer Möglichkeiten". "Ave, mundi spes, Maria" ist eine anonyme Dichtung des hohen Mittelalters, die als Sequenz sehr beliebt war. Das Konzil zu Trient hat viele der Sequenzen in das römische Missale aufgenommen, Palestrina hat sie alle achtstimmig vertont, das "Ave, mundi spes…" allerdings findet sich nicht im Messbuch. Palestrina galt als "Fürst der Musik" (Inschrift auf seinem Grab im Petersdom zu Rom) und hat im Auftrag des Konzils die Kirchenmusik reformiert. Sein kontrapunktischer Stil galt fortan als mustergültig – nicht zuletzt wurde durch sein Wirken die Kunstmusik für die Kirche erhalten.

"Zu Gottes Ehren / und Christlichen nützlichen Gebrauch"

Das 4-stimmige Magnificat von Heinrich Schütz aus dem Jahr 1657 unterscheidet sich von den Kompositionen der niederländischen und italienischen Vorgänger ganz erheblich: mit seinem deutschen Text, der z.T. homophonen Schreibweise, der klaren Struktur und Textausdeutung atmet das Werk den Geist der Reformation: Schütz will, dass der einfache Zuhörer die Botschaft des Evangeliums versteht. In der beim Erstdruck zu lesenden Vorrede von Christoph Kittel ist denn auch davon die Rede, dass diese Musik "zu Gottes Ehren / und Christlichen nützlichen Gebrauch / in Kirchen und Schulen" (!) im Druck erschienen sei. Und in dieser Klarheit spricht auch der vierstimmige Satz zu uns: "die Gewaltigen", die vom Stuhl herabgestoßen werden, purzeln förmlich hinab, "die Niedrigen" dagegen (tiefe Lage) werden motivisch durch einen aufsteigenden Dreiklang erhöht. "Die Hungerigen" werden mit Gütern gefüllt – und das Motiv "füllet er" kommt dabei so oft und auf unterschiedlichen Zählzeiten, dass man tatsächlich meint, beim Ausgießen eines Füllhorns zuzusehen… In endlos sich umschlingenden und kreisenden Linien endet das Stück mit der klassischen Doxologie "…jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen".

Stille und Schweigen

"Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. Ich arbeite mit wenig Material, mit einer Stimme, mit zwei Stimmen. Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt." Dieser "Glöckchenstil" hat Arvo Pärt berühmt gemacht. Er ist einer der bekanntesten und meistaufgeführten zeitgenössischen Komponisten, 1935 in Paide, Estland, geboren und 1980 nach Deutschland emigriert, weil sein Komponieren und nicht zuletzt seine religiöse Musik im kommunistischen Sowjetreich als nicht systemkonform angesehen wurde. Heute lebt er abwechselnd in Berlin und Estland. Die archaischen Dreiklangs- und Tonleiterstrukturen, die für Ewigkeit und Vergänglichkeit stehen, versetzen den Hörer in einen tief meditativen Zustand. Das 1989 für den Berliner Staats- und Domchor entstandene Magnificat erinnert in seiner Strenge an die Kompositionsweise Josquins und lässt interessanterweise im Kontext der anderen Werke alle freudigen Textausdeutung vermissen. Vielmehr weckt das beständig sich aufschwingende und wieder zusammenfallende f-Moll Empfindungen von Resignation und Trauer.

Orpheus britannicus

Ganz ähnlicher Mittel wie Heinrich Schütz bedient sich Henry Purcell, der "Orpheus britannicus", einst Chorknabe, später Organist der Chapel royal und der Westminster Abbey, wo er neben der Orgel begraben liegt. Neben vielen Theatermusiken, darunter die berühmte Oper "Dido and Aeneas", erstmals aufgeführt in einem Mädchenpensionat schrieb Purcell auch geistliche Werke. Dem "Evening service", zu dem auch noch ein Nunc dimittis gehört, ist sein Magnificat entnommen. Es gehört zu den eher seltenen liturgischen Kompositionen des Meisters und gliedert sich in vierstimmige Tutti-Abschnitte und 3-stimmige Verse mit entweder nur hohen oder tiefen Stimmen. Die Kompositionsweise ist eher schlicht, vorwiegend homophon, der englische Text kann gut verstanden und nachvollzogen werden. Interessant ist, dass das Werk in Moll steht. Während Schütz – kirchentonartlich orientiert – in Moll beginnt und in Dur endet, hält Purcell an der Molltonart fest. Einzig der Dreiertakt verrät etwas mehr von der Freude des Textes.

Mährische Legende

Das Jahr 2009 ist nicht nur Jubiläumsjahr für Händel, Haydn, Mendelssohn oder Spohr, auch der Todestag des tschechischen Komponisten Bohuslaw Martinů jährt sich zum 50. Mal – Anlass für die Singakademie, sich diesem bedeutenden Mann eingehender zu widmen. Das heute erklingende Chorwerk ist Teil 4 der "Vier Gesänge über Maria", einer Komposition, die stark an volkstümlichen Melodien und Rhythmen orientiert ist und nach Texten mährischer Lieder entstand. Martinů war Schüler von Josef Suk, später auch von Albert Roussel, bei dem er in Paris Unterricht nahm, wo er von 1923 – 1940 lebte. Anschließend floh er vor den Nazis nach New York, arbeitete und lehrte in Amerika. Lange nach dem Krieg erst kehrte er zurück nach Europa und lebte zuletzt in der Schweiz. Die inzwischen von der UdSSR abhängige Tschechoslowakei mied er weiter. Im Jahr 2009 wird die Singakademie zwei weitere bedeutende Chorwerke Martinůs aufführen: das "Gilgamesch-Epos" und "Die Geburt des Herrn".

Rätselhafte Tonleiter

Im Jahr 1898 beschäftigte sich der berühmte Giuseppe Verdi nach Abschluss seines "Otello" mit einer "enigmatischen Tonleiter", über die er in einer Zeitschrift gelesen hatte. Am 6. März schreibt er an seinen Librettisten Arrigo Boito: "Ihr werdet sagen, es lohnt nicht der Mühe, sich mit diesen Kinkerlitzchen abzugeben, und Ihr habt sogar recht. Aber was wollt Ihr. Im Alter wird man wieder Kind, heißt es. Und diese Kinkerlitzchen erinnern mich an die Zeit, da ich achtzehn war und mein Maestro sich damit amüsierte, mir mit ähnlichen Bässen den Nerv zu töten. Überdies glaube ich, dass man aus dieser Tonleiter ein Stück mit Worten, zum Beispiel ein Ave Maria machen könnte … Auf diese Weise könnte ich hoffen, nach meinem Tode selig gesprochen zu werden." Das fertige Stück für vierstimmigen Chor a-cappella stellte Verdi später an den Anfang seiner Quattro pezzi sacri (1898). In vier Durchgängen wird die 'rätselhafte Tonleiter' (C, Des, E, Fis, Gis, Ais, C; C, H, Ais, Gis, F, E, Des, C) jeweils einer Stimme (Bass, Alt, Tenor, Sopran) in ganzen Noten übertragen, wobei Bass und Alt mit dem Ton C beginnen, während Tenor und Sopran um eine Quarte versetzt mit F starten und enden. Die restlichen Stimmen kontrapunktieren kunstvoll das besonders harmonisch aufregende und schwierige Stück, das mit einem kurzen Amen schließt und den Opernkomponisten von einer ganz anderen Seite zeigt.

Einbindung der Gemeinde

Beim Thema "Maria" schwingt unwillkürlich das Thema "Weihnachten" mit. So ist es nicht verwunderlich, dass die drei nächsten Sätze die Geburt des Herrn rahmen: theologisch sind das "Magnificat" der Maria, die Geburt Jesu und der Lobgesang des Simeon (das "Nunc dimittis") untrennbar verbunden. Der im thüringischen Mühlhausen geborene Johann Eccard war ein in seiner Zeit gefragter Musiker, wirkte in Weimar, Augsburg, lange Zeit in Königsberg und zuletzt in Berlin. Stilistisch bildet er eine Brücke zwischen seinen Lehrern Joachim a Burgk und Orlando di Lasso sowie dem ca. 30 Jahre jüngeren Heinrich Schütz. Seine in der Sammlung "Preussische Festlieder" (1642 und 1644 von Johann Stobäus veröffentlicht) festgehaltenen Kompositionen sind eher geistliche Lieder im Charakter einfacherer Motetten, jedoch oft 5- oder 6-stimmig. Typisch ist für Eccard die Einbindung der Gemeinde in das biblische Geschehen: zunächst erzählt er die Geschichte "Übers Gebirg Maria geht…", dann folgt das eigentliche "Magnificat": "Mein Seel den Herrn erhebet…". Am Ende steht eine Wiederholung und es folgt eine zweite Strophe: "Was bleiben immer wir daheim? Lasst uns auch aufs Gebirge gehen…" – wir als die Lauschenden werden direkt angesprochen! Dem folgt der Refrain, der nun aber "unser Magnificat", das der Gemeinde ist. Auf diese Weise wird der Zuhörer ins Geschehen hineingenommen und zum aktiven Gläubigen: "da eins dem andern spreche zu, des Geistes Gruß das Herz auftu…" – schöner, eindringlicher können die Worte der Gottesmutter Maria kaum klingen. Auch der Lobgesang des Simeon ist auf diese Weise zweistrophig mit Refrain gesetzt, diesmal in geradezu sechsstimmiger Pracht!

Das 'schönste Weihnachtslied'…

Die Motetten Eccards gehören zweifellos zu den bedeutendsten Schöpfungen des 16. Jahrhunderts und markieren einen ersten Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik der nachreformatorischen Zeit. Zu den Musikern, die kurze Zeit auch am Dresdner Hof wirkten, gehört der in Creuzburg bei Eisenach geborene Michael Praetorius (die Creuzburg war die Lieblingsburg der heiligen Elisabeth, wo auch ihre Kinder geboren wurden). Bekannt wurde er vor allem auch als Musikschriftsteller und Theoretiker. Sein berühmtestes Stück ist wohl der Satz über das Lied "Es ist ein Reis entsprungen". Diese aus einer Kölner Quelle von 1599 überlieferte Melodie spricht von Maria als dem edelsten Reis aus der Wurzel der Familie Davids (des Sohnes Jesse). Der Gleichklang der lateinischen Wörter "virgo" (Jungfrau) und "virga" (Reis, Rute) animierte zu dieser Deutung, in der Christus die Blüte darstellt, aus der ewiges Leben duftet. Texte aus Jesaja und Jesus Sirach haben die Dichtung beeinflusst – Praetorius' schlichter vierstimmiger Satz hat sie zu einem der wohl bekanntesten Weihnachtslieder gemacht, das in einem Programm zum Thema "Maria" deshalb nicht fehlen darf. Gleichwohl reicht die Auseinandersetzung um die Marienverehrung bis in dieses Lied, in dem es ursprünglich hieß: "Sie solt en kindlein geberen / Vnd bleiben ein reine maigt". Praetorius witterte womöglich Ungemach und benutzte den Text: "hat sie ein Kind geboren, welches uns selig macht".

Gelebte Ökumene

Dass Schütz ein halbes Jahrhundert später gleich zwei deutsche Versionen des "Magnificat" vertont, spricht womöglich von etwas mehr Gelassenheit – und davon, dass in dieser Zeit das verkündigte Wort wieder wichtiger war als der Streit um die Reinheit der Maria und ihre daran gekoppelte Verehrung. Mit dem 8-stimmigen "Deutschen Magnificat" aus dem "Schwanengesang" von 1671 beenden wir das Programm und kehren noch einmal zum Dresdner Meister Heinrich Schütz zurück, der in dieser, einer seiner letzten Kompositionen, nochmals die Mehrchörigkeit seiner venezianischen Vorbilder aufleben lässt. In seinem Begleitwort zur Neuausgabe von 1950 weist Konrad Ameln darauf hin, dass Schütz im hohen Alter von über 85 Jahren aus den biblischen Cantica nicht den Lobgesang des Simeon erwählte, sondern den Lobgesang der Maria, das Magnificat. Nach mühseligem Leben bekennt er gemeinsam mit der Gottesmutter: "Er hat große Dinge an mir getan".
Fast könnten wir meinen, an dieser Stelle beginnt ein Stück gelebte Ökumene…

2
Sep
2008

Sieg des Pragmatismus...??

Der oft für das opulent-süffige Theater mit Glamour-Faktor schreibende Manuel Brug hat in der WELT ein Statement veröffentlicht, das mir sehr zeitgeistig erscheint: verfolgt man die Tendenzen in einschlägigen Zeitschriften - crescendo, partituren, rondo etc. - dann braut sich da ein Gemisch zusammen, das am liebsten nur noch dem 'Event' das Wort redet, oder, um den Intendanten der Wiener Staatsoper zu zitieren, dem "Netrebkoismus". In diesem Sinne fand ich die Bewerbung Nike Wagners und G. Mortiers - wie aussichtslos auch immer - wichtig und mutig. Nötig hätte Mortier das nun wirklich nicht gehabt, sich diese Abfuhr einzuholen.

Ich selbst bin ja nun mitunter alles andere als unpragmatisch, aber den Pragmatismus siegen lassen - kann das in der Kunst gutgehen?
Ich habe in der WELT eine kleine Stellungnahme hinterlassen:

Die Wahl der Schwestern mag ja in Ordnung und gut sein. Warum aber die durchaus ernsthafte, wichtige und notwendige Opposition der Wieland-Tochter immer nur als verbiestert und verbittert dargestellt wird, erschließt sich nicht. Die "Opernrezepte von gestern" sind in Brüssel, Salzburg und anderswo zumindest nicht nur pragmatisch gewesen. Wie überhaupt das Lob des Pragmatismus der Kunst zuwiderläuft. Oder war Richard ein sehr pragmatischer Künstler...? Es befremdet, wenn alles, was nach intellektuell anspruchsvollem Ansatz aussieht, neuerdings von vornherein abqualifiziert wird. So werden wir in der Opernwelt den - mit Martin Kusej - "von reaktionären Menschen" beherrschten "Zucker'lberg" nicht abtragen können. Dazu braucht es Visionen, intellektuell aufregende Konzepte, viel Widerstand und - natürlich: - musikalische wie theatralische Sensationen! Wünschen wir Katharina und Eva, dass es gelingen möge, diese nach Bayreuth zu holen. Unterstellen wir aber über allen Zweifel erhabenen Opernleitern nicht, sie seien lediglich von gestern und verbiestert - das bleibt nun bei aller Pointiertheit des Schreibers wohl doch etwas zu sehr an der Oberfläche?!

Und hinzuzufügen wäre nur noch: alle wunderbaren Partituren, die heute mit so viel Glamour 'präsentiert' werden, sind irgendwann ganz intellektuell am Schreibtisch entstanden, selbst die von mir aus rotweingeschwängerten eines Herrn Mozart. Bei allem Bauch, den die Kunst braucht: der Hauptteil findet noch immer im Oberstübchen statt. Dort sieht es gottlob auch bei Katharina und Eva offenkundig nicht so schlecht aus...

1
Sep
2008

Nachtrag Bad Hersfeld

Hersfeld

Netter Artikel in der FAZ, nur die Meldung, ich sei noch Gastdirigent in München am Gärtnerplatz muß korrigiert werden: leider nein. Ich war es bis 2007 mit so wundervollen Stücken wie IDOMENEO von Mozart oder INTOLLERANZA von Nono, die neue Intendanz setzt andere Akzente und hat zu mir bisher keinen Kontakt gesucht.
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